Rassemutter und Rebellin – Hexenbilder in Romantik, völkischer Bewegung, Neuheidentum und Feminismus. Felix Wiedemann, 2007. Würzburg: Königshausen & Neumann. 465 Seiten, 58 €.
Die Hexenverfolgungen der europäischen Frühmoderne wurden von ProtagonistInnen aus den verschiedensten Spektren vereinnahmt. Felix Wiedemann unternimmt in seiner überarbeiteten Dissertationsschrift den Versuch, die Bedeutung des Hexenthemas für die Ideologienbildung in der völkischen, esoterischen und der feministischen Szene zu klären.
Das voluminöse Werk weiß vor allem durch eine Fülle und Vielfalt von Literaturangaben, Verweisen und Topoi zu überzeugen. Kaum ein Vertreter oder eine Vertreterin der völkischen Szene, der Esoterik oder des Ökofeminismus bleibt unerwähnt. So liest sich das Buch zugleich als überaus dichte Einführung in Geschichte und Ideologeme der überwiegend deutschen Ideologie seit dem 19. Jahrhundert und der postnazistischen esoterischen Strömungen. Zwischen den Zeilen wird dezent Wiedemanns antifaschistische Grundeinstellung deutlich, die zudem auf einer für den deutschsprachigen Raum noch seltenen Konzentration auf den nahezu allen Bewegungen inhärenten Antisemitismus aufruht.
Ausgangspunkt der Betrachtungen Wiedemanns ist eine Trennung von rationalistischen und romantischen Hexereidiskursen. Die rationalistischen Diskurse versuchen nach Wiedemann, über die Ablehnung der Hexenjagden als Aberglaube ihre eigene Position als rationale aufzuwerten. In diese Kategorie fallen Deutungsmuster, die in den Verfolgten Angehörige eines aufgewerteten Kollektivs sehen und die Hexenjagden als Einbruch christlichen Aberglaubens in ein vermeintlich aufgeklärtes oder mit Spiritualität versöhntes Heidentum. Der Kern des als Fremdkörper entworfenen „christlichen Aberglaubens“ wird bei den völkischen rationalistischen Diskursen, jedoch gerade auch in neueren feministischen Verlautbarungen zumeist auf das Judentum zurückgeführt, wie Wiedemann in zahlreichen Beispielen nachweist. Dieser in morbider Monotonie durch die jüngere Geschichte anzutreffende Rückschluss vom Topos des christlichen Aberglaubens und der christlichen Fremdherrschaft auf das antisemitische Ressentiment ist einer von Wiedemanns zentralen Befunden, auf den er immer wieder verweist.
Leider vermeidet Wiedemann eine eindeutige und nachvollziehbare Differenzierung von rationalistischen Stimmen, die sich in integrer Absicht gegen zeitgenössischen Okkultismus und Hexereivorstellungen wandten und jenem eindeutig instrumentalisierenden und projizierenden völkischen Millieu, das er als rationalistisch kategorisiert. Er insistiert daher zuweilen etwas vorschnell auf einer grundlegenden Anfälligkeit der gegen das Christentum und gegen Hexenjagden gerichteten aufklärerischen Positionen für den Antisemitismus und den Umschlag ins Völkische.
Romantische Ideologeme integrieren die von Wiedemann als „rationalistisch“ umschriebenen Positionen zuweilen in ihrer antichristlichen Volte. Vorherrschend ist jedoch die Phantasie über eine reale Hexengemeinschaft, die als Hüter eines spirituellen, esoterischen Geheimwissens, oder im Falle völkischer Interpretationen auch als Vertreter einer eigenen, höherwertigen Rasse fungiert.
Beide Diskurse sind frei kombinierbar, ein Topos, den Wiedemann in einer Fülle von Zitaten nachweist, wenngleich er die Dialektik dieses Verhältnisses nur in Ansätzen erörtert. Klar wird jedoch anhand der zahlreichen Unterkapitel, die sich mit den verschiedenen Einzelpersonen befassen, dass einige wenige Autorinnen und Autoren durchgängig als Referenzen für die daraus gesponnene Hexenmythologie gelten können:
1. Jacob Grimm konstruiert in seinem Werk „Deutsche Mythologie“ die Figur der Hexe aus vorgeblichen germanischen Mythologemen als weibliche Mittlerin und Ritualfrau.
2. Johann Jakob Bachofen, ein konservativer Evolutionist, konstatierte ein ursprüngliches Matriarchat, das durch eine schöpferische Phase des Patriarchats abgelöst worden sei. Diese Teleologie wird zunächst für antifeministische völkische Stimmen interessant, weil sie das europäische Patriarchat einem matriarchalisch geprägten Orient gegenüberstellt und so für antisemitische nationalsozialistische und völkische Männerbundideolgien anschlussfähig ist. Später dient Bachofens Matriarchatstheorie, wie Wiedemann herausstellt, den ÖkofeministInnen als eskapistische Hilfskonstruktion zur Überwindung einer als übermächtig und ewig empfundenen patriarchalen Gesellschaftsform.
3. Jules Michelet, laut Wiedemann ein Vertreter des französischen, romantischen Liberalismus, wird zum Erfinder des „Hebammenmythos“. Die natur- und sexualfeindliche Kirche habe Hebammen und Heilkundige verfolgt, und mit ihnen heidnische Bräuche der Naturverehrung auszurotten gesucht. Der Hebammenmythos avancierte zu einem der am weitesten verbreiteten gesellschaftlichen Irrtümer.
4. Carl Gustav Jung lieferte mit den Begriffen vom kollektiven Unbewussten und dem Archetypenmodell einem Heer von PsychologInnen, ÖkofeministInnen und VertreterInnen der Esoterik das Rüstzeug zur Vereinnahmung der Hexenverfolgungen. Von zentraler Bedeutung sind dafür laut Wiedemann die von Jung unter Rekurs auf das Hexenbild entworfenen Archetypen der „Anima“ und der „Großen Mutter“.
6. Margaret Murray wollte als Historikerin reale Fruchtbarkeitskulte entdeckt haben, die in ländlichen Gebieten besonders lange fortbestanden hätten und dort Grundlage für Feen- und Zwergenmythen gewesen seien. Die Hexenverfolgungen hätten sich gegen solche rituelle Gruppen gerichtet. Murrays Thesen boten mit Gerald Gardner den Grundstein für die Wicca-Bewegung.
7. Mircea Eliade erweiterte als Religionswissenschaftler den Schamanismusbegriff und brachte Ekstasetechniken mit den Hexenzirkeln zugeschriebenen Ritualen in Verbindung.
8. James Georg Frazer sah in Fruchtbarkeitskulten ein zentrales und verallgemeinerbare Moment von ritueller Praxis der vormodernen Gesellschaften.
Aus Versatzstücken dieser zumeist selbst schon hochgradig ideologisch aufgeladenen Quellen speisen sich die meisten von Wiedemann analysierten Versuche, die Vereinnahmung der Hexenjagden mit wissenschaftlichem Anstrich zu versehen. So konnten die eklektizistischen und eskapistischen Rückprojektionen als alternative Geschichtsschreibung kursieren.
Besonders frappant ist die anscheinend willkürliche Phantasieproduktion bei solchen Gegengeschichten im Bereich des Ökofeminismus der 1970-er bis heute. Mehrfach zitiert Wiedemann Beispiele selbst rennomierter Feministinnen wie Alice Schwarzer, die sich ungehemmt selbst als nachträgliche Opfer der Hexenverfolgungen präsentieren und eine ungebrochene Traditionslinie von der Folter in den Hexenprozessen zu der frauenfeindlichen Rechtssprechung der Moderne ziehen. Besonderen Rang hat dabei die Opferkonkurrenz zu den Opfern der Shoah. Im Zuge dessen wird der im 18. Jahrhundert von Gottfried Christian Voigt geschaffene Mythos von den 9 Millionen Opfern der Hexenjagden bedeutsam. Diese Zahl wurde von vielen FeministInnen verwendet, um sich als historisch bedeutsamste Opfergruppe zu gerieren. Besonders zynisch wird bei nicht wenigen von Wiedemann zitierten Autorinnen die Verantwortung sowohl für die Hexenjagden als teilweise auch für die Shoah selbst einem „jüdischen, jahwistisch-patriarchalen“ Prinzip zugesprochen. Darin sieht Wiedemann wesentliche Übereinstimmungen von ökofeministischen und völkischen Modellen. Die antisemitische Vorstellung vom jüdischen Gottesmord entspreche im spirituellen Feminismus der Vorstellung vom jüdischen „Göttinenmord“. Die Faszination für die angebliche rituelle Praxis der als Hexen Verfolgten sei ferner Ausdruck für die in der gesamten alternativen Linken bemerkbare Verschiebung von gesellschaftspolitischem Engagement hin zur authentischen Erfahrung. Wiedemann stellt ferner sehr überzeugend die antifeministischen und sehr konservativen Rollenzuschreibungen heraus, die in den vermeintlich feministischen Phantasien vermittelt werden, die auf die Hexe als Vertreterin von Weiblichkeit und Spiritualität rekurrieren.
Die neopaganistischen Kulte schließlich reihen sich in diese Identifizierung mit den Hexen als Opferkollektiv ein, um ihre eigene Identität aufzuwerten. Wiedemann äußert eine starke Skepsis gegenüber jüngsten Abgrenzungsversuche gegen völkische Ideologien in der neuheidnischen Szene, etwa aus dem „Rabenclan“. Er unterstellt diesen Tendenzen, dass die Ausschlussformeln gegen Rassismus, Sexismus und Antisemitismus nur äußerliche Lehrsätze seien, die wie in der Linken noch lange nicht jene Codes und subtilen Ideologeme beseitigt, die zentrale Träger völkischer Ideologien waren und sind.
Es ist gerade auch diese Skepsis, die Wiedemanns Werk zu einer hervorragenden und profunden Quelle macht, an der wohl kaum jemand, der oder die sich mit der Hexenforschung befasst, vorübergehen kann. Gerade der Verweis auf den in nicht geringe Teile der Hexenforschung eingedrungene Verbund von Antisemitismus und stereotyper wie simplifizierter Gegnerschaft zur Hexenverfolgung stellt einen unüberhörbaren Ruf nach einer gründlichen Reflexion über mitgeschlepptes Halbwissen und grobe Spinnereien in der wissenschaftlichen Hexenforschung dar.
Was Wiedemann allerdings völlig außer Acht lässt, ist der Verweis auf die Bedeutung moderner Hexenjagden etwa für neopaganistische Gruppierungen. Ebenso fehlt jede Erwähnung von Entsprechungen von Hexereivorstellungen und Antisemitismus. Bisweilen lässt sich ein überhasteter Eklektizismus vermelden, der die Beziehung oder auch Nichtbeziehung zwischen vorgestellter Person und Hexenthema nicht überzeugend genug ausleuchtet.
Ungeachtet dessen ist das Buch ein kaum zu überschätzender Meilenstein in der Aufarbeitung des Fortbestehens völkischer und antisemitischer Mythologiebildung am Hexenthema in der postnazistischen Gesellschaft.