Der Putsch in der Türkei nährt autoritäre Sehnsüchte. Zunächst identifizierten sich viele mit den Putschisten, allein aufgrund des Schlagwortes „säkular“. Wer die bleierne Zeit eines säkularen Regimes in der Türkei als Spätgeborener noch einmal erahnen möchte, dem sei der türkische Film „Yol“ empfohlen. Die Militärdiktatur von 1980 begründete das Bündnis mit Konservativismus und Islam, um die Linken zu zerschlagen und den Gebrauch der kurdischen Sprache zu verbieten. Alternativ genügt ein Blick auf das Verhältnis des Westens zu solchen „säkularen Diktaturen“. Während viele europäischen Staaten Monarchien bleiben und vom Säkularismus allenfalls noch die Gewaltenteilung, nicht aber die Trennung von Staat und Kirche übernahmen, rennt man außerhalb Europas noch jedem faschistischen Regime hinterher, das „Säkularismus“ gegen den „Terrorismus“ verspricht. So hat man dem folternden Evren-Regime Militärhilfen geleistet, so war es in Ägypten, so war es in Libyen, wo viele Konservative und Linke noch immer Gaddafi hinterhertrauern, und so ist es in Syrien, wo man dem „säkularen“ Assad ethnische Säuberungen und genozidale Strategien durchgehen lässt.
Nichts verhält am Wort „Säkularismus“ noch zur Glaubwürdigkeit, nichts darin ist ein Versprechen, solange der realexistierende, inkonsequent säkulare Staat nur durch sein Anderes, den Djihadismus, definiert ist, gegen den er dann das „Bessere“ noch sei. Ohne den Djihadismus müsste man sich die Misere der Säkularisierung eingestehen, so aber kann man von Sehnsuchtsorten, von Schnapsbuden schwärmen, die es wenigstens „noch gibt“ – Nostalgie, die nicht für ein Besseres kämpft, sondern sich das Hier und Jetzt am Schlimmeren schönredet. Das ist eine gute deutsche Tradition, die aus dem absoluten Grauen den ultimativen Stabilisator des realexistierenden Systems formte. Besser Hindenburg als Hitler, besser Hitler als Chaos, besser die Sowjets als ein Atomkrieg, besser Saddam Hussein als Djihadismus, besser die Sowjets als die Taliban, besser eine Militärdiktatur in Ägypen als eine demokratisch legitimierte islamistische Regierung, besser die Ordnung der Diktatur als ein Flächenbrand. So geht es bei jedwedem Konflikt. Der bürgerliche Egoismus dahinter verschleiert seinen Wunsch, hauptsache selbst keinen „aufen Dez“ zu kriegen, als weise Voraussicht und Reifeschritt. Mit historischer Analyse hat das wenig gemein.
Die Paradoxie, dass ausgerechnet in der autoritärsten Institution eines Staates, seinem Militär, eine Opposition entstehen solle, führt dazu, dass Putsche stets nur dort erfolgreich sein konnten, wo sie als bewaffneter Arm eines demokratischen Willens agieren konnten und stets dann in faschistoide Gewalt umschlagen müssen, wenn sie gegen die Majorität Politik machen. J.J. Rawlings etwa gilt in Ghana immer noch als Volksheld, weil er ein durch und durch korruptes Regime zweimal wegputschte und letztlich doch der heutigen Demokratie in Ghana halbwegs friedlich den Weg bereitete. Scheiternde Putsche im Namen einer real bedrohten Minderheit lösen häufig besonders brutale Gegenreaktionen aus. Mehr aber lässt sich an Struktur aus dem Putsch als Form nicht ableiten. Putsche sind wie alle Geschichte Spezifik, die zu studieren man sich nicht durch „News“ ersparen kann.
Der bedeutendste scheiternde Putsch ist vielleicht der indonesische. Dilettantisch organisiert und vom eigentlich umworbenen Sukarno fallen gelassen weckte die brutale, genozidale Gegenreaktion Suhartos den Mythos von einer false-flag-Aktion. Suharto selbst hätte den Putsch organisiert, um sich an die Macht zu bringen. Lesenswert dazu ist die Untersuchung von John Roosa: „Pretext for Mass-Murder“. Die Parallelen zum türkischen Putsch sind frappierend. Kaum ist in der Türkei der Putsch als gescheitert bezeichnet, kaum ziehen Erdogans marodierende Banden auf, werden Richter entlassen und die Todesstrafe gefordert, sprechen jene, die Stunden vorher ihr vollstes Vertrauen in die Authentizität der Putschenden setzten, auf einmal von einer false-flag-Operation Erdogans. Eine Analyse von stratfor.com erklärt den Dilettantismus aus der anstehenden Pensionierung von Hauptakteuren. Dabei hätte ein erfolgreicher Putsch zwangsläufig den bisherigen Autoritarismus Erdogans in den Schatten gestellt: die längst nicht mehr mehrheitlich säkulare Armee von AKP-Soldaten zu säubern, Proteste der islamischen und demokratischen Opposition zu zerschlagen, islamische Richter entlassen, die Todesstrafe durchsetzen, all das konnte kein besseres Ende nehmen als eine Friedhofsruhe, in der dem Islamismus wieder einmal die honorige Rolle der demokratischen Opposition zufällt. Einem Regime aber, das mit eiserner Faust die türkische Gesellschaft neu ordnet, hätten sich zuallererst Russland, China und Syrien, sehr bald auch Iran angedient.
Eine alternative, wohlmeinendere Erklärung wäre, dass die letzten säkularen Kräfte in der Armee noch einmal versuchen wollten, wenigstens eine symbolische Drohung gegen den islamischen Staat am Bosporus zu formulieren, Erdogan mit der Bombardierung des Palastes den Schrecken noch einmal einzujagen, den er verbreitet. Dass sie wussten, dass sie gegen die jedem bewusste Stärke Erdogans verlieren würden, dass sie also gar keinen durchgearbeiteten kalt kalkulierten Plan bis zur Herrschaft hatten und dennoch riskierten, aufgerieben zu werden, einfach aus demselben altmodischen Aberglaube der Aufklärung heraus, der auch auf Umwegen die Islamisten antreibt: die Gewissheit, dass es Schlimmeres gebe als den Tod. (edit: neuere Erkenntnisse sprechen für einen echten Putschversuch mit dem realen Ziel, Erdogan zu inhaftieren.)
Diesen Aberglaube hat der bürgerliche Egoismus gründlich überholt. Niemand mit Verstand und privater Rentenvorsorge stirbt mehr für Hirngespinste wie Freiheit oder Ideale. Dem Islamismus Erdogans, der wie der Viktorianismus die Einheit von Profitmaximierung und Kontrolle der unterdrückten Triebe verspricht, hat diese bürgerliche Ideologie wenig entgegen zu setzen. Der Westen könnte seine kritischen Quellen, bei weitem nicht nur Marx und Freud aktivieren, aber dies würde zwangsläufig in die depressive Position führen: Dass der Luxus und die Freiheit im Gegenwärtigen in einem Schuldzusammenhang aus historischer primitiver Akkumulation und aktueller Verlagerung von Ausbeutung an die Peripherie befindet. Nur unter Leugnung der absoluten aktuell und künftig produzierten Unfreiheit lässt sich die Manie über die relative Freiheit im Hier und Jetzt aufrecht erhalten.
Aufklärung ist totalitär. Sie lässt sich nicht als halbe Wahrheit gegen die halben Lügen der Ideologien verteidigen. Solange man auf dem kapitalistischen Gleis fährt, nur weil es bei uns so gut funktioniert mit der Gleichzeitigkeit von Kirche und High Tech, wird man Beifahrer wie den Islamismus haben, der genau das gleiche verspricht: Smartphones, Bosporusbrücken und Moscheen, in denen die Sharia gepredigt wird. Aber Kirchen sind doch immerhin besser als die Sharia, wird wieder der bürgerliche Egoismus einwenden, der ja heute nicht mehr auf dem Scheiterhaufen landen muss und auch die Masturbationsverhinderungsapparaturen im letzten Jahrhundert ablegte.
Kritische Theorie denkt solches „besser als“ jedoch im Verhältnis zu den Möglichkeiten. Das „notwendig falsche“ Bewusstsein ist ein anderes als das überkommene, böse gegen gesellschaftlich ermöglichtes Wissen und Vernunft gewordene Wahnsystem der ausgehöhlten religiösen Rituale, mit dem sich partout nicht mehr streiten lässt. Quantität erzeugt qualitative Sprünge.
Der Westen ist wegen seiner Möglichkeiten „schlimmer“ als Erdogan, wenn er diesen anheuert, um syrische Flüchtlinge mit aller Gewalt in Syrien oder wenigstens in der Türkei zu halten. Und trotz derselben Möglichkeiten, Gesellschaft zu verstehen, denkt man aus kalt kalkulierter Idiotie „koa Fünferl weit“, was aus dem zwangsläufig zu genozidaler Gewalt prolongierten syrischen Krieg wird, wenn man durch Nichtintervention seine Erweiterung auf die Türkei riskiert. Saving the penny, killing the refugee, denkt sich das bürgerlich egoistische Europa und schickt vorsichtig erst einmal die gleichen unglaubwürdigen Mahnungen zum Frieden in den Äther, mit denen es seit fünf Jahren den Opfern Assads „beisteht“. Europa hätte sich mit einer erfolgreichen Militärdiktatur in der Türkei aus eben den gleichen Gründen abgefunden wie es sich mit Erdogans ohnehin schon lange fortschreitender Islamisierung von Gesellschaft und Armee arrangierte, wie es mit der jeweils spezifischen Unfreiheit in der Krim, der Ost-Ukraine, Syrien, Iran, Nordnigeria, Turkmenistan, Weißrussland, Russland, und allen anderen der 47 offiziell nichtfreien Länder lebt. Die ideologische Obdachlosigkeit des Westens nährt den bärbeißigen Islamismus Erdogans ebenso wie jene autoritären Sehnsüchte nach einem stahlharten diktatorischen Säkularismus dort, wo man trotz aller Möglichkeiten nicht einmal in Deutschland die Abschaffung des Religionsunterrichts durchsetzen kann.
„There must be some kind of way out of here – said the joker to the thief.“
Edit: Die „False Flag“-Gerüchte gehen natürlich weiter. Hier eine vernünftigere Analyse der Fehlerursachen:
https://www.tagesschau.de/ausland/putsch-tuerkei-analyse-101.html