Kobani fällt
Die als Hoffnungschimmer angepriesenen Luftschläge der merkwürdigen Allianz aus NATO-Staaten und Hardcore-Islamisten entpuppen sich als Alptraum. Im Abstand von ganzen Tagen verirrt sich gelegentlich ein Kampfflugzeug der Koalition nach Kobani, tötet dort ein halbes Dutzend Kämpfer – zu wenig, um den Kurden zu helfen, genug, um den IS-Terroristen den propagandistischen Effekt eines siegreichen Kampfes gegen die USA einzutragen.
Die Luftschläge an anderen Orten trieben IS-Kämpfer zusätzlich in Richtung Kobani, dem Dorn im Fleisch der IS. Dort wollte man das schwere Gerät noch einmal nutzen, bevor es durch Luftangriffe zerstört würde. Dauerhafter Widerstand war dort am wenigsten zu erwarten. Diese Kurden, so hat man es öffentlich von allen Seiten verkündet, würden keine Hilfe erhalten. Sie hatten „falsche Hände“, waren auf Terrorlisten gebrandmarkt und damit vogelfrei. Die Türkei unterband zuverlässig den Nachschub an kurdischen Kämpfern über die Grenze.
Während Kobani schon seit Monaten belagert war, redete die deutsche Politik von „falschen Händen“, um ihre weltpolitisch etwas hinter dem Berg gehaltene Wählerschaft zu beruhigen, dass die Waffen diesmal nicht an „Terroristen“ fallen würden. Die Berufskomödianten von Priol bis Nuhr mokierten sich indes pflichtgemäß über die „falschen Hände“, weil sie schon den Peshmerga die fünf leicht gepanzerten Minibusse nicht gönnten, mit denen diese in den Krieg gegen tausende erbeutete Humvees und hunderte Panzer geschickt werden sollten.
Genozideure, zumal islamistische, sind für ihre Medienkompetenz bekannt. Sie lesen aus solchen Phrasen wie jenen „falschen Händen“ die offizielle Genehmigung zur ethnischen Säuberung. Die deutsche Politik und die Berufskomödianten haben mit dieser Phrase zum Sturm des IS auf Kobani geblasen. Die IS hat den Aufruf gehört.
Wenn Kobani heute oder morgen oder in drei Tagen fällt, (die ersten Fotos von IS-Flaggen auf Gebäuden in Kobani sind bereits online) so haben sie nicht gegen den islamischen Staat gekämpft – die gesamte NATO hat ihren Beitrag geleistet. Waffenarsenale, Nichtinterventionsgarantien, aus Europa angereiste Verstärkungstruppen – es gibt nichts, was der Westen nicht geliefert hätte, außer Waffen an jene, die sie am dringendsten bräuchten: die FSA, die Ezidenmilizen, die YPG. Und ausgerechnet an diesen wollte man beweisen, dass man auch Waffen liefern könne, ohne „die falschen“ zu stärken.
Das war Projektion und Ersatzhandlung zugleich, narzisstisches Ausblenden des grotesken Ausmaßes, in dem sich der Westen gegenüber jenen Gruppen schuldig gemacht hat.
Das manichäische Denken von richtigen und falschen Truppen und Körpern, hier Körperteilen, ist stets schon die Voraussetzung für das Massaker und die damit einhergehende unterlassene Hilfeleistung. Es frisst sich als Gift immer weiter in Gesellschaft hinein. Teilte die deutsche Politik in gute und schlechte Kurden, so wussten auch Berliner Antifaschisten und frisch abgeklärte Politikwissenschaftler, dass die PKK eine totalitäre terroristische Organisation sei, die Peshmerga aber die demokratischen Gründerväter des neuen Irak. Welcher Konflikt die PKK als stalinistische Truppe hervorbrachte und welche internationalen Zwänge letztlich dem türkischen Staat mit seinen Todesschwadronen und Terrorgruppen den Gefallen taten, die PKK zur Terrororganisation zu erklären, das war da schon irrelevant.
Die Rede von der Terrororganisation verbot auch jedem den Mund, der es im konfomistischen Staatswesen fortan zu etwas bringen wollte – eine Strafanzeite wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung kann niemand riskieren, der sich an Universitäten oder im Beamtenwesen bewerben möchte. Nur konsequent exekutierte die Berliner Polizei die türkische Staatsräson und zeigte Menschen an, die auf einer Demonstration die Aufhebung des Verbotes der PKK gefordert hatten. Ein bestehendes Verbot zu kritisieren ist zwar von der Meinungsfreiheit gedeckt, aber man geht im Kampf gegen den Terror (der PKK) eben bis an die „Grenze des Machbaren“. So half auch die Berliner Polizei dem IS, sie schloss damit an deutsche Polizeipraxis an, die IS-Kämpfer auf Staatskosten ins Kriegsgebiet zu vermitteln, bevor sie etwa im idyllischen Bayern unbequem werden konnten.
War Kobani eine PKK-Hochburg, so mussten die YPG, kurdische Selbstverteidigungskräfte, bald auch die PKK selbst sein. Das erleichterte das Vermeiden von Differenzierung noch einmal erheblich. Wenn Terroristen des IS die Terrororganisation PKK aufreiben, dann gilt schon wieder die deutsche Logik vom Sack in dem es keinen Falschen trifft. Die hunderttausend zu Flüchtlingen herabgedemütigten Kurden, wurden wie Opfer einer Katastrophe präsentiert.
Bald ging Kobani auf die Nerven. Wer seit über sechs Monaten unter Dauerfeuer steht und wagt, penetrant um Beistand zu bitten, gelegentlich sogar Triumphe zu feiern, hat selbst Schuld oder verhält sich nach der medialen Logik wie das Kind, das zu oft „Wölfe“ ruft.
Wo man zur Intervention nicht in der Lage ist, entsteht Schuld. Die kann am leichtesten auf die Opfer der eigenen Feigheit abgewälzt werden. Auch an der Kälte mancher Äußerungen über Kobani konnte man die Möglichkeiten des IS heute abmessen.
Weil die Kurden in Kobani es wagten, mit Videoschnipseln Einblicke in die Kämpfe zu gestatten galten sie rasch als sensationslüsterne Aufschneider. Man ertrug nicht, das verhasste und verworfene Ich-Ideal der Unterworfenen, den Helden, zu sehen als Wirklichkeit. Wer selbst kein Held werden kann, schlägt sich auf die Seite der Schurken, identifiziert sich mit dem Aggressor.
Man warf der Peshmerga Opferideologie vor, weil diese zum Sterben bereit sind, und sterben war den Bourgeois von je irrationaler als unfrei zu leben oder Qualen zu erdulden. Es war Sache der Citoyen, für die Freiheit ihre Leben zu riskieren, mitunter trotzig zu opfern. Die Spaltung in Citoyen und Bourgeois gelang gründlich – heute wird jeder als wahnhafter Fanatiker geschmäht, der für die Freiheit anderer sterben würde. Und so werfen ausgerechnet die linken Bourgeois den Kurden vor, sie seien gar keine Citoyen, sondern miese Autokraten, die totalitäre Praktiken betreiben würden.
Also griff man in den Sack, und drosch zusammen mit der IS auf deren Opfer ein, schmähte die Aufnahmen von vornherein als Propaganda, um zu verdrängen, dass bis vor kurzem kein einziger Journalist nach Kobani gefahren war, um objektiv Bericht zu erstatten. (Für kurze Zeit gab es ein oder zwei, die exakt das berichteten, was man vorher aus kurdischen Tweets und Shares, http://www.ekurd.net/ und von der YPG freigegebenen Videoaufnahmen auch schon herauslesen konnte)
Der Human Right Watch-Bericht zu Rojava
Man weiß nicht, ob die kurdischen Frauen und Männer, die in den letzten Monaten gegen IS gefallen sind, Oppositionelle mundtot gemacht haben oder sogar in einem Gefängnis gefoltert haben oder ob sie prächtige Demokratinnen gewesen sind, mit denen man gern auch befreundet gewesen wäre. Einfacher ist es gewiss, die emotionale Distanz zu halten. Das gelingt am leichtesten mit Texten, die man nicht gelesen hat.
Der vielzitierte und wenig gelesene Human Rights Watch-Bericht zur Lage in Rojava – syrisch-Kurdistan – jedenfalls musste sich mit permanenten Wiederholungen und Banalitäten, Lageerklärungen und Dutzenden Seiten Anhang aus irrelevanten Gesetzestexten zur „Untersuchung“ von über 100 Seiten aufblähen. Im Kern sind die Vorwürfe, dass in den vergangenen drei Jahren neun Oppositionelle unter ungeklärten Umständen verschwunden sind, dass eine Handvoll Jugendliche schon mit 14 oder 17 als Laufburschen in YPG-Kasernen und an Straßensperren dienten, dass in einigen Gefängnissen, in denen HRW generell passable Haftbedingungen in Sachen Unterkunft und Essen notiert, wohl auch gefoltert wurde.
Der größte Skandal war der gewaltsame Tod von drei oder vier Menschen, die während einer Demonstration erschossen wurden von YPG-Truppen. Die Einheiten kehrten gerade von einem Fronteinsatz gegen IS zurück, hatten einen Gefallenen dabei. Bei der Durchfahrt wurden sie von Anhängern der Oppositionspartei mit Steinwürfen empfangen. Aufrufe, die Demonstration aufzulösen, wurden von einem harten Kern nicht erhört – dieser hatte offenbar wenig Sorge vor schlimmeren Repressionen durch die YPG.
Ob nun ein Warnschuss von anderen YPG-Kämpfern fehlinterpretiert wurde, ob alle durch die Situation überfordert waren und im Kampfmodus Steine als Granaten vermuten mussten, ob die YPG-Kämpfer die Gelegenheit nutzten, um die Opposition einzuschüchtern, oder ob tatsächlich Schüsse aus der Menge erfolgten, bleibt auch im HRW-Bericht ungeklärt. Am darauffolgenden Tag sperrten andere YPG-Truppen mehrere Dutzend Protestierende Oppositionsanhänger über Nacht ein, offenbar ohne Wasser und Brot. Davon hat sich die YPG-Leitung vehement distanziert. Noch aber hat sich kein europäischer Staat von Frontex und der demozidalen Asylpolitik distanziert, die zehntausende das Leben kostete und die seriell in Folter und elenden Zuständen in europäischen Flüchtlingsgefängnissen resultiert.
Kurzum, man wollte der PYD und der YPG heimzahlen, dass syrisch-Kurdistan im Vergleich mit Europa oder der Türkei recht gut abschneidet, und so wurde auch in der sogenannten emanzipatorischen oder antideutschen Linken in gute und unbequeme Kurden getrennt. Wer für Kobani ist, ist naiv, unterstützt die PKK – so geht es dann tagein tagaus auf Facebook hin und her. Wer sich gar der Emotion verdächtig macht, dem mangelt an Routine und Überblick aufs Gesamte.
Es wäre ja kein Stalingrad und schon gar kein genozidales Massaker, so beruhigt sich mancher. In Kobani seien nur noch Kämpfer und kein Massaker könne daher stattfinden. Dass viele YPG-Kämpfer vor wenigen Wochen noch Bäcker oder Handyverkäufer waren, dass zuletzt noch 14-jährige sich der YPG in Kobani und Rentner der Peshmerga angeschlossen hatten, dass mit der Flucht von Hunderttausenden die ethnische Säuberung schon vollzogen ist, dass Flüchtlinge stets hohe Sterberaten erleiden, das hat die strikt kategorisierende Logik schon zensiert.
Richtige Hände
Die Finanziers der schwarzen Aaskrähen, Qatar und Saudi-Arabien erhalten derweil unbesorgte Panzer aus Deutschland. Saudi-Arabien richtet mit dem Schwert hin, seit 1995 wurden 2015 Menschen getötet, wegen Drogenhandel, Ehebruch, Hexerei, Rebellion. Qatar lässt Menschen wegen Alkoholkonsums oder sexuellen Ausschweifungen die Haut und die Rückenmuskulatur mit 50-100 Peitschenhieben zerfetzen. Iran, der neue Bündnisparter des Westens gegen IS, lässt Homosexuelle und Oppositionelle zu hunderten hinrichten und erhält zur Belohnung ein Atomkraftwerk ohne Entsorgungskosten.
Der YPG will man keine Waffen geben, ihren Mördern, dem IS, hatte man bedenkenlos jegliches hochmoderne militärisches Material frei Haus vor die Türe gestellt.
Wäre noch etwas ins rechte Verhältnis zu rücken, so stünde die unverzügliche Lieferung von mehreren hundert Panzern und mehreren tausend Humvees an die Kurden aus, um zumindest nach der Versklavung und Ermordung tausender von Kurden einen Fehler einzugestehen. Hätte der Westen ernsthaft Sorgen um die missbräuchliche Verwendung seiner Waffen, so würde er die Konsequenz ziehen und sofort Bodentruppen einsetzen.
Heute nacht jedoch ließ sich der Westen in Kobani von Jugendlichen und Rentnern verteidigen, gegen seine eigenen Waffen und kein französisches, kein amerikanisches, kein deutsches, kein britisches Schiff kommt am Horizont am letzten Morgen zur Hilfe. Es gibt kaum Worte, die einen solchen archaischen Verrat, Verrat ohne jede Belohnung und gegen das eigene Interesse, beschreiben könnten. Die kurdische und arabische Lyrik wird sich der Aktualisierung von Franz Werfels Musa Dagh eines Tages im Exil annehmen.
Während von Kobani zumindest gesprochen wird, darf Assad in der allerfinstersten Nacht der medialen Zensur agieren. Die Luftschläge gegen die mit IS verfeindete Al-Nusra-Front lieferten Aleppo seinen Gangs und Folterknechten aus, die Garantie zum Machterhalt hatte er sich schon mit seinen Giftgasangriffen erkauft. Der Westen wird den entstandenen Trümmerhaufen nicht einmal gegen Bezahlung zurückerobern. Diese wastelands wird Assad regieren. Auch ihm sicherte man schlecht kodiert Unterstützung aus dem Westen zu: Der FSA wurden 500 Millionen Euro zugesagt von Seiten der USA. 500 symbolische Millionen, die in den nächsten zehn Jahren vermutlich nicht eintreffen, weil man sich über genauere Verwendung erst mit anderen Staaten beratschlagen müsse:
„We also intend to ramp up U.S. support to the moderate Syrian opposition. We are therefore requesting $500 million for a proposed authority to train and equip vetted elements of the Syrian armed opposition to help defend the Syrian people, stabilize areas under opposition control, facilitate the provision of essential services, counter terrorist threats, and promote conditions for a negotiated settlement.“
Assad wird diese Botschaft erhalten haben: „stabilize areas“ heißt es da, nicht „topple the regime“ oder „conquer areas held by Hezbollah and iranian death-squadrons“. Sollte Assad nach dem Gelächter wirklich ein wenig Sorge verbleiben, wird er die nächsten Wochen noch die letzten Geländegewinne mit doppelter Barbarei durchsetzen, um das künftige, vielleicht doch noch gehaltene Rebellenreservat nach Kräften zu verkleinern. Auch der FSA bringen die homöopathischen Placebo-Luftangriffe keine Erleichterung, die ihren Erzfeind nur noch zu Eile und Gründlichkeit anspornen.
Sindschar fiel
Hatten die Special Forces des Westens noch die von der YPG geretteten Eziden aus dem Sindschar-Gebirge in Empfang genommen, so herrscht heute immer noch die Sklaverei des IS über der Stadt, die längst keine Meldung mehr wert ist, während die Flüchtlingslager überquellen. Europa wird ihnen eines Tages die Infrarotkameras der Frontex entgegenstellen und an Grenzzäunen und von Push-Back-Schiffen beim Sterben zusehen, während man in der Linken dann darüber räsoniert, ob die kurdischen Eziden eigentlich nun die PKK unterstützen oder die Peshmerga und ob denn nun eines von beiden endlich politisch korrekt sei.
„Was einer fürchtet, wird ihm angetan.“