Die Mobilisierung gegen die Schuldenbremse wird von Linken und GrĂŒnen angefĂŒhrt. Man brauche „Investitionen“ in die Zukunft, und daher mĂŒsse man mehr Schulden aufnehmen dĂŒrfen. Sicher ist die Folge von 16 Jahren Misswirtschaft unter der CDU, dem Krieg Russlands gegen die Ukraine und die immer noch nicht bewĂ€ltigte Corona-Pandemie eine besondere Situation. Dennoch ĂŒbertönt das Wettern auf die Schuldenbremse zwei Aspekte:
1. Die Streichpotentiale bei den fragwĂŒrdigen Teilen des Budgets, insbesondere die Subventionen fĂŒr klimaschĂ€dliche Prozesse, Diesel, Energiepflanzen/E10, Dienstwagenprivileg, Autobahnen und vieles mehr.
2. Die ungenutzten Einnahmequellen des Budgets, und da primÀr die Weigerung, Reiche uns Superreiche angemessen zu besteuern.
Wer „Schuldenbremse“ sagt, schweigt von der „Vermögenssteuer“.
1% besitzen mehr als ein Drittel aller Vermögen und innerhalb dieses einen Prozents findet eine weitere exponentielle Stratifizierung statt, das oberste Tausendstel besitzt ca. 14-17%. In solchen ZustĂ€nden muss man keine Schulden aufnehmen, sondern Steuern fĂŒr obszönen Reichtum und einen Maximallohn einfĂŒhren. Dass sich die obersten 10% tatsĂ€chlich einreden, mehr zu leisten als der Rest, mehr Verantwortung zu tragen oder der Gesellschaft exakt so viel zu geben wie sie aus dieser herauspressen allein durch G-GÂŽist eigentlich eine besonders ausgesuchte Beleidigung, der sich nur durch eine Begrenzung von Einkommen und Besitz entgegentreten lĂ€sst. Was im Kartellrecht fĂŒr Unternehmen gilt, muss auch fĂŒr Individuen gelten. Niemand darf so viel Macht durch Reichtum erhalten.
Kritische Theorie
Rough Music – Lina E. und der Vigilantismus gegen Nazis

Screenshot aus: Welt Nachrichtensender, 2.6.2023: https://www.youtube.com/watch?v=qitQUaecRd4.
Nach 30 Monate U-Haft erhielt Lina E. nun fĂŒnf Jahre Haft fĂŒr die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Der Haftbefehl wurde jedoch wegen guter FĂŒhrung und langer U-Haft ausgesetzt, was auf Freigang auf BewĂ€hrung und unter Auflagen hinauslĂ€uft.
In Leipzig wurden nun auch in zweiter Instanz linke Demonstrationen gegen das Urteil verboten.
Und die Innenministerin Nancy Faeser tritt vor die Kamera und behauptet: „Wir gehen tatsĂ€chlich genauso entschieden gegen Linksextremismus wie gegen Rechtsextremismus vor.“
Die Gleichsetzung von Gewalt und Gegengewalt, die Vermischung und Verkehrung von TĂ€tern und Opfern – das ist der Punkt, an dem das liberale BĂŒrgertum dem Faschismus zuarbeitet.
Auch wenn die Einzelheiten des Urteils noch nicht bekannt sind, fĂ€llt an den dummdreisten Reaktionen darauf auf, dass sie einem Schritt in den Vigilantismus die LegitimitĂ€t regelrecht aufzwingen. Gerade weil die Innenministerin nicht moralisch Recht und Unrecht unterscheiden kann, gerade weil die Behauptung der Gewaltfreiheit nicht im Sinne des Grundgesetzes und der durch Gewalt geborenen Demokratie ist, gerade weil das Gewaltmonopol durchaus Grundlage eines zivilisierten Miteinanders ist und gerade weil dieses Gewaltmonopol gegen Nazis nicht nur versagt, sondern von Nazis in Judikative und Exekutive durchseucht ist, ist eigentlich ein sozialwissenschaftliches RĂ€tsel, dass so viele Antifaschist*innen nicht zum Vigilantismus schreiten. Das liegt meist daran, dass zum Einen die Angst vor einer Gegengewalt („AufrĂŒstungsspirale“) und einem Verlieren in den faschistisch dominierten Zonen groĂ ist und zum Zweiten, dass in der Linken strukturell das Gewalttabu viel stĂ€rker internalisiert wurde und jeder Bruch erheblicher Rechtfertigung bedarf.
Terry Pratchett hat eine schöne Metapher fĂŒr den Vigilantismus geschaffen: Rough Music. Im vierten Band („I shall wear midnight“) der Reihe um Tiffany Aching („The wee free men“), einem der besten Werke englischsprachiger Literatur ĂŒberhaupt, bringt er den Lynchmob in seiner ganzen Ambivalenz zum Klingen. Auch wenn er seine Hauptdarstellerin Tiffany Aching subversiv gegen den Lynchmob arbeiten lĂ€sst, und auch wenn er die rauen Musiker in ihrer hexenjĂ€gerischen Infamie zeichnet, blickt er dennoch wohlwollend auf das Prinzip, dass Leute kollektiv „genug haben“ und mit Waffen, die eigentlich keine Waffen sind, extremen Störungen des zivilisierten Miteinanders entgegentreten: gegen hĂ€usliche Gewalt, gegen UnterdrĂŒckung und Ungerechtigkeit. Rough Music ist die Revolte, die konformistisch, regressiv und reaktionĂ€r sein kann, aber in ihrem Prinzip eine Kulturleistung zur Emanzipation darstellt.
Ein Ă€hnlich ambivalentes Bild des Vigilantismus entwirft Ray Abrahams in „Vigilant Citizens“. Zwar bedrohen vigilantistische Bewegungen das Gewaltmonopol und erzeugen humanitĂ€re Krisen durch Folter und Hexenjagden, sehr hĂ€ufig entstehen sie aber in Situationen eines schwachen Gewaltmonopols. Sie erodieren weniger, als dass sie Zeichen der Erosion sind: Wie die Steine, die unter dem dĂŒnnen zivilisatorischen Humus herausgewaschen werden. Zum Vorschein kommen der KuKluxKlan, rechte Todesschwadronen, JugendbĂŒnde in Tansania, Gewerkschaften, BĂŒrgerwehren gegen Kriminelle und Vergewaltiger – oder weitergedacht eben Sportantifas, die ihren Kietz verteidigen. Der Vigilantismus ist zwar anfĂ€llig fĂŒr rechtsextreme Motive – Folter, öffentliche Erniedrigung, Todesstrafe. Er geht aber nicht darin auf.
Die Erosion oder wenigstens einen erkennbaren RĂŒckstand des Gewaltmonopols im Kampf gegen den Faschismus einzugestehen wĂ€re der erste Schritt ehrlicher Politik. Auch wenn man das Ausagieren von Sadismus in konkreter Gewalt des abschreckenden Zusammenschlagens von Nazis verabscheut, auch wenn der Linksextremismus von schrecklichen Ideologien befallen ist, so gehört doch zum Beweis der politischen DiskursfĂ€higkeit dazu, in Actio und Reactio unterscheiden zu können. Wer heute Nazi wird, ist eine wandelnde Morddrohung, eine Traumamaschine fĂŒr Opfer des Nationalsozialismus und Nachkommen von Opfern. Bereits der Anblick von offenen Sympathisant*innen des Rechtsterrorismus bedeutet Gewalt fĂŒr die Opfer. Der Staat hat den Rechtsterrorismus aber nicht nur nicht bekĂ€mpft, sondern aufgebaut. Teilweise durch den Verfassungsschutz, teilweise durch Gerichtsurteile, teilweise durch Unterlassung und teilweise in völlig selbstverstĂ€ndlich empfundener Integration rechter Ideologien in den Staatsapparat. All das ist hinreichend und ĂŒber Jahrzehnte hinweg wissenschaftlich und empirisch belegt: mit den Skandalen um den Verfassungsschutz, mit der NSU-AffĂ€re, mit Nazi-Chatgruppen in Polizei und Bundeswehr, mit der Existenz von rechtsextremen Richtern, mit der schrittweise Umsetzung von rechtsradikalen Forderungen in Realpolitik durch CDU/CSU.
Wo mehrheitliche WĂ€hlerschaften Parteien wĂ€hlen, die ihnen de facto den Genozid an den AuĂengrenzen der EU versprechen, was die Konsequenz der Politik von CDU/CSU, Freien WĂ€hlern, AFD und Teilen der FDP ist, da ist dem Faschismus inhaltlich keine Schranke gesetzt. Wer sagt, es solle Obergrenzen geben, sagt implizit, dass man alle ĂberzĂ€hligen zu Tode bringen wird – durch Drittstaaten, Söldner und natĂŒrliche Beschaffenheiten wie WĂŒsten, Meere, FlĂŒsse, Berge, Winter. Dass diese Erosion von Zivilisation Erfolg hatte, ist Resultat des Terrors von Nazis in den 1980ern und 1990ern und einer groĂen Welle von BrandanschlĂ€gen und Attentaten im Jahr 2015.
Die stetigen Wahlergebnisse fĂŒr die AFD und die Militanz des Rechtsextremismus vor allem in Bayern und Ostdeutschland zeigen, dass das Gewaltmonopol nicht wirkt oder nicht Willens ist. Das ist eine einfache Beobachtung. Wer das Defizit nicht erkennt und benennt, macht sich der MittĂ€terschaft schuldig.
Nancy Faeser setzt Linksextremismus und Rechtsextremismus gleich und behauptet in vollendeter Verkehrung der realen VerhĂ€ltnisse, beide wĂŒrden gleichermaĂen bekĂ€mpft. So jemand sollte nicht Innenminister in einem Land sein, das den Nationalsozialismus hervorbrachte. Wer nach dem Nationalsozialismus Rechtsextremismus und Linksextremismus gleichsetzt, ist eine Gefahr fĂŒr die Demokratie, weil er oder sie leugnet, dass die Demokratie in einem Akt der Gewalt gegen den Faschismus und in den Antifaschistischen AktionsausschĂŒssen geboren wurde, die in der Ăbergangszeit die Entnazifizierung organisierten. Wenn SPD-Politiker*innen vergessen, dass 1949 SPD-Politiker den Nazi Wolfgang Hedler aus dem Bundestag prĂŒgelten, denselben Wolfgang Hedler, den in die Bundesrepublik ĂŒbergetretene Nazirichter vom Vorwurf der „Beleidigung des Andenkens Verstorbener“ freisprachen, wenn sie den Antifaschisten Willy Brand und den Nazi Kurt Georg Kiesinger nicht auseinanderhalten können, wenn sie ihre eigenen antifaschistischen KampfbĂŒnde vergessen, die Gewalt gegen Faschisten aus blankem Ăberlebenswillen konspirativ planen und organisieren mussten, wenn sie das Prinzip der richtigen Gewalt gegen Nazis verleugnen, wenn sie nicht wahrhaben wollen, dass die einen nicht genug bekommen können von Gewalt, wĂ€hrend die anderen einfach genug davon haben und deshalb zur Gegengewalt schreiten, produzieren sie einen Treibsand aus Kitsch und LĂŒgen, in dem zuallererst die politische MĂŒndigkeit ertrinkt.
Der identifikatorische Sog des Stalinismus
Als die Hongkong-Proteste 2020 gipfelten, lieĂ sich in Köln ein seltsames Schauspiel antreffen: Eine Gruppe von chinesischen „Aktivist*innen“ hatte ein Zelt aufgebaut und gab Brötchen und Tee aus, wĂ€hrend an Reisende FlugblĂ€tter und CD’s zu den Protesten in Hongkong verteilt wurden. Was von auĂen aussah wie eine SolidaritĂ€tsaktion entpuppte sich bei LektĂŒre des Materials als eine Denunziation der Proteste als Terrorismus und wurde mit groĂer Wahrscheinlichkeit von der chinesischen Botschaft finanziert. Als wĂ€re das nicht genug, ertönten Schallmeien und ein Zug von etwa 100 Menschen allen Alters betrat den Bahnhofsplatz vor dem Dom, Plakate der sozialistischen „Helden“ von Lenin ĂŒber Stalin bis Mao hochhaltend. In der Bahnhofsbuchhandlung wurde unterdessen die von Jörg Kronauer auf die prorussische Position getrimmte Zeitschrift „konkret“ neben dem ebenso russlandtreuen Magazin Compact verkauft.
Differenzen faschistischer und linker Propaganda
Ăber ein Jahrhundert hinweg konnten sowjetische und maoistische Propaganda Narrative erproben und testen. Die flexible Anwendbarkeit dieser Narrative macht viel des Wiederholungscharakters innerlinker Debatten und Konflikte aus. Linke Ideologie ist ein Problem nicht weil sie links ist und ihr Versprechen umzusetzen droht, sondern weil sie Propaganda aufsitzt und so ihr eigenes, selbsterklĂ€rtes Versprechen sabotiert. Wo der Faschismus den Sog zur kollektiven Identifikation mit dem Aggressor anfacht, verlegte sich die rote Propaganda darauf, die Identifikation konformistischer Rebellen mit Opfern zu manipulieren und kanalisieren. Das Ideal des Faschismus ist der „unschuldige Verfolger“, der den „imaginary foe“ bekĂ€mpft und den „Notstand“ anerkennt, unter dem die Sklaverei und Massenmord eingefĂŒhrt werden „dĂŒrfen“ und „mĂŒssen“. DafĂŒr inszeniert der Faschismus kĂŒnstliche Krisen wie „Umvolkung“, „Reinheit des Blutes“, „Verlust der MĂ€nnlichkeit“. Die „kommunistische“ Propaganda wĂ€hlt hingegen meist einen realen Gegner und richtet sich an reale Opfer. Sie wurde und wird seriell Betrug an den Opfern, weil sie ein echtes und berechtigtes Interesse an einem Aufstand fĂŒr ihre zynische Machtpolitik instrumentalisiert und langfristig die Idee eines Aufstandes verdirbt, korrumpiert und sabotiert.
Zerstört die faschistische Propaganda effektiv die empathische SolidaritĂ€t, die sie in aggressive, mitleidslose Volksgemeinschaft verwandelt, so zerstört die „kommunistische“ Propaganda effektiv die Idee des Kommunismus als Sache von Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit. Sie ist im Wesentlichen keine Propaganda fĂŒr die „dummen Kerls“, kein Agitprop mit Schalmeien zur Hebung der allgemeinen Stimmung, wie ihn die Sowjetunion und spĂ€ter Russland auch produzierte, sondern Pseudowissenschaft fĂŒr gebildetere Menschen. Dabei arbeitet sie auf das punktuelle Unterlaufen von Vernunft hin. Es wird nicht, wie im Antisemitismus, ein vollstĂ€ndig wirres Wahnbild prĂ€sentiert, sondern ein bestimmtes Element in einem Set von raffiniert drapierten Fakten versteckt.
Das psychologische Angebot von Propaganda an die deutsche Linke ist Entlastung von Schuld. FĂŒr die Sowjetunion und heute Putin nĂŒtzlich war der Pazifismus, der sich von KriegsgelĂŒsten freisprach, und diese auf das VerteidigungsbĂŒndis NATO projizierte und so von Sowjetrussland ablenkte.
Die Sehnsucht nach starken Kollektiven, Waffen, Sieg und Ruhm ist aber unter Linken und da vor allem bei den MĂ€nnern tendenziell ebenso ansprechbar. Das weiĂ Putins Propagandapparat und daher war fĂŒr Putin nichts einfacher, als die Kolonisierung der Ukraine als antifaschistischen Krieg in der Tradition des „GroĂen VaterlĂ€ndischen Krieges“ zu prĂ€sentieren, bei dem man die richtige Seite zu wĂ€hlen habe. Die realen faschistischen Tendenzen in der Ukraine wurden ins Riesenhafte gesteigert, kollektiviert, die eigenen faschistischen Tendenzen dahinter versteckt und die Aggression als PrĂ€ventivkrieg verkleidet.
Weil aber nur die „dummen Kerls“ der AFD sich mit Putin als starkem Mann identifizieren, ist es fĂŒr linke Narrative obligatorisch, Putin zwar zu kritisieren, die Kriegsschuld jedoch rigoros auf die NATO zu projizieren. Dieser linke Revisionismus erfuhr einen berechenbaren Höhepunkt mit den Feiern zum 8. Mai, dem sogenannten „Tag der Befreiung“. Warum ich das rituelle (Ab-)Feiern dieses Tages ablehne, habe ich auf diesem Blog in den BeitrĂ€gen „Antideutsche Regressionen“ und „Der Krieg schlummert nur“ begrĂŒndet. Putins AnkĂŒndigung, ihn wie 1945 zu feiern und gleichzeitig mit einem Weltkrieg zu drohen, unterstreicht erneut die Bedeutung dieses Feiertags fĂŒr den russischen Nationalismus.
Die Autorin der Novaya Gazeta, Julia Latynina, schrieb dazu den Artikel „Vom Kult des Sieges zum Kult des Krieges„, der in der deutschen tageszeitung beigelegt war. Die Autorin ist, wie ein anderer Artikel der tageszeitung kritisiert, rechtsliberale Klimaleugnerin, Antifeministin und sympathisiert kurioserweise mit Kadyrow. Im Artikel benennt sie zunĂ€chst korrekt die offensichtliche Mimese Putins an Stalin. Dann jedoch schreibt sie:
„Amerikanische Politiker, Zeitungen und Filme gaben sich alle MĂŒhe, ihre VerbĂŒndeten in einem möglichst gĂŒnstigen Licht erscheinen zu lassen und Hitler als einzigen Schuldigen am Krieg zu entlarven. Dabei wurde sogar vergessen, dass Stalin in den beiden ersten Jahren des Krieges ein VerbĂŒndeter Hitlers gewesen und dieser Krieg eine Woche nach der Unterzeichnung des Molotow-Ribbentrop-Paktes ausgebrochen war.
Die tatsĂ€chliche Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist, dass Stalin diesen Krieg geplant hatte, der die ganze Welt erfassen und erst enden sollte, wenn auch noch die letzte argentinische Sowjetrepublik ein Teil der UdSSR geworden sein wĂŒrde. Er hatte diesen Krieg geplant â lange bevor Hitler an die Macht kam.“
Damit folgt sie offenbarg einer These Viktor Suvorovs, der mit seinem Buch „Icebreaker“ die „Offensivplankontroverse“ auslöste. Seiner These zufolge bereitete Stalin von langer Hand einen Angriff auf Deutschland vor. Auch wenn diese These vor allem in Russland und Osteuropa durchaus diskutiert und mehrheitlich dann verworfen wurde, bot sie einen NĂ€hrboden fĂŒr rechten Revisionismus und seine Schuldentlastungsstrategie, die sich in der VerbrĂ€mung des Unternehmen Barbarossa als „PrĂ€ventivschlag“ artikuliert. Latynina bedient diesen Revisionismus mit der Rhetorik vom zweiten „Schuldigen“. Kurioserweise folgt sie jedoch implizit auch den bei weiten nicht nur unter Linken verbreiteten Mythen ĂŒber den Stalinismus als funktionierender Modernisierungsdiktatur, die das Sowjetreich „fit“ gegen Hitler gemacht hĂ€tte.
Der leninistische Mythos
Dass Rechtsradikale und Konservative im Revisionismus und der Ăberzeichnung der sowjetischen Terrorherrschaft und Bedrohung Schuldentlastung suchen, schafft nicht das Problem des Stalinismus aus der Welt. Die Sowjetunion war unter den Bolschewiki zu exakt dem GefĂ€ngnis geworden, das Rosa Luxemburg 1904 in der Zentralismusdebatte vorhersagte. Die konterrevolutionĂ€ren Bewegungen wurden mit rotem Terrorismus und den im Spartakusbund heftig kritisierten „GeiĂelerschieĂungen“ bekĂ€mpft. Von der GrĂŒndungsphase der Sowjetunion an wurde die blutige Tradition des Zarismus mit seinen GefĂ€ngnislagern nicht ausgelöscht, sondern weiter kultiviert und fortgefĂŒhrt. Es gab keinen Bruch mit politischer Gewalt, der Zarismus ging in die „jakobinisch-blanqistische“ Tradition ĂŒber, die Luxemburg Lenin vorwarf. Die Bereitschaft, das Leben von Millionen zu dirigieren, organisieren und letztlich dann auch Millionen zugrunde zu richten, war fester Bestandteil des Leninismus.
Hier bietet ein linkes Narrativ Entlastung: Erst unter dem permanenten Druck der Konterrevolution, der „WeiĂen“, seien „die Roten“ zwangsweise autoritĂ€r geworden, der rote Terror bedauerlich, aber unvermeidlich und nach Todesopfern weniger mörderisch als der weiĂe Terror gewesen. Ebenso werden die wirtschaftlichen Folgen bagatellisiert und „in den historischen Kontext“ gestellt. Lenin wird vom Verrat am kommunistischen GlĂŒcks- und Freiheitsversprechen freigesprochen, um dem identitĂ€ren Sog eines mĂ€chtigen, historisch realisierten kommunistischen Kollektivs nachzugeben. Es gab sie eben doch, die glorreiche kommunistische Revolution.
Putin reaktiviert diesen leninistischen Geschichtsrevisionismus der Linken: unter dem Druck der NATO mit ihren verbĂŒndeten „Kosaken“ und „Nazis“ mĂŒsse Russland harte Hand walten lassen. Er kann sich darauf verlassen, dass von zumindest signifikanten Teilen der Linken der Ukrainekrieg als Wiederholung des BĂŒrgerkriegs in der Sowjetunion gelesen wird. Die NATO, ein desorganisiertes VerteidigungsbĂŒndnis ohne die rechtliche Möglichkeit, Land zu annektieren, und ohne die militĂ€rische Kompetenz, ein Land wie Afghanistan zu halten, erscheint als Wiederkehr westlicher Staaten, als UnterstĂŒtzer der „WeiĂen“, als konterrevolutionĂ€rer Marodeur am neuen Russland.
Der stalinistische Mythos
Der stalinistische Geschichtsrevisionismus ist indes komplexer, weil Stalin unverblĂŒmter noch als Lenin den Staatsterrorismus kultivierte. Die Kollektivierung bedeutete lĂ€ngst nicht mehr Befreiung von Leibeigenen und Umverteilung von Land, sondern den Schritt in die offene Sklaverei des Gulag-Systems. Die Gewalt der „GroĂen SĂ€uberung“ mit bis zu 1000 Morden tĂ€glich und die Moskauer Schauprozesse von 1936-1938 machten allen aufrechten Marxist*innen klar, dass sie in Sowjetrussland unter Stalin nur der Tod erwartete. Konsequent flohen alle Vertreter der Kritischen Theorie in die USA, sofern sie es schafften.
Der linke Revisionismus setzt hier darauf, die Gewalt nicht, wie es anstĂŒnde, in ein VerhĂ€ltnis zu setzen, sondern unter Verweis auf den Holocaust und das WĂŒten der Wehrmacht insbesondere in Russland vollstĂ€ndig verschwinden zu lassen. Die Entwicklungen unter Stalin in den Blick zu nehmen, wird selbst als „revisionistisch“, als antikommunistisch denunziert – als wĂ€re es historisch nicht zuallererst Angelegenheit der Linken gewesen, Stalin zu kritisieren. Es wird suggeriert, es gebe nur die Wahl zwischen der roten Armee und der Wehrmacht, eine Wahl, die nach dem Krieg besonders leicht fĂ€llt, weil sie nur aus Identifikation besteht.
In einem zweiten Schritt wird die Gewalt dort, wo sie sich nicht leugnen lĂ€sst, zur Entwicklungsdiktatur erklĂ€rt: Stalin habe ein Entwicklungsland zu einem Industrieland gemacht. Die wirtschaftliche Entwicklung gibt jedoch kein klares Bild her. Das Wirtschaftswachstum bleibt jedenfalls weit hinter vergleichbaren Staaten wie Japan zurĂŒck und ein Vorsprung des Stalinismus gegenĂŒber einer FortfĂŒhrung der NEP oder zaristischer Wirtschaftsweise lĂ€sst sich in Modellrechnungen nicht erkennen.
Sah Marx in der ursprĂŒnglichen Akkumulation die Gewalt des Feudalismus als SchlĂŒsselmoment fĂŒr die Schaffung eines mittellosen Industrieproletariats aus frĂŒheren Bauern, so wiederholte Stalin die feudale Gewalt, um Industriearbeiter vom Land in die StĂ€dte zu zwingen. Dabei war Zahllose BauernaufstĂ€nde waren die Folge. Die Verachtung fĂŒr das Leben der BĂ€uer*innen war gerade in den Arbeiter- und Bauernstaaten, spĂ€ter im Maoismus besonders ausgeprĂ€gt. 1921 sagte Lenin auf dem X. Parteitag der KPdSU:
„Der Bauer muss ein wenig Hunger leiden, um dadurch die Fabriken und die StĂ€dte vor dem Verhungern zu bewahren. Im gesamtstaatlichen MaĂstab ist das eine durchaus verstĂ€ndliche Sache; dass sie aber der zersplittert lebende verarmte Landwirt begreift â darauf rechnen wir nicht. Und wir wissen, dass man hier ohne Zwang nicht auskommen wird â ohne Zwang, auf den die verelendete Bauernschaft sehr heftig reagiert.“
2-5 Millionen Menschen starben 1921-24 in der Sowjetunion an Hunger. Dass die Ursachen mindestens zu einem groĂen Teil politische waren, gestand Lenin immerhin in der Ănderung der Wirtschaftspolitik ein. Auch wenn die Industrialisierung und Elektrifizierung in der Sowjetunion wie auch global voranschritt, lĂ€sst sich in der konkreten Politik kein Merkmal einer Entwicklungsdiktatur finden – im Gegensatz dazu aber zahllose extrem kontraproduktive MaĂnahmen. Kasachstan verlor in den groĂen Hungersnöten unter Stalin 1930-1934 ein Drittel seiner Bevölkerung, die Ukraine im Holodomor zwischen drei bis sieben Millionen Menschen. Hungersnöte zeichnen auch die Ăberlebenden teilweise lebenslang. Die den Hungernden fĂŒr den Export geraubten Getreidemengen konnten nicht einmal den Anspruch erheben, zur Industrialisierung nennenswert beizutragen. Sie waren Ausdruck der Verrohung des stalinistischen Regimes und die Rationalisierung der Hungersnöte zu „notwendigen Kriegsvorbereitungen“ oder die Verharmlosung zu „multifaktoriellen Katastrophen“ heute trĂ€gt die gleichen ZĂŒge der Verrohung.
Es ist ex post nicht belegbar, dass die Sowjetunion ohne Stalin besser fĂŒr den Krieg gegen Deutschland gerĂŒstet gewesen wĂ€re. Die Ermordung der gesamten militĂ€rischen Elite im Zuge des „GroĂen Terrors“ gilt jedoch gemeinhin als entscheidender Faktor fĂŒr die militĂ€rische SchwĂ€che der Sowjetunion, die gewaltigen Verluste und die rasche Eroberung Westrusslands durch die Wehrmacht. Der militĂ€rtechnologische RĂŒckstand in den Bereichen der selbstladenden Gewehre und Maschinenpistolen wurde erst im Winterkrieg gegen Finnland und wĂ€hrend der Konfrontationen mit der Wehrmacht erkannt und fĂŒhrte zur Entwicklung des erst Jahre nach dem Krieg fertig gestellten, glorifizierten AK-47.
Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und militĂ€risch als irrational zu bewerten war auch die vom NKVD gemeinsam mit der Gestapo betriebene Zerschlagung des polnischen Widerstandes sowie die UnterdrĂŒckung von ethnischen Minderheiten durch eine demozidale (durch Morde auf Dezimierung bedachte oder diese durch Hunger und Elend in Kauf nehmende) Umsiedelungspolitik.
Stalins Angriffe trafen auch die Wissenschaften als ReprĂ€sentanten objektiver Kritik: Astronomie, Statistik, Geschichtswissenschaften wurden dezimiert, zensiert, eingeschĂŒchtert. Kunst, Theater und Journalismus, durchaus fĂŒr den Krieg relevante Institutionen, wurden durch den wahllosen Terror praktisch stillgelegt. Mit dem von Stalin begĂŒnstigten Trofim Denissowitsch Lyssenko erhielt zudem ein notorischer Antiwissenschaftler Zugriff auf die Landwirtschaft Russlands. Als er 1938 zum PrĂ€sidenten der Sowjetischen Akademie fĂŒr Landwirtschaftswissenschaften ernannt wurde, bedeutete das das Ende der wissenschaftlichen Biologie in Russland. Wie sehr der Ausfall der Biologie und insbesondere der Genetik auf den Krieg Einfluss hatte, ist nicht bekannt. Seine in der Nachkriegszeit zur vollen Gewalt kommende Politik erzeugte jedoch Missernten nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch in China, wo seine Ideen EinfluĂ hatten. Und nicht ganz zufĂ€llig erlebt Lyssenko im neuen Russland ein Revival, das sich aus der Stalinbegeisterung in Russland und dem BedĂŒrfnis nach russischer „Exzellenz“ speist.
Roter Faschismus
Die militĂ€rische SchwĂ€che und der terroristische, personenzentrierte Charakter der stalinistischen Diktatur war maĂgeblich der Grund dafĂŒr, dass sich die Alliierten von einem BĂŒndnis mit Stalin gegen Hitler wenig versprachen oder darin sogar ein Risiko sahen und daher Bedingungen stellten, die wiederum Stalin als vermessen erschienen. Dass die Alliierten jedoch ernsthaft ein BĂŒndnis gegen Hitler anstrebten, wird an dem Entsetzen deutlich, das der im Geheimen ausgehandelte Ribbentrop-Molotov-Pakt zwischen Hitler und Stalin auslöste. Allen Beteiligten war klar, dass dieser Pakt den Krieg wahrscheinlicher machte und nicht verhinderte. Er ermöglichte Hitler den Zugriff auf die Produktivkraft der Beneluxstaaten und Frankreich, sowie Teile Polens und Osteuropas. Stalin erhielt im Gegenzug Zugriff auf die ProduktivkrĂ€fte in den von der Sowjetunion annektierten Regionen. Dabei war ihm die Zerschlagung der nationalen Widerstandsbewegungen wichtiger als konkrete Kriegsvorbereitungen zu treffen und sich aus einer Position der StĂ€rke heraus BĂŒndnispartner zu schaffen. Stalin zerstörte vor 1941 noch den letzten Rest dessen, was der Leninismus von der Idee einer kommunistischen Sowjetunion ĂŒbrig gelassen hatte. Sein Terror hatte kein andere Ratio als den eigenen Machterhalt und seinen sadistischen Lustgewinn am Massenmord und Deportationen. Unter Stalin wurde die Sowjetunion endgĂŒltig das, was die bĂŒrgerlichen Antikommunisten ihr vorwarfen und was der Faschist Benito Mussolini an Stalin freudig begrĂŒĂte: roter Faschismus.
PrĂ€sent waren alle Kernelemente des Faschismus: FĂŒhrerkult, Nationalismus, Zensur, Sklaverei, Militarisierung der Gesellschaft, Mord als politisches Mittel, Glorifizierung des Todes. Noch wĂ€hrend des Krieges kĂŒndigt sich der Antisemitismus Stalins an. Den 1944 verlautbarten Vorschlag des JĂŒdischen Antifaschistischen Komitees, auf der befreiten Krim einen jĂŒdischen Staat zu errichten, entgegnet Stalin laut Chruschtschow:
âSie versuchten, einen jĂŒdischen Staat auf der Krim zu grĂŒnden, um die Krim von der Sowjetunion loszureissen und einen Vorposten des amerikanischen Imperialismus auf unserem Boden zu errichten, der eine unmittelbare Bedrohung der Sicherheit der Sowjetunion darstellen werde. In dieser Richtung lieĂ Stalin seiner Einbildungskraft wild die ZĂŒgel schiessen. Er war von manischer Rachsucht besessen.â
Dass die Sowjetunion von einer einmaligen historischen Chance auf eine freie, gerechte Gesellschaft zur terroristischen Gewaltherrschaft einer kleinen Parteielite wurde, begrĂŒndet die bis heute fortwirkende Tragödie des Kommunismus.
Das zu konstatieren bedeutet nicht Schuldentlastung, sondern Frustration. Die Opfer des Nationalsozialismus hatten keinen verlĂ€sslichen BĂŒndnispartner, sie mussten Israel grĂŒnden.
Nicht, dass Stalin einen Krieg gegen Deutschland vorbereitete, ist ihm zur Last zu legen, sondern dass er es nicht hinreichend tat. Stalins Rote Armee war ein Instrument des roten Faschismus, lieferte WiderstandskĂ€mpfer den Nazis aus und bekĂ€mpfte die Nazis erst dann, als Deutschland die Sowjetunion ĂŒberfiel.
Weil der Zustand der sowjetischen Armee desaströs und die Verluste gigantisch waren, war Stalin daher auf die kriegsentscheidenden Lend-Lease-MilitĂ€rhilfen aus den USA angewiesen. Trotz des Ribbentrop-Molotov-Paktes waren die Alliierten bereit, Russland mit massivem Einsatz von MilitĂ€rmaterial zu unterstĂŒtzen und praktisch die gesamte Kriegsökonomie bis hin zum Brot zu tragen.
Die USA haben angesichts der Bedrohung durch Deutschland in Kauf genommen, Stalins mörderisches System vor dem vollstÀndigen Zusammenbruch zu retten und seine rote Armee auszustaffieren.
Was den Holocaust angeht: Ex post haben weder Alliierte noch Sowjetunion hinreichend zur Rettung der JĂŒdinnen und Juden und zur Verhinderung des von Hitler geplanten und mehrfach gegen alle Beteiligten begonnenen Krieges interveniert. Kollaborierte Stalin durch das Rippentrop-Molotov-Abkommen militĂ€risch mit Hitler, so kollaborierten England und die USA sowie alle an der Konferenz von Evian beteiligten MĂ€chte durch die Abweisung von jĂŒdischen GeflĂŒchteten, die in den Holocaust zurĂŒck geschickt wurden oder keinen Ausweg z.B. nach Israel erhielten.
Der Putinistismus und die Linke
Die heutigen Feiern zum 8. Mai in Russland zehren vor allem von Geschichtsmythen zum Stalinismus und Leninismus. Russland, die ewig von auĂen bedrohte GroĂmacht, die ruhmreich ĂŒber ihre Feinde siegt. Hauptinstrument ist die Suggestion einer Wahlwiederholung: zwischen roter Armee und Hitler, zwischen Z-War und „NATO-Faschismus“. Putin benötigt dabei nicht einmal mehr den frenetischen Jubel, den Stalin einforderte. FĂŒr ihn genĂŒgt, wenn seine UnterstĂŒtzer im Westen ihn in demokratischer Tradition zwar durchaus „kritisch sehen“, womöglich auch den Angriffskrieg verurteilen, aber dann die NATO und ukrainische Faschist*innen dafĂŒr verantwortlich machen. Er tritt nicht als Faschist auf, sondern als Antifaschist. Die rechten Parteien Europas stehen ohnehin hinter ihm, lediglich die hĂ€rtesten Kerne der Neonazis, z.B. der „III. Weg“, haben sich auf die Seite der Ukraine gestellt. Putins Propaganda richtet sich daher explizit an Linke, hier versucht er zu ĂŒberzeugen und sich zu rechtfertigen, zu spalten und zu verwirren.
In Teilen der Linken konnte die Identifikation mit der Roten Armee ĂŒberleben, indem man zwar das eine oder andere als bedauernswert und Irrweg bezeichnet, aber insgesamt eine Wahl zwischen Hitler und Roter Armee aufgemacht wird, die sich historisch allein fĂŒr vom Krieg betroffene Menschen in Osteuropa stellte.
Rechte revisionistische Tendenzen mit ihrem Hautpinteresse der Schuldabwehr werden instrumentell als Popanz einer quasi nicht mehr existenten Kriegsschulddebatte eingefĂŒhrt, um sich eine echte Kritik des Stalinismus zu ersparen. Diese „echte Kritik“ will man in einem letzten Verteidigungsschritt noch an intensive Literatur auslagern. Man mĂŒsse den Stalinismus erst studieren und „verstehen“, um ihn kritisieren zu können.
Dabei sind die Verbrechen Stalins und mittelbar Lenins gegen die Menschlichkeit so offenbar, so offensichtlich, dass eine lebendige, somatische Moral im Sinne Adornos Moralphilosophie Anspruch erheben darf, sich zu distanzieren, in Ekel abzuwenden von den Inszenierungen und Rationalisierungen. Man tut so etwas nicht. Selbst wenn es den Kriegsvorbereitungen gegen die Nazis tatsĂ€chlich genĂŒtzt hĂ€tte – was es nicht hat.
Ein Kommunismus, der nicht in Schrecken vor dem Leninismus und dem Stalinismus zurĂŒcktritt, ist keiner. Kommunismus, darauf ist zu beharren, bedeutet Freiheit UND Gerechtigkeit, bedeutet die Abschaffung von Folter und Todesstrafe, bedeutet, vor politischem Mord sicher zu sein und nicht, ihn zu exekutieren, zu glorifizieren und zu rationalisieren.
Corona – Zur Ideologie der Verlangsamung, der Dunkelziffern und der empirischen Datenlage
Dunkelziffern, Datenmangel, keine empirische Grundlage – diese Begriffe sind verbreitete Floskeln in der öffentlichen Diskussion um Corona. Sie sind Ausdruck des herrschenden Positivismus, der Ideologie des vereinzelten Fakts. Vermitteltes Wissen, lebendige Erfahrung und logische SchlĂŒsse, kurz gesagt die Ideale Kritischer Theorie, hingegen sind wichtiger denn je.
Dunkelziffern
Die Behauptung, es gebe gewaltige „Dunkelziffern“ bei den Corona-Erkrankungen wird vor allem verwendet, um entweder die Todesraten anzuzweifeln oder um die MaĂnahmen fĂŒr wirkungslos, weil zu spĂ€t, zu erklĂ€ren.
Dunkelziffer ist ein Begriff aus der Kriminologie. Er geht davon aus, dass Verbrechen nicht angezeigt werden. Daher wird aus Erfahrungen von Fachleuten hochgerechnet, was mögliche reale Fallzahlen sein könnten.
Dunkelziffer bedeutet nicht, dass man nichts genaues nicht wissen kann und das fĂŒr immer so ist, sondern dass man diese Dunkelziffer eben nicht im Dunklen belĂ€sst und nach Möglichkeit klĂ€rt, welche SchĂ€tzungen realistisch sind und wie man dennoch PrĂ€vention und Strafverfolgung auf diese nĂ€herungsweise eruierte RealitĂ€t ausrichtet. Kurzum: Dunkelziffern erfordern die Extrapolation von Daten zur Erzeugung von Handlungsanweisungen in unklaren VerhĂ€ltnissen und nicht Schulterzucken und Agonie.
Der Transfer des Begriffs in die Medizin ist fragwĂŒrdig, denn hier geht die „Dunkelziffer“ nicht von individuellem SchamgefĂŒhl oder juristischen HĂŒrden oder unklarer Wahrnehmung (z.B. was ist sexueller Missbrauch) oder unmĂŒndigen Opfergruppen aus.
Es lieĂe sich sehr leicht empirisch klĂ€ren, wie groĂ der Durchseuchungsgrad mit dem Coronavirus aktuell ist. Dazu kann man entweder mit Blutproben Antikörpernachweise durchfĂŒhren oder mit Abstrichen den Erregernachweis. Eine solche Studie dĂŒrfte je nach n wenige Tage dauern und prĂ€zise Auskunft geben. Diese Daten nicht zu haben beschreibt einen RĂŒckstand, ein institutionelles Versagen.
Es gibt aber auch logische Hinweise auf eine relativ geringe Dunkelziffer:
1. Das Auftreten von getesteten Erkrankungen in Clustern (z.B. Hamburg, Berlin, Bergamo). WĂŒrde eine hohe Durchseuchung der Bevölkerung vorausgesetzt, wĂ€re auch die Verbreitung von schweren FĂ€llen breiter gestreut. Diese Streuung findet zweifellos mit einer hohen Zahl milder VerlĂ€ufe statt. Aber sie ist nicht abgeschlossen. Daraus können wir RĂŒckschlĂŒsse ĂŒber die „Dunkelziffer“ ziehen. Die sich testen lieĂen.
2. Das VerhĂ€ltnis bei den tatsĂ€chlich getesteten Personen (aufgeteilt in symptomatisch, asymptomatisch) zwischen erkrankt und nicht erkrankt gibt Aufschluss ĂŒber den Durchseuchungsgrad bei Personen mit Symptomen und Kontakten zur Risikogruppe. Sind Personen mit Symptomen relativ selten tatsĂ€chlich erkrankt, ist umso unwahrscheinlicher, dass Personen ohne Symptome relativ hĂ€ufig erkrankt sind.
3. Der Anstieg der Todesrate, also das Wachstums des Wachstums. Eine hohe Durchseuchung erzeugt ein viel höheres Wachstum der FÀlle und damit einen viel stÀrkeren Anstieg der Todesraten und wiederum eine breitere Streuung.
Wir können aus den vorliegenden öffentlichen Daten schlieĂen, dass das Virus vorerst NOCH in Clustern verbreitet ist, dass also noch keine durchgehende Durchseuchung oder „erste Welle“ stattgefunden hat, wie das mitunter erwogen wird. Auch in Italien haben wir kaum TodesfĂ€lle im SĂŒden, es bleibt regional beschrĂ€nkt.
Wir können weiter daraus schlieĂen, dass die getroffenen MaĂnahmen ein gewisses Containment innerhalb von Regionen erreichen können.
Empirische Daten
Die Behauptung, es gebe keine „empirischen Daten“ ĂŒber die Wirksamkeit von bestimmten MaĂnahmen ist vor allem vernunftfeindlich. Es gibt einen sehr klaren Vektoren der Infektion: Die Tröpfcheninfektion. Somit kann eine wirksame Unterbrechung der Infektionsketten nur stattfinden durch das Ausschalten der Tröpfcheninfektion. Und daher sind MaĂnahmen angeraten, die 1,5 Meter Distanz erzeugen (und somit die Möglichkeit einer Tröpfcheninfektion verringern) und zusĂ€tzliche Hygiene im Bereich hĂ€ufig berĂŒhrter GegenstĂ€nde und HĂ€ndewaschen fördern. Ebenso sind MaĂnahmen wie die Isolierung hustender oder niesender Personen dringend angeraten und das Tragen eines Mundschutzes durch Personen mit leichen Symptomen in der Ăffentlichkeit.
Wir können auch empirische Daten extrapolieren, um Prognosen zu erstellen: Aus bestehenden LĂ€nderdatensets zu MaĂnahmen und der Ausbreitung, aus dem Vergleich mit historischen InfektionsverlĂ€ufen Ă€hnlicher Erkrankungen, aus dem Vergleich mit anderen, aber Ă€hnlich invasiven Erkrankungen, wir können Erfahrungen mit HIV-Leugnung, Pockenimpfkampagnen und Impfgegnern hinzuziehen.
Ausgangssperren
Eine Ausgangssperre unterbricht natĂŒrlich nur indirekt die Infektionskette, weil sie Personen davon abhĂ€lt, diese Distanzregeln und Hygieneregeln nicht zu befolgen. Diese MaĂnahme ist aus medizinischer Sicht Unsinn, weil sich das Virus nicht ĂŒber die Luft ĂŒbertrĂ€gt und eine Infektion auch durch Distanz vermieden werden kann. Sie ist sogar kontraproduktiv, weil sie Personen von Bewegung an der frischen Luft abhĂ€lt. Sie ist aber aus soziologischer Sicht eine DisziplinarmaĂnahme zur Erzeugung von Compliance zur Einhaltung von sozialer Distanz. Ausgangssperren werden wegen Corona-Parties und Weinfesten diskutiert und nicht, weil das Virus durch die Luft fliegt.
Epidemiologisch sind Ausgangssperren dort begrenzt sinnvoll, wo Menschen isolierbar sind. In Slums des Trikont mit hoher Dichte von Menschen auf kleinstem Raum kann eine solche MaĂnahme hingegen kontraproduktiv sein, weil die soziale Distanz im Privaten weniger gegeben ist als im Freien. Dennoch waren in Westafrika Ausgangssperren ein wichtiges Mittel gegen Ebola und sie sind bekannt aus der Medizingeschichte des subsaharischen Afrikas: als traditionelles Mittel gegen Pockenepidemien.
Ăberwachung
Umgekehrt verhĂ€lt es sich mit den MaĂnahmen der Ăberwachung von Handys und Kontaktgruppen. Diese sind aus virologischer und epidemiologischer Sicht sehr sinnvoll und wirksam, aus soziologischer Sicht aber katastrophale Eingriffe in elementare Werte dieser Gesellschaft.
Zwischenfazit
Es existieren genĂŒgend valide Daten, deren interdisziplinĂ€re und vernunftmĂ€Ăige Betrachtung relativ eindeutige RĂŒckschlĂŒsse auf den Sinn und Unsinn von MaĂnahmen erlaubt. Der Mangel an medizinischen Daten gibt Auskunft darĂŒber, was versĂ€umt wurde und was geklĂ€rt werden muss. Der Mangel an Daten kann aber nicht als Argument herhalten, MaĂnahmen generell zu sabotieren oder fĂŒr unwirksam zu erklĂ€ren. Jede Kritik an konkreten MaĂnahmen hat sich am vollstĂ€ndigen Set verfĂŒgbarer Daten und Fakten zu orientieren und Alternativen zu prĂ€sentieren.
Ideologie der Verlangsamung und die Situation im Trikont
Aus kulturwissenschaftlicher Sicht ist bedenklich, wie wenig die psychologischen Auswirkungen der Vermittlung von MaĂnahmen bedacht werden. Bereits zu Beginn der Epidemie in Deutschland, als es noch wenige FĂ€lle gab, einigte sich die Elite in den Medien auf die Formel der „Verlangsamung“. Kommuniziert wird, dass eine kontrollierte Durchseuchung angestrebt wird. Es wird nicht geklĂ€rt, warum ein Stopp der Ausbreitung unmöglich sein soll und/oder was der Preis fĂŒr einen Stop der Ausbreitung wĂ€re. Auf dieser Grundlage entsprechen sich die Modelle von GroĂbritannien, Finnland, Niederlande und Deutschland: Kein Land hat das Ziel ausgerufen, die Epidemie zu stoppen. Das senkt die Compliance, weil eine Infektion unausweichlich erscheint.
Die Ideologie der „Verlangsamung“ kaschiert aber auch Staatsversagen: Klar ist, dass entsprechende Szenarien einer Corona-Infektion durchgespielt wurden, dass es MaĂnahmensets gibt und dass die Krise zu Beginn nicht ernst genommen wurde. Ebenso klar ist, dass die Verantwortung dafĂŒr bei der aktuellen Regierung liegt, die einen sehr wahrscheinlichen Fall einer globalen Coronavirusinfektion analog zu SARS oder MERS nicht adĂ€quat vorbereitet hat und die Intrusion des Virus in die breitere Bevölkerung erlaubte. Mit der Formel „Verlangsamung“ wird dem Virus Ăbermacht einer Naturkatastrophe zugesprochen, um die SchwĂ€che des Staates zu kaschieren.
Was bedeutete die Ideologie der „Verlangsamung“? Sie bedeutete die globale Ausbreitung des Virus insbesondere auf das subsaharische Afrika. Die meisten Infektionen dort kamen aus Europa. Hier existiert keinerlei Redundanz von BeatmungsgerĂ€ten. Es gibt hier keine freien Betten, keine Grenze, unter der man die Infektionsraten halten könnte. Wo medizinische MaĂnahmen nicht vorliegen, bleibt die Wahl zwischen autoritĂ€rer QuarantĂ€ne mit Todesfolge fĂŒr die am hĂ€rtesten Betroffenen und, sehr viel wahrscheinlicher, eine rasche und gravierende Durchseuchung der Gesellschaften mit hohen Todesraten aufgrund fehlender Intensivpflege. Besonders betroffen sind hier Alte, MangelernĂ€hrte, HIV-Erkrankte. Hochgradig tödlich ist aber auch das Zusammentreffen von Corona mit Malaria, Typhus und anderen Tropenkrankheiten.
Die europĂ€ischen Staaten haben hier sĂ€mtlich an sich selbst gedacht, die Folgen fĂŒr die eigene Wirtschaft abgewogen und die eigenen Krankenhausbettenzahlen hochgerechnet. Internationale Verpflichtung gegenĂŒber den Staaten im Trikont wurde nicht diskutiert und fand nicht statt. Das Ergebnis können mehrere hundert Millionen Tote sein.
Die afrikanischen Gesellschaften kennen ihre Verwundbarkeit und sind dementsprechend in der „Panik“, die man in Deutschland „vermeiden“ wollte dadurch, dass man keine wirksamen MaĂnahmen zu Beginn der Krise traf und technokratisch MaĂnahmen dann plante, „wenn die Infektionsrate auf einem Höchststand“ ist.
Zusammenfassung:
Kurz: Man hatte in Deutschland, in Europa nie den Plan stark gemacht, die Ausbreitung zu stoppen und das Virus auszurotten. Die GrĂŒnde dafĂŒr sind unklar, deutlich ist, dass wirtschaftliche ErwĂ€gungen die gröĂte Rolle spielten.
Ideologisch befindet man sich aber auf einer Ebene mit den antiwissenschaftlichen, eugenischen DurchseuchungsplÀnen der Niederlande und Finnlands und sucht lediglich einen weniger schlechten Kompromiss mit der selbsterzeugten RealitÀt.
Was notwendig wÀre: Eine Ethikkommission einzuberufen, die Fakten interdisziplinÀr zu verhandeln, der Virologie ihren Platz, aber auch nicht mehr, zuzugestehen, und einen Plan auszuarbeiten, wie das Virus auszurotten wÀre.
Dieser Plan hĂ€tte als zentralsten Punkt zu beinhalten, wie erwartbare Katastrophensituationen im Trikont und in FlĂŒchtlingslagern bewĂ€ltigt werden sollen, die jetzt, sofort, heute vorbereitet werden mĂŒssen. Alles andere wĂ€re ein Bekenntnis zum dezimillionenfachen Tod durch die Ansteckung afrikanischer Staaten durch europĂ€isches laissez-faire im Umgang mit einer Infektionskrankheit. Der nationale Egoismus, der bisherige Strategien der Beschaffung von medizinischem Material kennzeichnet, muss vollstĂ€ndig ĂŒberwunden und in internationale SolidaritĂ€t verwandelt werden. BeatmungsgerĂ€te mĂŒssen international nach Bevölkerungszahl und Infektionsrate verteilt werden, nicht nach Einkommen.
BekÀmfung: Tests, Tests und Tests
Das Ende der Corona-Krise kann nur auf zwei Wegen geschehen:
1. Die massive Ausweitung der TestkapazitĂ€ten und die möglichst hĂ€ufige Testung möglichst vieler, um die QuarantĂ€nemaĂnahmen prĂ€ziser zu dosieren. Ein Plan zur massiven Ausweitung der TestkapazitĂ€ten wird aber öffentlich nicht kommuniziert, die Hindernisse nicht adĂ€quat benannt. Tests sind das RĂŒckgrat der EpidemiebekĂ€mpfung. Medial sind Tests eine sideshow. Man macht sich ĂŒber Leute lustig, die sich „ohne Grund“ testen wollen, verweist auf die begrenzte Zahl von Tests, ohne öffentlich zu rechtfertigen, warum Tests Mangelware sind und warum Personen mit Symptomen nur getestet werden, wenn sie auch Kontakt zu einer getesteten Person hatten.
2. Die andere Möglichkeit zur EindÀmmung des Virus ist die Impfung. Impfungen aber sind invasiv, schwerfÀllig, dauern als globale Kampagne Jahre, die Risiken sind unklar. Nach derzeitigem Ausbreitungsstand wird eine Impfkampagne der Durchseuchung nicht mehr zuvorkommen.
Das unterstreicht zusĂ€tzlich die immense Bedeutung von Tests. Die QuarantĂ€nemaĂnahmen sind nicht bis zu einer Impfung aufrechtzuerhalten. Tests liegen aber jetzt schon vor und können rascher ausgeweitet werden als Impfungen. Der Ăffentlichkeit muss endlich ein Plan kommuniziert werden, mit welchen Mitteln welche Testfrequenz wann erreichbar sein wird. Dieser Plan hĂ€tte fĂŒr den B-Waffen-Fall nach 9/11 oder fĂŒr Epidemien nach SARS, Ebola und MERS lĂ€ngst erarbeitet sein mĂŒssen. Dass er Wochen nach dem Eintreten des Pandemiefalls noch nicht vorliegt, ist Staatsversagen.
Nachtrag
HerdenimmunitĂ€t: Dieses Konzept taucht immer wieder auf. HerdenimmunitĂ€t ist ein komplexes PhĂ€nomen mit vielen Faktoren, man beginnt bei anderen Krankheiten mit Tröpfcheninfektion mit SchĂ€tzungen von ca. 75% ImmunitĂ€t der Gesamtbevölkerung, um HerdenimmunitĂ€t zu erreichen, realistischer sind SchĂ€tzungen ab 85% und fĂŒr eine hochansteckende Krankheit wie Corona mit langer Inkubationszeit sollte man aus reiner Vorsicht eher von ĂŒber 90% erforderlicher ImmunitĂ€t fĂŒr das Erreichen von HerdenimmunitĂ€t ausgehen, wenn man nicht sehr gute GrĂŒnde nennt. Daher wurde Boris Johnson auch in England von Wissenschaftlern bedrĂ€ngt, seine Strategie aufzugeben, die leider in Finnland und Niederlanden noch wirksam scheint.
https://de.wikipedia.org/wiki/Herdenimmunit%C3%A4t#Einflussgr%C3%B6%C3%9Fen
Indigene Gesellschaften: Völlig unverantwortlich ist, dass in den Pandemie-Szenarien bisher indigene Gesellschaften nicht vorkommen. Corona kann in isolierteren Gesellschaften z.B. im Amazonas-Tiefland viel heftigere Konsequenzen haben und genozidale Auswirkungen haben. Einige indigene Gesellschaften sind fĂŒr Impfkampagnen sehr schwer zu erreichen, dadurch vor einer Ansteckung besser geschĂŒtzt, aber eben auch ohne jeden Zugang zu medizinischer Hilfe im Falle einer Einschleppung der Krankheit, die heute sehr wahrscheinlich ist.
Es kann auch zu genetisch bedingter AnfÀlligkeit bei endogamen und Inselgesellschaften kommen. Dazu fehlen schlicht die Informationen und es sind daher worst-case-Szenarien angebracht, die sich an historischen Erfahrungen orientieren.
„Antirassismuskritik“ und Critical Whiteness – ein dialektisches VerhĂ€ltnis
Dieser Text wurde 2017/18 auf Bestellung einer Fachzeitschrift erstellt, reviewed, endbearbeitet und dann auf Betreiben eines Redaktionsmitglieds hin nicht publiziert.
Schlagworte: Rassismus, TĂŒrcke-Debatte, Bahamas, Critical Whiteness
Die „mathematische sowie naturwissenschaftliche Allgemeinbildung“ von Thomas Maul
Gastbeitrag von SĂ©bastien de Beauvoir – mit einem Nachwort von Felix Riedel
Thomas Maul hat sich als Klimatologe versucht, und das Ergebnis ist ein einziges Cringefest. Vielleicht sollte man ihn einfach nur auslachen und nicht weiter beachten. Als ich einen geschĂ€tzten Freund fragte, wie es sein kann, dass Leute wie Maul keine Sorge hĂ€tten, jemandem könnte auffallen, wie nackt sie dastehen, gab mir dieser jedoch zu bedenken, dass sie wohl tatsĂ€chlich eine Heidenangst davor hĂ€tten; dass die selbsternannte Ideologiekritikerszene sich die offene Klimawandelskepsis bisher nur noch nicht so recht traue, weil die Gefahr zu groĂ sei, als kompletter Trottel dazustehen; dass es wichtig sei, dass einer ihrer WortfĂŒhrer derjenige ist, der das als erstes macht, und dass dieser Schritt jetzt vollzogen sei und nunmehr die Hot Takes so richtig losgehen können. Letzteres möchte ich gern vermeiden, weil ich nicht will, dass ansonsten geschĂ€tzte Genossinnen und Genossen sich am Ende von so einem lĂ€cherlichen Humbug noch beeindrucken lassen. AuĂerdem kann ich es grundsĂ€tzlich nicht ausstehen, wenn Scharlatane sich an der Naturwissenschaft vergreifen. Daher folgender PrĂ€emptivschlag anlĂ€sslich des Blogbeitrags âDie Welt als Wille und Heizkörperâ, veröffentlicht am 30.06.2019 als dritter Teil der Beitragsserie âGrĂŒnifizierte Gesellschaftâ auf der âAchse des Gutenâ:
Das Titelbild stimmt schonmal ein: Wie einst die Freiheitsstatue dem antiamerikanischen Eissturm in âThe Day After Tomorrowâ trotzte, ragt hier nun der Kirchturm aus den biblischen Fluten der apokalyptischen Klimareligion hervor â the occident will prevail! Direkt danach geht es mit einem knackigen Eingangsstatement los, die Fans sollen nicht lange warten mĂŒssen:
»Der Vorschlag aus den Reihen der GrĂŒnen, Klima-Greta mit dem Friedensnobelpreis zu ehren, ist freilich nicht ĂŒberraschend angesichts einer Gesellschaft, die sich mit hohen Zustimmungswerten so etwas wie Klimapolitik ĂŒberhaupt leistet. SchlieĂlich exekutiert diese nichts anderes als einen unschwer zu durchschauenden Wahn.«
So schleudert er einer vermeintlich hungrigen Menge eine steile Behauptung (irgendwas mit âWahnâ) nicht etwa als zu begrĂŒndende Aussage, sondern als ohnehin voraussetzbare PrĂ€misse (âSchlieĂlich [âŠ]â) entgegen. Logiker hassen diesen Trick! Die Menge dagegen ist begeistert, und wer ihn kennt, weiĂ, jetzt muss es noch eine Stufe krasser kommen:
»Und doch wird die Klima-Hysterie bisweilen sogar dort, wo man sich aufs Erkennen von Wahnvorstellungen spezialisiert wĂ€hnt â in israelsolidarischen oder ideologiekritischen Kreisen also â, entweder geteilt oder in Ăquidistanz zu einem Forscherstreit verharmlost, zu dem eindeutig Stellung zu beziehen man sich aus falscher Bescheidenheit die Fachkompetenz abspricht [usw.] [âŠ]«
Wer es mit dem Westen ernst meint, braucht mit lauwarmer âKlimaskepsisâ nicht zu kommen, denn Ăquidistanz hilft nur der Barbarei. âFalsche Bescheidenheitâ ist ihm bekanntlich fremd, und so schult sich der Tausendsassa in Verteidigung des Abendlandes, auf sich alleingestellt inmitten gnadenlos verblödeter Horden, binnen kĂŒrzester Zeit per kursorischer LektĂŒre einschlĂ€giger Wikipedia-Artikel zum aus der Not geborenen Klimakritiker.
Naturwissenschaftlich relevanter Dreh- und Angelpunkt seiner folgenden Argumentation ist die Behauptung, das IPCC und der ihm hörige wissenschaftliche Mainstream sei dem Dogma verfallen, die Durchschnittstemperatur der Erde hinge
»monokausal-proportional-linear«
vom CO2-Gehalt der AtmosphĂ€re ab. Dieses Dogma wird er dann im Weiteren geradezu galileisch als Irrglauben widerlegen (und sich selbst dabei gleich mit, aber zu dieser Dialektik des dummen Kerls spĂ€ter). Allein: Dieses Dogma existiert gar nicht. Niemand, wirklich absolut niemand, der oder die irgendetwas zu sagen hat, sei es zu Klimaforschung oder -politik, behauptet etwas, was auch nur in die NĂ€he dieses vermeintlich zentralen Glaubenssatzes kommt, weder eine MonokausalitĂ€t noch einen linearen Zusammenhang (durch den Griff zu einem beliebigen einschlĂ€gigen Lehrbuch zu ĂŒberprĂŒfen, bspw. E. Boeker / R. v. Grondelle: Environmental Physics. Wiley, 3. Auflage 2011, S. 45ff.) Und weil niemand das behauptet, hat er sich den entsprechenden Begriff auch extra fĂŒr diesen Blogbeitrag selbst ausdenken mĂŒssen, denn niemand mit mathematischer Ausbildung wĂŒrde das, was Maul da mit etwas GlĂŒck zu sagen versucht, so formulieren, wohingegen dieses sinnarme BindestrichungetĂŒm auf andere den Eindruck machen mag, hier habe jemand den mathematischen Durchblick.
SpÀter wird daraus die leicht abgewandelte Aussage,
»dass es sich bei der Korrelation um eine vom CO2 ausgehende linear-proportionale KausalitÀt handelt, der[er] es logisch bedarf, damit die Panikmache aufgeht «
Einmal davon abgesehen, dass auĂerhalb der Phantasie des Autoren niemand von Relevanz eine solche LinearitĂ€t postuliert, bedarf es ihrer âlogischâ auch gar nicht, denn auch andere, kompliziertere ZusammenhĂ€nge können bedeutsam sein â und sind es in diesem Fall.
Etwas weiter im Text wird Maul die Feststellung des dritten Sachstandsberichts der IPCC von 2001 (nicht, wie von ihm â wohl um eigenstĂ€ndige Quellenarbeit vorzutĂ€uschen â angegeben, von 2007) zitieren,
»dass es sich um ein gekoppeltes [!] nicht-lineares [!] chaotisches [!] System handelt.«
Etwas furchtbar Kompliziertes also, das mÀchtig Eindruck auf seine Leserschaft machen soll. Unbeschadet dieser ehrfurchtsgebietenden KomplexitÀt will Maul an dieser Stelle aber erstmal der
»infantile[n] Hybris«
mithilfe der guten, alten
»mathematischen sowie naturwissenschaftlichen Allgemeinbildung und der eigenen Alltagserfahrung«
zuleiberĂŒcken, etwa indem er spĂ€ter noch â weil er in Wirklichkeit keine Ahnung hat, was gekoppelte (!) nicht-lineare (!!) chaotische (!!!) Systeme sind â mit einem kurzen Blick seines ideologiekritisch geschulten Auges eine von allen anderen verkannte Konvergenz auszumachen meint, die
»den entwarnenden Schluss nahelegt, immer mehr CO2 fĂŒhre zu immer geringeren Temperaturzunahmen (und zwar gen Null tendierend), weshalb man die anthropogenen CO2-Emissionen recht bedenkenlos sogar vermehren könnte.«
Aber bereits in diesem Abschnitt widerspricht er seiner eigenen Behauptung vom âmonokausal-proportional-linearenâ (lol) Dogma, indem er feststellt, dass
»es der IPCC seit seinem 2013 erschienenen fĂŒnften Sachstandsbericht fĂŒr âextrem wahrscheinlichâ hĂ€lt, dass die Menschen per von ihnen verursachten CO2-AusstoĂes [âŠ] fĂŒr mehr als 50 Prozent der beobachteten ErwĂ€rmung verantwortlich sind,«
was offensichtlich unvertrĂ€glich mit einer vermeintlich behaupteten MonokausalitĂ€t ist. Ăberhaupt sind ihm solche verbalisierten Wahrscheinlichkeitsangaben suspekt, an anderer Stelle fĂŒgt er die Bemerkung
»wie auch immer diese SchÀtzung zustande kommt«
an, die ihn offenbar selbst nicht interessiert, sonst hÀtte er sich mit Modellierung befasst, statt das vorliegende Dokument der Ahnungslosigkeit abzufassen. HÀtte er im dritten Sachstandsbericht der IPCC (S. 774) auch nur einen Satz weitergelesen, hÀtte er lesen können:
»The most we can expect to achieve is the prediction of the probability distribution of the systemâs future possible states by the generation of ensembles of model solutions. This reduces climate change to the discernment of significant differences in the statistics of such ensembles.«
(Das setzt natĂŒrlich voraus, er hĂ€tte den Bericht ĂŒberhaupt im Original gelesen. Wer den o. g. Halbsatz â ohne die von Maul eingefĂŒgten Ausrufezeichen, die suggerieren sollen, er wĂŒrde kraft seiner Wachheit dem Satz eine tiefere Wahrheit entlocken, die den per definitionem völlig verblödeten KlimaglĂ€ubigen ansonsten entginge â in eine Suchmaschine eingibt, kann leicht erahnen, dass diese heroische Entlarvung des Klimaschwindels nicht Mauls eigenes Verdienst ist, erfreut es sich doch seit Jahren schon auf einschlĂ€gigen âalternativwissenschaftlichenâ Blogs und âfreigeistigenâ Medien ausgesprochener Beliebtheit. Immerhin verlĂ€sst er sich bei seiner Recherche nicht auf Wikipedia allein.)
Es werden also unterschiedliche Szenarien modelliert und versucht, die Wahrscheinlichkeiten verschiedener Entwicklungen abzuschĂ€tzen â eben weil das System sehr komplex ist. â[G]renzenlos irrsinnigâ fĂŒr Maul ist, dass vor dem Hintergrund dieser mit recht groĂen Unsicherheiten behafteten Ergebnisse der Klimaforschung politische Ziele formuliert werden, die genauer beziffert werden als die Wissenschaft Vorhersagen liefern kann. Politik ist aber keine Wissenschaft, was ihm eigentlich sympathisch sein mĂŒsste, denn von letzterer versteht er offenkundig nichts. Wird die politische Zielmarke um 1,0 °C höher angegeben, bedeutet das nicht, dass eine magische CO2-Maschine angeworfen werden soll, um exakt bei dieser Zielmarke zu landen, sondern einfach, dass die politischen Anstrengungen zur Minderung des TreibhausgasausstoĂes geringer ausfallen, nicht unbedingt âmonokausal-proportional-linearâ, aber doch geringer, als wenn sie um 0,5 °C höher ausgegeben wĂŒrde.
Zwar gibt es unterschiedliche Modelle und damit unterschiedliche EinschĂ€tzungen, welche Szenarien wie wahrscheinlich sind. Dass eine KlimaerwĂ€rmung stattfindet und dass die Emission von Treibhausgasen und insbesondere von CO2 darauf eine betrĂ€chtliche Auswirkung hat, ist in der seriösen Forschung unumstritten. Da das dem politischen Ansinnen, die CO2-Konzentration in der AtmosphĂ€re zu senken, zumindest grundsĂ€tzlich Sinnhaftigkeit verschafft, will Maul zur Rettung des Abendlands auch diese Forschung selbst diskreditieren, oder zumindest massive Fremdscham beim Versuche unterzugehen hervorrufen. Letzteres gelingt ihm insbesondere dadurch, dass er im ersten Absatz des Abschnitts âKeine Klima-Messapparaturen im 19. Jahrhundertâ deutlich macht, dass er den Unterschied ums Ganze zwischen der Heisenbergschen UnschĂ€rferelation einerseits und der Notwendigkeit, sein MessgerĂ€t richtig einzusetzen, andererseits nicht verstanden hat, und im nĂ€chsten, dass er auch noch nie etwas von Kalibrierung o. Ă€. gehört hat. (Von Quantenmechanik nichts zu verstehen, ist nicht ehrenrĂŒhrig. âHochnotpeinlichâ â um szeneĂŒblichen Jargon zu gebrauchen â ist es allerdings, groĂmĂ€ulig mit Konzepten um sich zu schmeiĂen, deren Kernaussagen man nicht begreift.) Ăber die folgenden drei AbsĂ€tze hiweg zweifelt er Temperaturbestimmungen an (nach seinen Vorstellungen ohnehin praktisch unmöglich, denn unter
»fĂŒnf- bis zwanzigtausend technisch identisch ausgestattete[n] Wetterstationen â ihren Abstand betreffend gleichmĂ€Ăig ĂŒber die ErdflĂ€che verteilt â«
macht erâs nicht). Zweifel ist ein wichtiges Element der Wissenschaft. Seriöse Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die ebenfalls â mit weniger wirrer BegrĂŒndung, aber seien wir nicht kleinlich â Zweifel an der Temperaturdatengrundlage hatten, haben deswegen z. B. 2010 das ambitionierte Berkeley-Earth-Projekt (finanziert u. a. von den GroĂindustriellen Koch Bros., die âKlimaskepsisâ in groĂem Stil fördern) ins Leben gerufen, das â zum Ărger der Geldgeber â die Ergebnisse des bisherigen wissenschaftlichen Konsens bestĂ€tigt und sogar verschĂ€rft hat. (Der wissenschaftliche Direktor des Projekts hat darĂŒber, wie er seine skeptische Position nach deren Falsifizierung revidiert hat, 2012 ein lesenswertes Op-Ed in der NYT geschrieben.)
Dass die wichtigsten Referenzmessungen bzgl. der atmosphĂ€rischen CO2-Konzentration die der Messstation auf Hawaii sind, hat ĂŒbrigens den einfachen Hintergrund, dass diese Messstation fernab industrieller Zentren liegt. Sie ist selbstverstĂ€ndlich nicht die einzige Messstation, eine andere bekannte betreibt z. B. die Scripps Institution of Oceanography in San Diego.
A propos Falsifizierung: Warum Leute, die sich sonstwas darauf einbilden, irgendwie in den FuĂstapfen Adornos zu wandeln, Maul den idealistischen Quatsch vom
»traditionellen SelbstverstĂ€ndnis der Wissenschaft, wonach die Richtigkeit von Erkenntnissen eine Frage der BeweisfĂŒhrung und nicht einer Mehrheitsmeinung oder Empfindungslage sei,«
durchgehen lassen, der Popper TrĂ€nen der RĂŒhrung in die Augen treiben wĂŒrde, kann ich nur vermuten. Maul fĂŒhrt ein Bonmot Albert Einsteins an, der auf den Versuch von hundert Nazis, ihn zu widerlegen, antwortete: „Warum einhundert? Wenn sie Recht hĂ€tten, wĂŒrde ein Einziger genĂŒgen!“ So will er die Ăkologiebewegung als Wiederkehr des Nationalsozialismus verstanden wissen, um dann die Klimaskeptiker mit dem Juden Albert Einstein als Opfer und Genies gleichzeitig zu identifizieren – so formuliert, dass es seine Leserschaft sowohl exakt so versteht, wie es gemeint ist, als auch, dass sie es bei Bedarf empört zurĂŒckweisen kann.
Im vierten und letzten Teil geht es immer noch weiter bergab. Er betont, er wolle nicht unterstellen,
»der vom Mainstream verfochtene Monokausalzusammenhang wĂ€re derart umzukehren, dass erhöhte Temperaturen zu erhöhten CO2-Anteilen fĂŒhren.«
Witzigerweise ist der Effekt, dass erhöhte Temperaturen tatsĂ€chlich wiederum die atmosphĂ€rische CO2-Konzentration erhöhen (weil sich in wĂ€rmerem Wasser weniger CO2 lösen kann, die CO2-AufnahmekapazitĂ€t der Ozeane also mit steigender Temperatur sinkt) sogar Bestandteil der vom Mainstream verfochtenen Modelle (nachzuschlagen bspw. im o. g. Lehrbuch). Gut, dass er an der Stelle nochmal âMonokausalzusammenhangâ gesagt hat.
Zusammenfassend schlussfolgert er, dass
»im Resultat nicht mal mehr zwingend wĂŒnschenswert bleibt, mittels politischer MaĂnahmen Einfluss auf die Entwicklung der Durchschnittstemperatur der Erde zu nehmen â ganz abgesehen von möglichen ungewollten Effekten, die menschliche Eingriffe in unbegriffene, chaotische Systeme haben könnten.«
Ganz als ob es den Menschen möglich wÀre, einfach nicht in dieses System einzugreifen. Peak Idealismus. We live in an ecology.
Ein Nachwort von Felix Riedel:
Ich danke SebastiĂ©n de Beauvoir sehr fĂŒr seine kurze Analyse des Textes von Thomas Maul auf der „Achse des Guten“ aus naturwissenschaftlicher Sicht. An einer Stelle möchte ich sie doch erweitern: Thomas Maul ist eher kein „WortfĂŒhrer“ oder Vordenker der rechtsantideutschen Antiökologie, sondern ein MitlĂ€ufer. Seine Desinformation stammt sehr offensichtlich aus dem Umfeld des rechtslibertĂ€ren Thinktanks „The Heartland Institute“ und dessem deutschen Pendant EIKE, von dem die Bahamas-Autoren Jörg Huber, Tjark Kunstreich und Martin Stobbe seit Jahren „inspiriert“ werden.
Die Antiökologie der rechtsantideutschen Szene hat Ă€ltere UrsprĂŒnge als Thomas Maul und erstreckt sich heute durch das in der Redaktion vorherrschende LoyalitĂ€tsgebot auf alle ihre Glieder. Die psychologische Ursache dafĂŒr liegt vermutlich begraben in individuellen Biographien der Autoren. Will man aber einen theoretischen Mangel haftbar machen, so wĂ€re der in einer abgestĂŒrzten Staatskritik zu verorten, einer kruden und stets ĂŒberstreckten Mischung aus Ahrendt’scher und neoliberaler Staatsfeindlichkeit auf der einen und der Identifikation mit dem Rechtsstaat und teleologisch verstandener Zivilisation auf der anderen Seite, die erlaubt Konservativismus und Revolte gleichzeitig auszuleben. Das ist der ideale NĂ€hrboden fĂŒr rechtslibertĂ€re und neokonservative Propaganda, in dem letzte Reste von Marxismus und kritischer Theorie ertrinken.
Auf einer institutionellen Ebene hat man sich in der Institution Bahamas lĂ€ngst von der AufklĂ€rung verabschiedet – man sucht JĂŒnger. Und um diese von „Mehrheitsmeinungen“ abzuwerben, muss man ein Gegenweltbild erstellen, das zunĂ€chst Konformismus gegenĂŒber der eigenen Elite durch verbale BrutalitĂ€ten einfordert und dann dadurch zwangslĂ€ufig entstehende Angst und Aggression als Revolte stĂ€ndig nach auĂen kanalisiert. Kurz: Man will es stĂ€rker noch als die im Medium Bahamas sattsam verschriene postmoderne Wissenschaft zu wirklich allem besser wissen, auch wenn man inzwischen erwiesenermaĂen zu keinem einzigen Thema mehr etwas Sinnvolles beizutragen hat. Das innerste Unbehagen ĂŒber die aufklaffende Diskrepanz zwischen Ich-Ideal und allenfalls bescheidenen intellektuellen KapazitĂ€ten und noch bescheidenerem Fachwissen wird dann mit wahnhaftem Assoziieren, mit wildem Umsichschlagen vertuscht. Deshalb prĂ€sentiert Thomas Maul, als er sich irgendwo gewahr wird, dass er nichts weiĂ, Anton Hofreiter als „Kettenhund“, der an „Roland Freisler“ erinnere: Also an einen von 15 Wannseekonferenz-Teilnehmern und dem PrĂ€sident des Volkgerichtshofes. Darunter macht mans nicht mehr und daran lĂ€sst sich der Zustand ablesen, der dieses Millieu erfasst hat.

Der Erfolg des Antisemitismus in der American Anthropological Association (AAA)
Ich mache hier das Flugblatt zum Erfolg der BDS-Bewegung in der American Anthropological Association und den Antragstext meines Antrages zur DGV-Tagung 2017 öffentlich zugÀnglich:
Da die VorgĂ€nge ĂŒber Jahre hinweg zu keinerlei Reaktion von Seiten der deutschen Ethnologie fĂŒhrten, habe ich als nicht institutionell eingebundener, freiberuflicher Ethnologe folgenden Antrag bei der DGV-Tagung 2017 in Berlin gestellt. Der Antrag wurde mit groĂer Mehrheit abgelehnt:
Antrag: âVerurteilung der antiisraelischen Agitation in der American Anthropological Associationâ
Auf der Mitgliederversammlung (2017) der Deutschen Gesellschaft fĂŒr Völkerkunde soll folgende Resolution beschlossen werden:
Die Mitgliederversammlung der Deutschen Gesellschaft fĂŒr Völkerkunde (DGV) verlautbart groĂe Sorge ĂŒber die anhaltenden Forderungen nach der Ausgrenzung von israelischen akademischen Institutionen durch einen groĂen Teil der Mitglieder der AAA. Die Mitgliederversammlung fordert Vorstand und Mitglieder der AAA auf, wissenschaftliche und wissenschaftsethische Standards in der geschichtswissenschaftlichen und konfliktethnologischen Forschung einzuhalten, die in dem âTask-Forceâ-Bericht ĂŒber Israel verletzt werden. Die DGV bekennt sich zu ihrer Verpflichtung zu Kooperation und solidarischen UnterstĂŒtzung israelischer akademischer Institutionen gerade auch dort, wo deren Forschungen an der militĂ€rischen Selbstverteidigung gegen die stĂ€ndige existentielle Bedrohung der Einwohner Israels durch islamistische Guerillas und Regimes teilhaben.
BegrĂŒndung:
Mehr als 1100 Ethnologen haben online die Forderung nach einem Boykott Israels unterzeichnet.[1] Als Reaktion darauf erschien am 1.10.2015 im Auftrag der AAA der âReport to the Executive Board â The Task Force on AAA Engagement on Israel-Palestineâ[2]. Der Bericht entstand auf Grundlage von 120 Interviews[3], davon wurden in Israel und dem Westjordanland 100 binnen 10 Tagen im Mai 2015 aufgenommen.
Der Bericht enthĂ€lt keine wissenschaftlichen Standards entsprechende konfliktethnologische Ursachenanalyse. Er stellt die israelische Politik als einziges Hindernis akademischer Freiheit im Westjordanland und Gaza dar, EinschrĂ€nkungen des israelischen und palĂ€stinensischen UniversitĂ€tsbetriebes durch den Terror von Hamas, Fatah und PFLP bleiben unberĂŒcksichtigt. Der Antisemitismus von Fatah, Hamas und PFLP, den gröĂten organisierten Gruppen, wird nicht als Konfliktursache erwĂ€hnt. Polizeiliche Restriktionen infolge des alltĂ€glichen Terrorismus erscheinen als böse Absicht eines israelischen âsettler-colonialismâ. Die Funktion Israels als jĂŒdischer Staat beinhaltet jedoch nicht die zwangslĂ€ufige Diskriminierung anderer NationalitĂ€ten im Inland, sondern im Gegensatz dazu die Verpflichtung zur Integration von JĂŒdinnen und Juden jedweder NationalitĂ€t, und damit eine ĂŒber andere Nationalstaaten hinausgehende Offenheit. Die Bewegung zur Schaffung einer jĂŒdischen Heimstatt, der Zionismus, ist Reaktion auf zwei Jahrtausende der Diskriminierung und Pogrome. Sie kann keiner ernsthaften konfliktethnologischen Analyse sinnhaft mit dem Kolonialrassismus (Apartheid, Siedlerkolonialismus) gleichgesetzt werden, wie das der Task-Force Bericht der AAA zugrundelegt.
Die Quellenauswahl ist stark gefĂ€rbt und berĂŒcksichtigt weder wissenschaftliche Standardwerke zum Konflikt noch die Position der israelischen Konfliktpartei. An drei Stellen wird die israelische Politik mit den Methoden der Nationalsozialisten gleichgesetzt.[4] Es wird zudem fĂ€lschlich unterstellt, das palĂ€stinensische Territorium sei um â90%â gesunken.[5] Es fehlt schlussendlich eine Einordnung der VerhĂ€ltnismĂ€Ăigkeit eines Boykotts akademischer Institutionen. Sobald dieses Mittel etabliert wird, ist jede Forschung einer erfolgreichen kollektivierenden Boykottkampagne ausgesetzt (z.B. als Mittel gegen Diktaturen, der land-grab, die GefĂ€ngniskultur in den USA, die FlĂŒchtlingspolitik der EU, den Raubbau im Trikont). Der Fokus auf den ohne eigenes Risiko auszugrenzenden Kleinstaat Israel dient zur Projektion von gröĂeren Problemen unter anderem in den USA und Europa.
Als Reaktion auf den Bericht hat am 20.11.2015 eine Versammlung der AAA einen Boykott israelischer akademischer Institutionen mit einer Stimmenmehrheit von 1040-136 gefordert. Die Resolution wurde in einer Urwahl bis zum am 31.5.2016 knapp abgelehnt mit 2,423 zu 2,384 Stimmen. Die FĂŒhrung der AAA hat dennoch eine Reihe von MaĂnahmen eingeleitet, die im Sinne der Resolution von der israelischen Politik unverhĂ€ltnismĂ€Ăige MaĂnahmen (etwa den Abbau von Checkpoints und SicherheitsmaĂnahmen) fordern.[6]
Die DGV hat eine dreifache Verantwortung, sich öffentlich gegen jeden Ruf nach einem Boykott Israels auszusprechen. Sie ist erstens an der Wahrung wissenschaftlicher Standards interessiert, die durch die kritiklose Annahme des Task-Force-Berichts durch die AAA verletzt wurden. Sie ist zweitens aus grundlegenden ethischen GrĂŒnden zur SolidaritĂ€t mit dem jĂŒdischen Staat gegen eine genozidale Bedrohung durch islamistische Bewegungen verpflichtet. Sie steht drittens als deutsche Ethnologie in besonderer Verantwortung, gegen aktuelle und kĂŒnftige Bedrohungen des jĂŒdischen Staates durch den modernisierten Antisemitismus Stellung zu beziehen.
[1] https://anthroboycott.wordpress.com/signatories/.
[2] Perez, Ramona/Besnier, Niko/Clarkin, Patrick et alii 2015: Report to the Executive Board. The Task-Force on AAA-Engagement on Israel-Palestine. Via: http://s3.amazonaws.com/rdcms-aaa/files/production/public/FileDownloads/151001-AAA-Task-Force-Israel-Palestine.pdf.
[3] Task-Force-Report: 5.
[4] âcreating a system of oppression with echoes of the very system they had managed to escape.â Task-Force-Report: 71.
âIsraelis have their own powerful claims to victimhood and the irony of a situation in which they have recreated some of the same forms of victimization to which they were subjected.â Task-Force-Report: 15.
âConcentration Campâ. Task-Force-Report: 18.
[5] âPalĂ€stinian Territory has shrunk by about 90%.â Task-Force-Report: 15.
[6] S. Waterston, Alisse 24.6.2016: http://www.americananthro.org/ParticipateAndAdvocate/AdvocacyDetail.aspx?ItemNumber=20835&navItemNumber=592-
Grenzarbeit – Zur Verteidigung einer antideutschen Linken gegen die Querfront. Script
Querfront im Wasserglas
Am 17. August 2017 wurden von einem djihadistischen AttentÀter in Barcelona 15 Menschen ermordet und 118 verletzt. Bei der Flucht tötete die Terrorzelle eine weitere Frau und verletze sieben Menschen.
Einen Tag spĂ€ter demonstrierten in Las Ramblas, Barcelona, AnhĂ€nger der rechtsextremen Partei „Democracia nacional“ (die unter anderem mit dem Schlagwort „Schwulenlobby“ gegen Homosexuelle hetzt), offen als solche erkennbare Neonazis, Faschisten der „La Falange“ und IdentitĂ€re gegen die „Islamisierung Europas“. Filme von vorherigen Aktionen und Demonstrationen (1, 2, 3) belegen, dass es sich hier nicht um eine spontane Unmutsbekundung handelte, sondern um eine gut organisierte Klientel, die den deutschen „autonomen Nationalisten“ und den „Hooligans gegen Salafismus“ entspricht und gern den faschistischen GruĂ mit beiden Armen praktiziert.
Eine groĂe Anzahl Gegendemonstranten, die sich unter dem Motto „Kein Terror, keine Islamphobie“ versammelt hatten, erkannte in dieser Gruppe die zugrundeliegende Gesinnung und blockierte deren Demonstration.
Am 18.8.2017 kommentierte eine Internetnutzerin aus Norddeutschland die Gegendemonstrationen:
„Die antifaschistische Zivilgesellschaft Barcelonas lĂ€sst keinen Zweifel daran, dass sie die Mörder von La Rambla nicht nur nicht als Hauptfeind, sondern als BĂŒndnispartner gegen Rechts betrachtet. Mir ist nicht sehr wohl bei dem Gedanken, dass dieses Katalonien demnĂ€chst ein neuer (postnationaler Un-)Staat in Europa werden könnte.“
Dazu schreibt Tjark Kunstreich:
„Wie Joel Naber schon in einem anderen Thread zum gleichen Thema sagte: Wo ist die Barbarei je ohne Querfront besiegt worden – sowohl die RĂ©sistance als auch die Alliierten waren der politischen Logik der Linken zur Folge nichts anderes. Ich habe die Schnauze so voll von diesen indentitĂ€ren Linken, die wissen, wo es lang geht, aber sich die Finger keinesfalls schmutzig machen wollen. Sie haben nicht begriffen, worum es geht.“
Der Beitrag wurde unter anderem geliked von Dieter Sturm und Joel Naber, beide keine Unbekannten in der sogenannten Szene.
Kunstreich verdrĂ€ngt zunĂ€chst die Geschichte des Begriffes Querfront. Das, was Querfront genannt wurde, ging historisch eher von der Rechten aus, die versuchte, die Ă€rmeren Bevölkerungsschichten mit der Imagination einer Revolution zu ködern. Politisch real wurde die Querfront zuerst als BĂŒndnis von nationalistischen Sozialisten mit rechten Antisemiten. Diese Querfront wurde unter dem Namen „Nationalsozialisten“ erfolgreich. Zur Erinnerung: Die „linken“ Elemente in der NSDAP um Röhm wurden mit dem „Röhm-Putsch“ eliminiert.
Querfront als faschistische Revolutionsmystik ist fĂŒr den Nazismus ĂŒberhaupt nichts auĂergewöhnliches, sondern die Regel – ansonsten wĂ€re er Konservativismus ohne jeden revolutionĂ€ren Gestus. Daher entstehen seit einigen Jahrzehnten Autonome Nationalisten, die Habitus und Parolen der Linksautonomen kopieren. Man sollte also gegen Kunstreich einwenden: Was an der Idee Querfront ist nicht dieser „Barbarei“, wie man den NS heute so gern verniedlichend nennt, verpflichtet? Wann gab es je eine Querfront GEGEN den Nationalsozialismus, der DIE Querfront schlechthin war?
Dass Kunstreich die demonstrierenden Nazis ausgerechnet mit Alliierten und der Resistance in eins setzt (das Gleiche aber den „Linken“ unterstellt), zeugt von einem BedĂŒrfnis nach Verharmlosung. Er suggeriert nicht nur einen Notstand, in dem der Rechtsstaat nicht mehr funktioniere und keine andere Wahl mehr bleibe als ausgerechnet das BĂŒndnis mit Nazis, um Schlimmeres abzuwehren. Er tĂ€uscht auch vor, und das ist vielleicht noch schlimmer, dass das verbale BĂŒndnis einer bedeutungslosen Gruppe von Internetkonsumenten mit diesem flaggenschwenkenden GrĂŒppchen Nazis tatsĂ€chlich irgend wirksam gegen den Islamismus wĂŒrde.
Aus der realen Geschichte, auf die er sich beruft, wird Kitsch. Mussten sich linke Antifaschisten historisch tatsĂ€chlich in KriegszustĂ€nden mit konservativen und monarchistischen KrĂ€ften verbĂŒnden, wie in Italien, so geschah dies in einem Krieg gegen das gröĂere Ăbel, den deutschen Faschismus. Wer sich hingegen mit Faschisten verbĂŒndete, hat den Faschismus gefördert, nicht den Kampf dagegen. Wer glaubt, sich gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ oder gegen Terrorattentate mit IdentitĂ€ren und Nazis gemein machen zu mĂŒssen, ist schon bereit dazu, alle Freiheit aufzugeben, die Djihadisten angreifen.
Dass Terrorismus und Gewalt auch Kunstreich nicht fremd sind, bezeugt sein Lamento ĂŒber Linke, die sich „die HĂ€nde nicht schmutzig machen wollen“. Seine neu erwĂ€hlten BĂŒndnispartnerInnen von der Democrazia nacional und Konsorten wissen, wie man sich die HĂ€nde schmutzig macht: Mit faschistischen GrĂŒĂen, Maschinengewehren auf den T-Shirts, der ganz praktischen Verfolgung von Homosexuellen und FlĂŒchtlingen. All das wird den Islamismus in Pakistan, Bangladesch, Indonesien, Irak, Syrien, Saudi-Arabien, Iran, Mali oder dem Maghreb in keinster Weise eindĂ€mmen. Der ins Riesenhafte projizierte Notstand („worum es geht“) ist nicht Ursache einer gefĂ€lschten Wahrnehmung, sondern Konsequenz der Verlockung, die der vom Notstand angeblich erzwungene „Schmutz“, also das BĂŒndnis mit der gewalttĂ€tigen AutoritĂ€t, ausĂŒbt. Nicht Angst, sondern Lust liegt solchen ĂuĂerungen zugrunde.
FuĂnote zu Thomas Maul
Die wesentlichen Argumente zu Mauls AFD-Like wurden hinreichend in diesem Link vorgelegt:
https://www.facebook.com/notes/stura-uni-leipzig/stellungnahme-zu-thomas-maul/1651586791557837/
Die Reaktion Mauls darauf ist ausschlieĂlich Polemik. Unter anderem wehrt er die Akteure „Die Falken“ und „Naturfreunde“ als „langweilig“ und „öde“ ab.
Dem Vorwurf der Langeweile misstrauisch zu begegnen, sollte erste Ăbung in Kritischer Theorie sein, die den Antiintellektualismus in solchem Klamauk im Dienste der Abwehr von Kritik erkennt. Nicht zur Gleichsetzung, sondern zur freundlichen Ermahnung daran, in welche Gesellschaft sich solcher blökende, instrumentelle Spott ĂŒber die Langeweile begibt, dieses Zitat:
Auch wenn groĂe Teile der Gegnerschaft zu Maul sich tatsĂ€chlich an seiner islamkritischen Position stören, reduzieren seine „solidarischen“ Verteidiger Kritik an ihm darauf. Gegnerschaft hat Maul aber diesmal nicht erfahren, weil er den Koran richtigerweise als Grundlage einer Kritik des Islam nahm, oder weil er einmal die unbedingte SolidaritĂ€t mit Israel forderte. Gegnerschaft hat er von Gruppen und Personen erfahren, denen sowohl Islamkritik als auch SolidaritĂ€t mit Israel gewiss keine Fremdworte sind, weshalb er eingeladen wurde. Die Solidarisierung mit der AFD hatte eine Vorgeschichte, die an anderer Stelle diskutiert wird. Wer Thomas Maul (oder auch Justus WertmĂŒller, Clemens Nachtmann, Magnus Klaue, Sören PĂŒnjer, Felix Perrefort) 2018 noch einlĂ€dt und sich ĂŒberrascht gibt ĂŒber AFD-positive ĂuĂerungen vor dem Vortrag, dem kann man zumindest NaivitĂ€t oder Lesefaulheit vorwerfen. Nichts, was Maul zur AFD von sich gab, steht in Widerspruch zu den Ausgaben der Zeitschrift „Bahamas“ der letzten Jahre. Als spezifischen „Absturz“ – es war eher eine sanfte Landung nach langem Sinkflug am angekĂŒndigten Ziel – gab Thomas Maul allerdings dies von sich:
Was immer man von dem Begriff „barbarische Regression“ halten mag: hier spricht zunĂ€chst das KapitalverhĂ€ltnis aus Maul. Die „Karriere“ von Individuen wird als höherer Wert gesetzt als das dazu „in VerhĂ€ltnis“ niedriger erachtete BedĂŒrfnis, ĂŒber Ăbergriffe zu sprechen. Vermutlich war es eben die gleiche ökonomische AbwĂ€gung Roches, den Vorfall so lange nicht zur Anzeige zu bringen. Sie stufte es als unangenehme Bagatelle ein und sagt das auch so. Suspendiert wurde Gebhard Henke aber nicht aufgrund ihres Berichtes alleine, sondern weil sechs Frauen etwas Ăhnliches berichteten. Nun kann man darin eine Verschwörung vermuten – dafĂŒr sollte man dann aber als zivilisierter Autor auch ein paar Argumente und Hinweise haben. Es gehört aber unabhĂ€ngig davon einiges an Wahn dazu, anzunehmen, dass im Umgang mit Henke „barbarische Regression“ stattfĂ€nde. Vielmehr zeugen die Reaktionen von relativ routinierten, kĂŒhlen institutionalisierten Prozessen, wie sie gerade Kennzeichen von demokratischen Institutionen sind. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Freundinnen und Freunde von Henke solidarisierten sich öffentlich mit ihm und gaben unter dem Vorzeichen eines letzten Zweifels ihre eigene Menschenkenntnis zur Person zu Protokoll – was allseits abgedruckt und erwĂ€hnt wurde. Der Vorsitzende war weit davon entfernt, sich nur dem Druck barbarischer Horden zu unterwerfen.
„WDR-Fernsehdirektor JoÌrg SchoÌnenborn zeigte sich gegenĂŒber dem Spiegel „ĂŒberrascht“ von den Anschuldigungen. Er arbeite seit Jahren „sehr eng und vertrauensvoll“ mit Gebhard Henke zusammen. Eine Entlastung von den VorwuÌrfen schlieĂe er nicht aus, allerdings halte er die Schilderungen der Frauen fuÌr „gravierend und glaubwuÌrdig“.“ (Zeit)
Soviel zur Zivilisation und VerhĂ€ltnismĂ€Ăigkeit. Was aber zu Maul? Ist sein Verhalten „verhĂ€ltnismĂ€Ăig“? Er will Roche, weil sie ihr demokratisches Recht auf Redefreiheit genutzt hat, „auf der Anklagebank“ sehen. Nehmen wir an, Roche und die anderen fĂŒnf Frauen sind tatsĂ€chlich sexuell belĂ€stigt worden, wogegen Maul keine Indizien oder Argumente vorlegt. WĂ€re es „verhĂ€ltnismĂ€Ăig“, sie dafĂŒr vor Gericht zu bringen? Ist es zivilisatorisch, wenn Frauen, die ĂŒber ihre Erfahrungen mit sexueller BelĂ€stigung sprechen, dafĂŒr auf die „Anklagebank“ wandern, weil „Ruf und Karriere“ eines Mannes geschĂ€digt wurden – mutmaĂlich von diesem selbst?
Das ist nicht zivilisatorisch, sondern genau das, was Maul in einem seiner besseren BĂŒcher als schariatisches Prinzip kritisiert: Solange der öffentliche Schein eines frommen Kollektivs gewahrt ist, sind die tatsĂ€chlichen Vergehen egal.
Zur Publikation seiner Phantasie von sechs Frauen auf der Anklagebank auf Facebook gehörte ein Gutteil Berechnung auf die „Regression“ seines Publikums. Hier geht es nicht mehr darum, in einem zweifelhaften Fall das Prinzip „in dubio pro reo“ zu verteidigen oder den RĂŒckfall von linker Szenejustiz und ihrem mackerhaften, weil löchrigen Versprechens des Opferschutzes hinter bĂŒrgerliche, leider in Sachen Sexualstrafrecht ebenso „löchrige“, Justiz zu kritisieren. Hier geht es Maul darum, Menschen, die aller Wahrscheinlichkeit nach wirklich sexuelle BelĂ€stigung im wirklich klassischen Sinne (Anfummeln in öffentlichen Situationen unter Ausnutzung der eigenen Machtsituation) erfahren haben, virtuell „auf die Anklagebank“ zu bringen. Und das ist nicht die Verteidigung bĂŒrgerlichen Rechts, das ist Abstellen auf autoritĂ€re StrafgelĂŒste des Mobs. In der Terminologie Mauls: „barbarische Regression“.