Syrische Luft

In einer Passage sympathisiert Adorno mit der politischen Paranoia: Erst die geschichtliche Realitätsprüfung entscheide, was Wahnsinn und was begründete Einsicht in den vorherrschenden Wahnsinn gewesen sei. „Cui Bono?“ fragen die politischen Skeptiker heute, und kommen offenbar zum Schluss, dass Rebellen Giftgas eingesetzt hätten gegen eigene Kämpfer und Zivilisten, um einen Militärschlag zu provozieren und damit den Nutzen der Aktion einzufahren. Solche Gedanken, so ehrlich muss man sein, wären gar nicht allzu abwegig. Erfahrungen mit solchen djihadistischen medialen Inszenierungen haben westliche Medien vor allem in Gaza und der Westbank sowie Libanon gemacht – natürlich ohne etwas daraus zu lernen.

Das „cui bono“ ist berechtig – und Unsinn zugleich. Wäre Assad sich sicher, dass die Rebellen Giftgas einsetzen, er würde eine sofortige Untersuchung selbst einfordern, um sich die Unterstützung des Westens zu sichern. Das wäre ein Lotteriegewinn für seine Herrschaft, den er sich nicht entgehen lassen könnte: Er als Garant der Sicherheit gegen Djihadisten mit Giftgas. Munitionsbehälter, Abschussstandorte und weitere Spezifikationen ließen selbst bei einer raffinierten Fälschung ziemlich eindeutige Ergebnisse zu.

Das Szenario einer Fälschung wäre aber entweder: Es gab gar kein Giftgas und man hat Kleinkinder und andere Protagonisten entweder vergiftet oder – dann müssten es begnadete Kinderschauspieler sein – in den Symptomen trainiert und dann einen einzigen Film ohne Schnitte und Fehler produziert sowie hunderte Personen zu falschen Zeugnissen überredet, was ein für Verschwörungen unmögliches Maß an Indiskretion provoziert. Oder es gab, wie das Ärzte vor Ort sagen, tatsächlich Giftgas, das man aufwändig erwarb, schmuggelte, nach Damaskus (und nicht etwa in eine der grenznahen Städte) schaffte – und dann haben die Djihadisten aus unerfindlichen Gründen das Drehbuch und eine gute Kamera vergessen, so dass nur kurze, vom propagandistischen Standpunkt aus dilletantische ungeschnittene Sequenzen mit Kleinkameras gedreht wurden.

Stünde man wirklich im Zweifel über die Urheberschaft oder die Art des Angriffs, so wäre die richtige Antwort ein scharfes Ultimatum an Assad: Sofortigen Zugang zu der Stätte, unverzügliche Untersuchung der Vorwürfe, öffentliche Analyse des Filmmaterials. Natürlich klangen die diplomatischen Worte unendlich weicher: Die Vorwürfe seien so entsetzlich, dass sie gut geprüft werden müssten, so Westerwelle. Der Adressat der diplomatischen Mahnung ist nicht Assad, sondern jene, die die „ungeheuerlichen“ Vorwürfe erheben. In dem Fall ein paar Ärzte und Augenzeugen vor Or, die ihr bestes taten, um Patienten zu versorgen, zu filmen und tote Tiere einzusammeln.

Dass Frankreich und die USA ebenfalls kein solches Ultimatum erheben, das ihnen die Legitimation verschaffen würde, zeigt, dass es ohnehin jeder weiß und dass man ganz gute Einblicke in das Geschehen vor Ort hat. Die Beweise für Giftgaseinsätze hatten Israel, Frankreich und Großbritannien das gesamte letzte halbe Jahr über gesammelt und vorgetragen. Man kann sich einigermaßen sicher sein, dass die israelischen Institutionen unter Geheimdienstarbeit nicht Donutessen und Internetüberwachung verstehen, wenn es um eventuell frei flottierende Chemiewaffen im Nachbarland geht. Und man darf sich sicher sein, dass sie nicht leichtfertig Assad der Option einer mit Chemiewaffen ausgerüsteten Al-Qaida-Front am Golan zähneknirschend vorziehen würden.

Es gibt deshalb eine andere Geschichte, die wahrscheinlicher klingt als die Verschwörungstheorie, die sich an der Frage aufhängt, warum Assad ausgerechnet jetzt Giftgas einsetzen sollte, wo UN-Inspektoren im Lande sind. Mehrfach hat Assad angedroht, Israel zur Strafe für jede westliche Intervention anzugreifen – und doch toleriert, dass die IDF sich um syrische Raketentransfers an die Hisbollah „kümmert“. Nun aber rücken Elitetruppen der FSA auf Damaskus vor, die unter anderem von Israel und den USA in Jordanien trainiert wurden. Gleichzeitig trudeln mit ein paar Monaten Verspätung doch noch UN-Kontrolleure ein, die sehr wahrscheinlich noch einmal bestätigen werden, dass Assads Truppen C-Waffen eingesetzt haben. Es wäre dann ohnehin alles verloren für Assad, also spielt er den „mad dog“. Nicht nur den obligatorischen Raketensturm der Hisbollah, sondern sogar einen Giftgasangriff auf Israel oder generell einen Gaskrieg droht er damit implizit an. Der dreiste Giftgaseinsatz gegen die Rebellen wäre in diesem Sinne ein makabres Telegramm an die westliche militärische Intelligenz, die er sowohl an seine C-Waffen-Arsenale als auch an seine eigene Skrupellosigkeit erinnert. Saddam Hussein hat eine ganz ähnliche Drohung mit C- und B-Waffen offen ausgesprochen und damit zumindest Israel von der Beteiligung im zweiten Golfkrieg abgehalten. Und Assads Vater erhielt sich wie Hussein durch Giftgas an der Macht. Gar nicht ausgemacht war und ist, ob eine internationale Reaktion erfolgt. Sudan etwa hat Giftgas gegen Nuba eingesetzt ohne je Konsequenzen zu tragen. Genauso wahrscheinlich ist, dass sich Truppenteile schon gar nicht mehr in der Kontrolle Assads befinden und Giftgas einsetzen aus situativem militärischen Kalkül.

Im Dezember 2012 ging übrigens eine Meldung durch die Presse, dass ein russisches Spezialkommando in einer konzertierten Militäraktion ein Chemiewaffenlager gesichert und evakuiert habe, das ins Zentrum eines Angriffs von Rebellen geriet. Man darf also begründete Zweifel haben, dass Rebellen überhaupt an gut bewachte und von Russland geschützte Chemiewaffen gelangen konnten. Möglich wäre lediglich ein Transfer von C-Munition aus irakischen oder postsowjetischen Altbeständen. Wieso diese dann nicht gegen Truppen des Regimes eingesetzt werden, wenn doch mehrfach Fronten der Rebellenfraktionen aufgerieben wurden, wieso also die Rebellen erst jetzt, ein halbes Jahr nach den ersten Meldungen einen solchen Angriff „vortäuschen“ sollten, solche Gedankenketten zu konstruieren bedarf einiger Kühnheit.

Wahrscheinlicher ist, dass man eigentlich genau weiß, dass dieses diplomatische Desaster mit seinen 100.000 Toten eine Menge Schuld und Fragen nach Verantwortung erzeugt hat. Das Festbeißen an den unwahrscheinlichsten Erklärungen, die Haarspaltereien, sollen darüber hinwegtäuschen, dass dieser Krieg, Chemiewaffen hin oder her, ein Ende haben muss, dass die Ära Assad ein Ende haben muss. Zum politischen Sachverstand gehört aber auch die Einsicht, dass die Elimination Assads den Krieg nicht beenden wird und dass dann erst recht eine bewaffnete Exekutive die Sekten auf Abstand halten muss. Vor dieser kostenintensiven „jugoslawischen“ Lösung – vom Gaskrieg ganz abgesehen – schreckten wohl vor allem die USA zurück, wo auch McCain weiß, dass Frankreich und England politisch vielleicht einen Monatskrieg aus der Luft durchstehen können, aber sicher nicht die gerade aus Afghanistan vor den Taliban geflohenen Truppen in einen neuen Dauerkrieg gegen den Djihadismus schicken werden. Dafür Obama die Schuld zu geben, ist eine Personalisierung der gesellschaftlich hegemonialen Ideologien über internationale Politik.

Schuld trifft unter anderem jene, die noch vor einem Jahr – mitunter in vorgeschützter Besorgnis um Israel, das es freilich damals schon besser wusste – Assad halten wollten, um neue Al-Qaida-Fronten und einen Bürgerkrieg zu verhindern. Solche politische Dummheit wird von keinem internationalen Tribunal geahndet werden.

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Siehe auch: „Vorsprung durch Identifizierung – Die Kaperfahrten des Sören P. unter Käptn Assad

Vorzugsbehandlung und Erpressung

Asylsuchende hatten das harmonistische Bayern schon vor einiger Zeit verstört, als sie ihre Münder zunähten. Wer den Stellenwert des Essens in dieser Region kennt, weiß, welche unbewussten Ängste und Aggressionen das auslösen muss. Das gemeinsame Mahl wird in der Psychoanalyse als eine der ältesten Institutionen zur Unterdrückung von Aggressionen bewertet. Dagegen zu verstoßen – zum Beispiel aufgrund anderer Speisegebote – fördert archaische Aggressionen zu Tage.

Die Empörung, mit der Hungerstreiks in Deutschland bedacht werden, verweist auf diese unbewusste Gemengelage. In Berlin und in Würzburg (Welt) gab es bereits Hungerstreiks von Flüchtlingen. Gestern wurde der Hungerstreik in München abgebrochen. Mit Fürsorglichkeit wird auf einmal nicht gegeizt:

„Dass eine schwangere Frau in den Hungerstreik geht und damit ihr Ungeborenes gefährdet, muss sofort beendet werden, hier sollten sich alle einig sein“, forderte Haderthauer. „Es ist keine schwangere Frau an dem Hungerstreik beteiligt“, erklärte anschließend einer der Unterstützer.“ (Welt)

„Ude ließ keinen Zweifel, dass der Krisenstab von Stadt und Staatsregierung Tote in München verhindern will: „Der absolute Vorrang gebührt dem Schutz von Leib und Leben“, sagte er.“ (taz)

Dabei wird verschwiegen, dass Ärzte nach der bindenden „Declaration of Tokio“ der „World Medical Association“ gar keine Zwangsernährung vornehmen dürfen. Dort heißt es in Artikel 6:

„Where a prisoner refuses nourishment and is considered by the physician as capable of forming an unimpaired and rational judgment concerning the consequences of such a voluntary refusal of nourishment, he or she shall not be fed artificially. The decision as to the capacity of the prisoner to form such a judgment should be confirmed by at least one other independent physician. The consequences of the refusal of nourishment shall be explained by the physician to the prisoner.“

Und in der Declaration of Malta on Hunger Strikers steht:

„Physicians need to satisfy themselves that food or treatment refusal is the individual’s voluntary choice. Hunger strikers should be protected from coercion. […] Physicians or other health care personnel may not apply undue pressure of any sort on the hunger striker to suspend the strike. Treatment or care of the hunger striker must not be conditional upon suspension of the hunger strike.“

Allemal verschoben wird die Aggression der Asylpolitik, die Flüchtlinge vom prall gefüllten gemeinsamen Tisch mit billigsten Essenspaketen und drakonischen Strafen auf Verletzung der Residenzpflicht wegdrängt. Wenn deutsche Behörden traumatisierte Flüchtlinge, die in Gefängnissen gefoltert wurden, hier wieder in trostlose Gefängnisse stecken, dann ist das angesichts des aktuellen Standes der Traumaforschung mehr als nachlässig, es ist der mehr oder weniger systematische Versuch, Menschen in Selbstmorde zu treiben oder, was offener artikuliert wird, mit aller Gewalt und unter Billigung der regelmäßigen Suizide wegzuekelen. Während in allen europäischen Staaten menschenleere Peripherien entstanden sind, beispielsweise aus Ostdeutschland umso mehr Leute wegziehen, je mehr man dort glaubt, dass das Boot voll sei, währenddessen sperren Deutsche Flüchtlinge in Baracken und belegen sie mit Berufsverbot und Gefängniskost. Diese Aggression wird zur Wohltätigkeit noch umgelogen in den deutschen Köpfen. Der absolute Vorrang gebührt in der mörderischen Flüchtlingspolitik gewiss nicht dem Schutz von Leib und Leben.

Altväterlich versuchen Mitverantwortliche für diese Situation, die Aktion zu psychiatrisieren und zu verniedlichen. „Ude und Herrmann äußerten starke Zweifel, ob sich alle von ihnen darüber klar gewesen seien und ob sie nicht instrumentalisiert worden seien.“ (Zeit)

Sehr klar war auch der SPD, wen und was sie instrumentalisierte mit ihrer Flüchtlingspolitik. Ausgerechnet die Achse des Guten schwadroniert aber von spezifisch deutscher Übersensibilität: „Die Organisatoren des Hungerstreiks wissen um die Dialektik im Herzen der deutschen Bestie: Die Hebelwirkung der moralischen Erpressung ist umso größer, Trauma und Schuld sei Dank.“

Natürlich stürzen sich die Konservativen sofort auf linke Prosa: „Schon beim Hungerstreik von Asylbewerbern vorm Brandenburger Tor in Berlin war schnell klar geworden, dass sogenannte deutsche „Unterstützer“ ein Aktions-Drehbuch in der Tasche hatten.“ (AchGut)

Mit solcher Marktschreierei kann man wahrscheinlich FAZ-Leser darüber hinwegtäuschen, dass Flüchtlinge nun einmal keine anderen Unterstützer gefunden haben in Deutschland und dass, wie berechtigt ein Anliegen auch sein mag, gewiss kein Konservativer oder Liberaler irgend ein „Aktions-Drehbuch“ in der Tasche hat, zumindest keines, in dem die Flüchtlinge gut weg kommen.

Die Unterstützer und Organisatoren der Aktion hätten sich natürlich besser Louis Lecoin zum Vorbild genommen, dessen Hungerstreik in Frankreich zur Legalisierung der Kriegsdienstverweigerung führte. Oder jenen großen Hungerstreik von Häftlingen, der 2008 in 39 deutschen Gefängnissen durchgeführt wurde. (Telepolis)

Haderthauer und ihre Klientel hätte das aber auch nicht gekümmert: „Hierzulande ist Politik nicht erpressbar, wir leben in einem Rechtsstaat, wo man sich nicht durch Hungerstreiks eine Vorzugsbehandlung erzwingen kann.“ (SPON)

Für Behördengänge gibt es aber auch in Deutschland allemal Interventions- und Beschleunigungsmöglichkeiten, zu denen auch die vergessene Form der Petition zählt. Man hätte sich weniger Erpressbarkeit gewünscht, als vor 20 Jahren nach Pogromen und Terror von Neonazis das Recht auf Asyl abgeschafft wurde. (Das Erste) Wenn in Italien Flüchtlinge ihre Baracken anzünden, dann hat man dafür schon deshalb kein Verständnis, weil das Anzünden von Flüchtlingsbaracken in Europa ausschließlich durch Neonazis zu erfolgen hat.

Die deutsche Gesellschaft hat unterm Primat des Harmonismus jegliche ernstere Konflikte abgeschafft. Daher wünscht man sich in allen globalen Konflikten auch nichts mehr als „Verhandlungslösungen“, jeder Unternehmer gibt sich routiniert beleidigt über Streikende, die „Verhandlungsangebote“ ausgeschlagen hätten. Selbst Abschiebungen werden noch zum Wohl des Flüchtlings mit Handschlag und „Alles Gute in der Heimat“ vom berufsmäßig mitfühlenden Abschiebebegleiter abgeschlossen. Und wohl nur aus Fürsorge wurde ein recht deutscher Witz von der Berliner Polizei sehr ernst genommen: Keiner soll hungern, ohne zu frieren.

In dieser Kultur der zensierten, passiven oder kollektiv sanktionierten Aggression erscheint es überbordend und deplaziert, wenn mit dem Leben bedrohte Flüchtlinge ein so radikales Mittel wie den Hungerstreik wählen. Dass sie sich nicht an der Kasse vordrängeln möchten, sondern um den Unterschied zwischen vegetieren und leben, fressen und essen, Gefangenschaft und Freiheit, Asyl und Tod kämpfen, das können saturierte Bayern niemals verstehen. Daher ist die zynische Rede von der „Vorzugsbehandlung“ primär projiziertes Unbehagen über die eigene privilegierte Position und Abstiegsangst. Die wird in den Flüchtlingen ohnehin bekämpft, gerade die Dimension des Hungers aber versetzt die zu beispiellosem Wohlstand gekommenen Bauern in den Großstädten in Angst und Schrecken.

Neues von der Arbeitsfront: Der 0,15 Liter-Arbeiter von Erasco

Das kapitalistische Glücksversprechen kommt mitunter in der Werbung zur größten Ehrlichkeit:

Wer täglich alles [sic!] gibt, hat auch eine kleine [sic!] Pause verdient. Mit Erasco Heisse Tasse. Die schmeckt und gibt neuen [sic!] Schwung. So viel Zeit muss sein.

Wer bei soviel Zeit und Schwung noch Kraft hat, „kräftig“ umzurühren, der wird mit 0,15 l „Inhalt“ für „alles“ entschädigt, das er gegeben hat. Und der „neue“ Schwung maximiert sein Verwertungspotential.

„Guten Appetit!“

Betrifft: Polemos #5, Prodomo#17 Beschneidungsdebatte

Man kann darüber streiten, wie vergeblich die Mühe ist, Beiträge in Zeitschriften zu kritisieren, die wie ihre Tante „Bahamas“ alles, aber keine Diskussionsforen sind, und die im Zuge dessen auch keineswegs Kritische Theorie machen, sondern Publizistik.

Zur Beschneidungsdebatte, deren politisches Fazit jeden Säkularismus in Deutschland wie auch in den mit Argusaugen auf den Westen blickenden arabischen neuen Staaten auf Jahre hinweg kalt gestellt hat, muss man eigentlich nichts mehr schreiben. Gleich vier Autoren sehen sich trotzdem ein Jahr, nachdem kritische Positionierung relevant und riskant gewesen wäre, dazu gezwungen, irgendwas Äquidistantes, materialistisch angehauchtes über Recht, Staat und Nation zusammenzuzimmern. Das alles kann man selbst nachlesen, wenn man es noch der Bedeutung verdächtigt. Hier geht es nur kurz um das gröbste Missverständnis, das jenseits der Beschneidungsdebatte relevant ist, weil es einen grundfalschen Begriff von Psychoanalyse voraussetzt:

Dies geschah ungeachtet des Umstands, dass der Islam im Verlauf der Diskussion auch von den Beschneidungsgegnern immer wieder dafür gelobt wurde, dass die Beschneidung hier relativ spät vorgenommen wird und man sie vielleicht nur noch ein paar Jährchen weiter zu verschieben bräuchte, damit sie der Forderung genüge trage, die Beschneidung in einem Alter freier Entscheidungsfähigkeit durchzuführen.

Dass allerdings eine bereits entwickelte Reflexionsfähigkeit und gemachte Schmerzerfahrungen eine Beschneidung in höherem Alter verglichen mit einer im Säuglingsalter durchgeführten ungleich angstvoller und damit auch schmerzhafter machen, liegt jedoch auf der Hand (5).

Anders als bei der jüdischen Beschneidung des Säuglings dürfte die Beschneidung nach dem einmal entfachten ödipalen Konflikt ihrerseits direkt durch die dann mit einer Beschneidung unvermeidlich einhergehende Kastrationsdrohung motiviert sein. Bei der Säuglingsbeschneidung müsste die Kastrationsangst allerdings ausbleiben. (Leo Elser, Polemos #5)

In der Fußnote heißt es:

Nicht bestritten ist damit, dass auch Säuglinge Schmerzen empfinden können. Schmerzen sind aber ihrerseits immer auch durch Individualität und Erfahrung vermittelt, weshalb sich die Qualität des Schmerzes nicht rein empirisch (z.B. durch Beobachtungen der Gehirnströme o.ä.) feststellen lässt.

Wir wissen nicht, welche Säuglingsforschung Elser hier einbezieht, und müssen uns wie er auf das Moor der Einfühlung, der Introspektion und Logik wagen. Elsers Herleitung lautet:

Kastrationskomplex plus Beschneidung ist gravierender als Oralität plus Beschneidung. Warum? Weil „mehr Individuum“, „mehr Reflexion“ möglich sei, also „mehr Angst“, bzw. qualitativ anderer Schmerz.

Das beinhaltet eine Verkehrung der psychoanalytischen Befunde, dass alle Erfahrungen auf früheren aufruhen, durch diese hindurch gefiltert werden. Der Säugling ist nicht einfach weniger erfahrungsfähig als das Kleinkind, sondern die Erfahrungen des Säuglings sind essentieller Grundstein der Erfahrungswelt des Kleinkindes, Störungen in der oralen Phase wirken auf das Gelingen beispielsweise der Triangulierung zurück. Wenn ein Säugling am 8. Tag seines Lebens unsägliche Schmerzen erleidet, die ihn in die Schockstarre zwingen, dann hat er nach diesem Tag bereits ein Achtel seines postnatalen Lebens Schmerzen erlitten und kann noch nicht einordnen, ob diese jemals wieder aufhören werden, er muss auch befürchten, diese jederzeit wieder zu erleiden. Erst im Lauf der Zeit lernt der Säugling, Versagungen zu tolerieren und Triebregungen aufzuschieben oder zu sublimieren. Das junge Kind kann bereits symbolisieren, er kann einordnen und er kann auch getröstet werden durch Sublimierungen und die Versicherung, dass es nun eben vorbei sei. Das bedeutet: Die Beschneidung im Säuglingsalter ist keineswegs weniger angsterzeugend als die im Knabenalter.

Noch falscher ist, durch die frühe Beschneidung nicht den Kastrationskomplex aktualisiert zu sehen oder wie Niklaas Machunsky in islamische Beschneidung als Inzestverbot und jüdische Beschneidung als Unterwerfung unter ein Gesetz zu trennen. Würde man diese doch sehr naive Auffassung wirklich zu Ende denken, wäre zuerst einmal der gesamte Kastrationskomplex des Mädchens hinfällig. Das ist bekanntlich gar nicht kastriert, missversteht sich aber genau so und beschuldigt die Mutter für den vermeintlichen Defekt oder vermutet eine Strafe für eine unbekannte Tat.

Der beschnittene Junge wird jedoch darüber hinaus immer ein Bewusstsein davon haben, dass er tatsächlich eine Narbe trägt, dass er in einer grauen Vorzeit für irgendein ihm unbekanntes Vergehen kastriert wurde. Spätestens bei der Beschneidung von Brüdern, Söhnen oder anderen Verwandten wird diese Frage akut. Nicht zu wissen, wer dieser unbekannte Kastrator war, wofür man bestraft wurde, das dürfte dann doch ungleich angsterzeugender sein, als eine Konkretion der Ängste vor sich zu sehen, die man wenigstens Zeit seines Lebens hassen darf. Die Konkretion von Ängsten wurde übrigens in der psychoanalytischen Märchenforschung Bettelheims respektabel, unter der logischen Voraussetzung, dass sie im Märchen auch bleibt.
Auch die jüdische Beschneidung ist gegen den Inzest gerichtete Kastrationsdrohung. Gesetz als psychologische Instanz, als gesellschaftlich sanktioniertes Über-Ich ist gemeinhin in der Psychoanalyse gar nicht denkbar ohne die Internalisierung der kastrierenden Vater-Instanz.

Das Judentum als religiöser Kanon beinhaltet immerhin einige Regelungen, die zumindest nahelegen, die aggressiven Aspekte des Rituals weitgehend in den Schein der Zärtlichkeit, der Integration und der Homoerotik zu kleiden.  Das entspricht der Doppelgestalt aller Beschneidungsinitiationen, wie sie Theodor Reik beschreibt: homoerotische Zärtlichkeit und Aggression/Kastration. Es bleibt aber intendiert als aggressiver Akt, als verstümmelnde Kastration, die sich spätestens dann als Traumatisierung ausweist, wenn sie um jeden Preis am eigenen Kind wiederholt werden muss. Dem wirklich komplizierten Sachverhalt stellen sich alle Autoren nicht oder allenfalls als Illustrationsmaterial elegischer Staatstheorien: Dass die Beschneidung nun einmal archaisch und barbarisch ist, obwohl genau das die Antisemiten den Juden als Wesenszug anlasten – natürlich nur, um im zweiten Atemzug die modernsten Errungenschaften wie gerade den bürgerlichen Rechtsstaat als jüdische Erfindung zu verdammen und sich  mit Tradition und Barbarei zu identifizieren.

Jan Huiskens begründet in der Prodomo mit viel Adorno, Marx und Schmalz,  „warum außerdem die Juden mitsamt ihren Bräuchen gegenüber allen „Kinderschützern“ und sonstigen Staatsfetischisten verteidigt werden müssen.“ Das ist martialischer Heroismus, der hohl klingt, weil er längst mit dem staatlichen Konsens konform geht. Die selbsterklärte Avantgarde der Kritischen Theorie folgt damit den poststrukturalistischen Beschneidungsverharmlosern, sie gibt sich lediglich etwas mehr Mühe, Adorno selektiv zu lesen und Staat raffiniert, aber ganz undialektisch von Gesellschaft zu trennen, was ihnen darauf hinausläuft, im Recht des Kindes gegen das Kollektiv den Volksstaat der Nationalsozialisten zu bestimmen. Das setzt zwar ganz hahnebüchene Relativierungen und Kategorienfehler voraus, weist aber ebensowenig Empathie für jüdische oder muslimische Kinder auf wie die Gesetzgeber.

Jan Gerber hat in seinem eigenwilligen Beitrag leider auch nicht viel Bereicherndes hinzuzufügen, er wiederholt eigentlich das prüde Ressentiment gegen das historisch vermutlich erste, wenngleich reichlich verkrampfte gesellschaftliche Gespräch über die Verwundbarkeit männlicher Genitalien:

Aller Rhetorik vom Wohl der Kinder, den „Lehren aus der Geschichte“ oder dem säkularen Staat zum Trotz war die Beschneidungsdebatte damit vor allem eins: die publizistische Variante eines traditionellen Schwanzvergleichs. (Jan Gerber, Polemos #5)

Man fragt sich, warum er trotz dieser Einsicht daran teilnimmt.

„Ausgerechnet Sex“ – Deutsche Ideologie zum Anfassen

Ein deutscher Film, so lautet das Gesetz, bedarf entweder eines Mörders oder eines Eigenheims, das gegen ökonomische Kalamitäten verteidigt werden muss. In „Ausgerechnet Sex“ darf das Häuschen dann auch mal eine millionenschwere Villa in Münchens Speckgürtel sein. Die gesetzlich vorgeschriebenen zwei Kinder, natürlich gemischgeschlechtlich und mindestens ansehnlich, verlieren tragischerweise den lieben Vater.

Die Mutter sieht sich vor fast unüberwindliche Schwierigkeiten gestellt, um den Kindern die Privatschule und das Designertraum-Schlösschen zu erhalten: Soll sie ein paar edle Vasen, Gemälde und die Dunstabzugshaube verkaufen, um die irrsinnigen Schulden von 84,000 Euro zu bezahlen? Oder überwindet sie ihre Prüderie und führt die Pornofirma des Gatten weiter, der seinen sauren Broterwerb vor ihr verheimlichte? Müssen gar die Kinder ins Elend der öffentlichen bayrischen Schulen abrutschen? Die logischste Alternative, das fürstliche Anwesen zu verkaufen und sich auf einer Karibikinsel zur Ruhe zu setzen, steht natürlich nicht zur Debatte – die arme reiche Frau hat das sich selbst zeugende Kapital zu neuem Elan zu motivieren und muss dafür ihre Verklemmung überwinden.

Die Verklemmung besteht nur oberflächlich in antiquierten Vorstellungen von einer Einheit von Liebe und Sex, die sie daran hindern, entspannt bei Pornoproduktionen zuzusehen. Für den Produktionsprozess ist sie so überflüssig wie sonst nur der europäische Adel. Als Legitimationsplattform für die Herrschaft dient die „Familie“, zu der die Belegschaft mutiert. „In meiner Firma wird niemand ausgebeutet“ protzt die Chefin mit der Luxus-Villa. Sogar die Oma putzt in dem „Familienbetrieb“ und ist ganz versöhnt mit dem Klassenunterschied innerhalb der Familie.

Die Erbin will sich des Produktionsprozesses inklusive Schwiegermutter bemächtigen und träumt von ökologisch korrekten Pornos mit künstlerisch-amourösem Wert, sprich: Mehrwert. Der Geschmack des knallharten Marktes droht sich dann auch nach Fehlschlägen durchzusetzen, würde die Unternehmerin nicht doch ihre einzige Leistung liefern: eine Marktlücke entdecken. Die besteht in den sexuellen Wünschen von anderen, noch reicheren Frauen. Deren angehäuftes Kapital kann gar nicht mehr selbsttätig vershoppt werden, so dass ein eigener Privatporno mit dem galanten „Roy das Rohr“ interessantes Ersatzbedürfnis wird. Die geniale Managerin „erfindet“ den „Freundschaftspreis“ von 1500 Euro für ein komplettes Filmchen. Was da nach den Produktionskosten noch für die Darsteller bleibt, spottet wahrscheinlich noch dem durchschnittlichen Prostituiertenlohn. Immerhin: Bei der ersten Konsumentin ist „alles noch ganz knackig“.

Unter dem sozialen Druck von Moralaposteln (und vor allem aus ästhetischen Skrupeln) wird so aus der Pornofirma, in der vormals Befreundete und verheiratete Schönheiten vor der Kamera Sex hatten, ein Edelbordell, in dem die Darsteller fortan Privatpornos für reiche Scheidungsanwältinnen drehen müssen. Das wird abgefeiert als Rettung der Firma, als moralisch integrer Fortschritt, als Zugeständnis an die Puritaner an der Privatschule und als privatfamiliäre Versöhnung mit der eventuell doch zu freizügigen, renitenten Tochter und dem überkeuschen Sohn.

Natürlich handelt die Leiterin im Interesse der Angestellten. Geldprobleme hat natürlich nicht nur die Unternehmerin, aber sie hat die drastischsten. Das ist Krisenbewältigung a lá Deutschland, mit ein paar halbgezeigten Brüsten und Lederröckchen verziert. Da darf zwangsliberal dann auch der seit neuestem für den deutschen Film obligatorische Transvestit auftreten – wie immer nur, wenn er körperlich schwach ist und beim Joggen ohnmächtig wird. Natürlich gibt es auch einen fahrradbehelmten Spießer, der Pornos verabscheut und seinen Kredit zurückfordert. Und es gibt einen schmierigen Jung-Regisseur, der einem Schneewittchen von 17-Jähriger nachsteigt und die Filmproduzentin ganz abscheulich erpresst – was die darüber furchtbar Empörte natürlich nicht davon abhält, ihre KundInnen gleich Dutzendweise mit den produzierten Privatpornos zu erpressen. Das alles ist so flach wie ein Papier, aber raffinierte Ideologie.

„Ausgerechnet Sex“ ist der nicht mehr ganz neue Versuch, das Adelsdrama zu renovieren. Das hineingeschleuste Marktprojekt ist gar nicht unzeitgemäß: Neben der ganzen deutschen Ideologie wird die reiche Frau als Freierin hoffähig gemacht. Die traditionelle ökonomische Rolle des Mannes, der sein überschüssiges Kapital im Puff ausgeben darf und soll, wird von zwei Seiten in die Zange genommen:

Zuerst wird sichergestellt, dass hier wirklich alles freiwillig und nicht etwa aufgrund ökonomischer Zwänge geschieht, die für weibliche Prostitution wie für jede Lohnarbeit typisch sind. Alle Pornodarsteller und –darstellerinnen arbeiten natürlich aus purem Spaß an der Freude, Arbeit ist Lust oder Show.

Nachdem die neobourgeoisen Frauen ihre vom 50-er-Jahre-Patriarchat angefressene ökonomische Position endlich revolutioniert haben, wird ihnen angeraten, ihre Sexualität zu liberalisieren, nach dem Modell der Männer zu verfahren, und ebenfalls auf die sexuellen Unkosten zu kommen, die der Arbeitsprozess und der Rückstand echter gesellschaftlicher Liberalität mit sich bringt – das alles natürlich ohne den Ludergeruch eines gewöhnlichen Bordells, hier ist pornographischer Sex käuflich, privat und politisch korrekt. Unmoralisch daran ist die perfide Leugnung von Ausbeutung in der Produktion, die hier noch larmoyant zum Leid und Wehe der Firmeneignerin umgelogen wird, mit der dann alle Beteiligten noch sich identifizieren dürfen.

Die beschützte Frau

Oskar Graf, der 1933 dagegen protestierte, dass seine Bücher bei der Bücherverbrennung von den Nazis übersehen wurden, und für den 1934 eine separate Bücherverbrennung nachträglich organisiert wurde, jener aufrechte Oskar Maria Graf hatte viel zu sagen über gescheiterte und erfolgreiche Annäherungsversuche. In seinem „Bayrischen Dekameron“ findet sich auch jene Geschichte von der Heirat vom hochchristlichen Schlemmer-Wastl und der nicht minder frommen Rehbinder-Traudl.

Schon das ganze Heiratmachen ging sehr hart zwischen dem Wastl und der Traudl. Der alte Schlemmer mußte mit seinem Sohn hinübergehen nach Boling und bei Rehbinder die Rede vorbringen. Der Wastl stand dabei, sagte nicht gick und nicht gack, schier so wie mit einer vollen Hose. Die Traudl hockte bei ihrer Mutter auf der Bank, die Augen niedergeschlagen, die Hände ineinander auf ihrem Schoß, und schließlich fing sie das Flennen an. Eine rechte Umständlichkeit war es. Der Schlemmer wurde zuletzt ärgerlich und sagte: „No, nachha müaßt’s hoit it heiratn, wennd’s enk oi zwoa schaamts.“

In der doch noch stattfindenden Hochzeitsnacht wird den beiden dann doch die Frömmigkeit zu arg:

Jetzt stieg’s den zweien erst recht in den Sinn, wie sündhaftig das sei, Mannbild und Weiberts nachts allein in einer Eh’kammer. Dem Wastl kam vor lauter Verlegenheit ein Drang an, so gewaltig, daß ihm ein lauter Wind hinterrücks rauskam. […]

Der Wastl schwang sich auf und gab seiner jungen Bäuerin ein Bussel. Sie röchelte und stöhnte fast weinerlich: „Wa-wastl! Wa-stei!“ Wenngleich aber jetzt Sündhaftigkeit und Heiligmäßigkeit unter dem Wastl seiner Brust hart kämpften und die erste schon halbwegs die Oberhand gewann, er raffte seine ganze Bravheit zusammen. „Trau-au-dei!“ stotterte er wieder und wieder heraus, ganz windelweich. Auf das hin erfaßte die Traudl doch ein arges Mitleid und sie legte sich ins Bett. Der Wastl fiel ihr schier nach, tapsig und dalgert wie eine einhaxerte Henne. „Trau-au-dei!“ flennte er fast: „A-a Bussei, Trau-au-dei!“ Und – gut ist’s, wenn ein Mensch Mitleid im Herzen hat – also sagte halt die Traudl, weil sie so was schon einmal gelesen hatte: „Grüß Gott, tritt ein, bring Glück herein, Wastl.“

Das Bayrische, eine der Einwanderung psychoanalytischer Begriffe ganz unverdächtige Sprache, hat neben solchen recht katholischen Verklemmungen eine der syntagmatisch kürzesten Möglichkeiten kreiert, Konsensualität zwischen prospektiven Sexualpartnern herzustellen: „Mogst?“. Die Antwort schwankte dann je nach Situation zwischen einer saftigen „Watschn“, einem „Di Brenzsoiza werd I grod no zum Fensterln hoin!“, einem „I daad scho gern meng!“ und einem „Gscherter Hamme, lass hoit aus aa, wenn uns no oana sigt!“ Bisweilen lautete die Antwort auch „Aba heirotn muaßt mi fei scho aa, göi!“ – was in der Literatur meist als sicherste Methode gilt, den Verführer in die Flucht zu schlagen.

Seine Geschichten gestaltet Graf mit einem psychologischen Feingeschick aus, das genau um die vielen Zwänge weiß, die Männern und Frauen ihre Lust wahlweise verleiden oder sie in Gewalt am Anderen umschlagen lassen, das aber auch die lustbejahende, einvernehmliche Lösung als überlegene präsentiert, am schönsten noch in seiner Geschichte von Wally und ihren 16 Liebhabern, dem „Theodor-Verein“. Die promiskuöse Kellnerin weiß sich gegen die Anfeindungen von den Ehefrauen der Liebhaber resolut zu verteidigen:

„A so a Loadsau… A so a Dreckfetzn!“ haben die entrüsteten Weiber von Aching über die Wally geschimpft. Die hingegen hat sich gar nicht versteckt und kühn ist sie jeden Tag mit dem Kinderwagerl durch die Straßen gefahren. „Ös?“ hat sie zur bissigen Reblechnerin gesagt: „Ös?…? Ös derhoits ja net amoi oa Mannbild, aba bei mir kinna zwanzge kemma, nacha bin i oiwai noch ganz!“

Graf denunziert Sexualfeindschaft und ihr Resultat, die sexuelle Gewalt, was sein Dekameron zu einer wahrhaft Freud’schen Lektüre macht. Der beschrieb in seiner Schrift „Zur Einführung des Narzißmus“ das Problem der Verliebtheit in weitaus gewählteren Worten als Graf:

Die volle Objektliebe nach dem Anlehnungstypus ist eigentlich für den Mann charakteristisch. Sie zeigt die auffällige Sexualüberschätzung, welche wohl dem ursprünglichen Narzißmus des Kindes entstammt, und somit einer Übertragung desselben auf das Sexualobjekt entspricht. Diese Sexualüberschätzung gestattet die Entstehung des eigentümlichen, an neurotischen Zwang mahnenden Zustandes der Verliebtheit, der sich so auf eine Verarmung des Ichs an Libido zugunsten des Objektes zurückführt.

Im Gegensatz dazu typisiert er einen klassisch weiblichen Verlauf:

Hier scheint mit der Pubertätsentwicklung durch die Ausbildung der bis dahin latenten weiblichen Sexualorgane eine Steigerung des ursprünglichen Narzißmus aufzutreten, welche der Gestaltung einer ordentlichen, mit Sexualüberschätzung ausgestatteten Objektliebe ungünstig ist. Es stellt sich  besonders im Falle der Entwicklung zur Schönheit eine Selbstgenügsamkeit des Weibes her, welche das Weib für die ihm sozial verkümmerte Freiheit der Objektwahl entschädigt. Solche Frauen lieben, strenggenommen, nur sich selbst mit ähnlicher Intensität, wie der Mann sie liebt. Ihr Bedürfnis geht auch nicht dahin zu lieben, sondern geliebt zu werden, und sie lassen sich den Mann gefallen, welcher diese Bedingung erfüllt.

Freud führt diese offenbar von Nietzsche inspirierte Beobachtung fort:

Es erscheint nämlich deutlich erkennbar, daß der Narzißmus einer Person eine große Anziehung auf diejenigen anderen entfaltet, welche sich des vollen Ausmaßes ihres eigenen Narzißmus begeben haben und in der Werbung um die Objektliebe befinden; der Reiz des Kindes beruht zum guten Teil auf dessen Narzißmus, seiner Selbstgenügsamkeit und Unzugänglichkeit, ebenso wie die Reize gewisser Tiere, die sich um uns nicht zu kümmern scheinen, wie der Katzen und der großen raubtiere, ja selbst der große Verbrecher und der Humorist zwingen in der poetischen Darstellung unser Interesse durch die narzißtische Konsequenz, mit welcher sie alles ihr Ich Verkleinernde von ihm fernzuhalten wissen.

Es ist so, als beneideten wir sie um die Erhaltung eines seligen psychischen Zustandes, einer unangreifbaren Libidoposition, die wir selbst seither aufgegeben haben. Dem großen Reiz des narzißtischen Weibes fehlt aber die Kehrseite nicht; ein guter Teil der Unbefriedigung des verliebten Mannes, der Zweifel an der Liebe des Weibes, der Klagen über die Rätsel im Wesen desselben hat in dieser Inkongruenz der Objektwahltypen seine Wurzeln.

Freud betont im Anschluß explizit, ihm liege „jede Herabsetzung des Weibes“ fern, er verweist zudem auf die vielen Frauen, die nach dem „männlichen Typus“ lieben „und auch die dazugehörige Sexualüberschätzung entfalten.“

Eine Herabsetzung von Frauen und ihrer sexuellen Freiheit findet indes statt, wenn heute Bettina Wulff in jener für den Puritanismus typischen lüsternen Prüderie eine mögliche Vergangenheit als Prostituierte nachgetragen wird, wenn eine hübsche Politikerin in einer Partei als Prostituierte beschimpft wird, weil sie Annäherungsversuche abgeschlagen hat, wenn Prostituierte sich von barbusigen Femen-Aktivistinnen in Hamburg erzählen lassen müssen: „Prostitution is genocide“ (1, 2, 3);  generell, wenn Prostitution verboten wird und damit eine spezifische Möglichkeitsform weiblicher Arbeit und Lust durchgestrichen wird. Die Frau hat sich nicht freiwillig mit so vielen Männern abzugeben, sie muss narzisstisch rein sein, ihre aktiven Anteile werden abgespalten und als aggressive und destruktive dem Mann zugeteilt – dieses reaktionäre Denkmodell hat an Macht selbst in Frankreich gewonnen, das Prostitution abzuschaffen gedenkt, wie auch in Schweden unter dem Druck eines zutiefst puritanischen Feminismus.

Die wesensverwandte Empörung über eine SMS eines Politikers an eine Journalistin mit dem Inhalt „Ich vermisse deine Nähe“ mokiert sich vor allem darüber, dass männliche Politiker immer noch sexuelle Wesen sind, die es mitunter wagen, eine nicht normierte Konstellation zu denken: eine Liaison zwischen junger Frau und älterem Herrn. Wo man zumeist männliche Gesichter auf Wahlplakaten wählen soll, ist die Anmaßung anscheinend unzulässig, dass man sich mit so einem Gesicht eventuell doch sich einen Reiz auf die junge, schöne Frau einbilden dürfe, die auf dem Plakat gegenüber irgendein mineralisiertes Wunderwasser oder eine unerschwingliche Reise nach Fernost feilbietet.

Das ins Private eingewanderte Tauschprinzip fordert Ideale, die sich primär an Filmen herausgebildet haben: Der attraktive Mann verdient durch seinen Heroismus hindurch eine attraktive, passiv wartende Frau. Wer dieses Verhältnis zu überwinden versucht, gerade eben nicht sich reduzieren lässt auf sein Alter und seinen verbrauchten Körper, wer es also zumindest einmal versucht, zuletzt noch mithilfe von Geld oder der Macht auf das libidinös besetzte Objekt einzuschmeicheln, zieht sich den Hass jener zu, die weder Macht noch Geld haben. Wenn man selbst schon erfolglos ist mit allenfalls aus schlechten Journals dahergestammelten Sprüchen, so darf der Alte den Versuch gar nicht erst wagen. Man wertet seine Offerte innerhalb des Tauschprinzips als unverschämtes Angebot, nicht nur weil es ein Angebot ist, sondern weil es Billigkeit unterstellt, einen geringen Wert der Ware, die sich so leicht haben ließe und für so einen geringen Gegenwert: ein schlechtes Kompliment, einen alternden Körper. Wie oft in Verführungsgeschichten überhaupt nicht der Inhalt, sondern die Überwindung zählt, davon sprechen Teenagerlieben Bände, in denen Kommunikation häufig ganz ausfällt und Konsensualität eben körperlich ausgelotet wird nach dem Ideal der fließenden Brünnlein:

Ja, winken mit den Äugelein,
Und treten auf den Fuß;
’s ist eine in der Stube drin,
Die meine werden muß,
’s ist eine in der Stube drin,
Ju, ja, Stube drin,
Die meine werden muß.

Pubertierende zeigen auch häufiger ein ambivalentes Abwehrverhalten: Sie brüsten sich dann im Freundeskreis mit Zahl und Absurdität der abgeschlagenen Annäherungsversuche, zelebrieren aber dadurch auch die Lust, die aus einer eventuellen Einigung entstehen hätte können, sie steigern ihren eigenen Marktwert als begehrte Objekte. Ein solches Leiden an Attraktivität tendiert zur Inszenierung, wo es nicht mehr nach der Psychologie der als ewige Angreifer empfundenen Männer, nach den Zurichtungen fragt, die diese erfahren haben könnten, dass sie nicht ihren weiblichen Objekten sich als Gleiche nähern können und stattdessen zwischen masochistischer Selbstaufgabe und Herrschsucht oszillieren.

Im Rückzug begriffen sind Vorstellungen von Frauen, die sich mit deftigen Worten und Gesten und notfalls mit der Heugabel schon zu verteidigen wissen wie jene bayrischen Dirndlträgerinnen aus Grafs Geschichten, die allerdings das häufige Scheitern solcher Abwehr und somit die Vergewaltigung nicht verschweigen. Anstatt nun wenigstens den Ansatz der Selbstverteidigung fortzuführen, wo diese zu scheitern droht, treten gemäß Hollywoods reaktionärem Frauenbild Schutzmächte auf, die bedrohte Frauen an ihre Wehrlosigkeit erinnern mehr, als dass sie ihnen eine Waffe anbieten.

Die Frauen gerade so klein und unsicher halten, wie sie unter dem Druck männlicher Herrschaft geworden sind, das ist die Strategie auch des Islamismus und des konservativen Ehrbegriffs. Hilfsangebote schlagen in Paternalismus um, wenn von der aggressiven Lösung geschwiegen wird, wenn ein Kultus des Beschützens, des Stellvertretens entsteht, der letztlich doch wieder die schwache, beschützte Frau zum Ideal hat und überdies ein entsexualisiertes Frauenbild zur Norm erhebt: Wenn also solche „Wohlfühlräume“ entstehen, in denen Sexualität nur als jene von allen unangenehmen Verklemmtheiten und Missverständnissen gereinigte Prinzessinen- und Prinzenwahl idealisiert wird, die sie nicht ist. Oder eben, was wahrscheinlicher ist, Räume, in denen Sexualität bequemerweise gleich durchgestrichen wird durch die Drohung, dass jede noch so verbale und vorsichtige Annäherung als „Sexismus“ gelten kann, wenn die oder der schöne Unbekannte das so „definiert“. Selbst das letzte Resort der Kommunikation von Lust, der Blick, wird so zum passiven Anstieren, zur ewig Vorlust bleibenden, vergafften, voyeristischen Konsumption dessen, was man ohnehin nicht haben kann, das Abbild wird wenigstens ohne Tausch und Strafe eingesogen, dafür aber in Permanenz, zum Leidwesen der fernen weiblichen oder seltener männlichen Schönheiten.

Der zelebrierte Schock darüber, von einer unbekannten Person wegen der eigenen Schönheit geliebt zu werden, überhaupt sexuell attraktiv zu sein, scheint doch sehr aus dem Innersten der Gesellschaft zu entspringen. Im Kern ist er schon die Abwehr einer zutiefst bedrohlich gewordenen Sexualität. Dass Männer (oder im Ressentiment seltener Frauen) „nur“ Sex wollen würden, ist Herabwürdigung der Sexualität zum niedrigen Motiv. Schon die Enttäuschung darüber, überhaupt aus einem bestimmten Grund geliebt zu werden, und nicht ganz ohne jeden Grund, folgt dem Ideal der christlichen narzisstischen Erfüllung par excellence. Dass Brüderle einer Frau wie ein tapsiger Bauer in Grafs Geschichten das Kompliment macht, „ein Dirndl ausfüllen“ zu können, weckt Neid und zugleich die Wut derer, die eigentlich permanent auf den gleichen Reiz ansprechen, ihn aber unterdrücken. So unappetitlich dann die Zusammenrottungen der Möchtegerne sind, die in Brüderle ein Opfer einer ewig trügerischen Weiblichkeit sehen, deren Misstrauen gegen eine jahrhundertealte Kultur der Ausbeutung und Verzerrung ihrer Sexualität gerade in den dunklen Ecken der Arbeitsplätze gestellt sei, deren Sensorium für die noch zu deutlich spürbare Drohung in der Anmache auf Übersensibilität verweise, so widerlich sind die Karikaturen über Brüderle. In ihnen tritt jenes Lachen auf, das Adorno das „antisemitische Gelächter“ nannte: Das Tabuierte äfft man lustvoll nach, gleichzeitig desinfiziert man es durch Identifikation mit der versagenden Instanz.

Kritische Rezension: „Interventionen gegen die deutsche „Beschneidungsdebatte““

Zülfukar Çetin/ Heinz-Jürgen Voß/ Salih Alexander Wolter

Münster 2012: edition assemblage

 92 Seiten; 9,80 Euro

Die Beschneidungsdebatte, die keine war, produzierte manche merkwürdige Blüte. Sicherlich das sonderbarste Gewächs liegt nun mit den Interventionen gegen die deutsche „Beschneidungsdebatte“ vor. Dankenswerterweise ist das Buch so kurz gehalten, dass man alle falschen Sätze darin rasch abgeschrieben hat – und das sind ungefähr alle. An diesem Buch gibt es nichts zu retten. Wenn es hier dennoch eine ausführliche Kritik erhält, dann nur, weil es beispielhaft gleich zwei Phänomene vereint: den Doppelcharakter des neuen deutschen kulturalistischen Antisemitismus, der sich in der Beschneidungsdebatte ein weiteres Mal herauskristallisierte, und den emanzipationsfeindlichen Zynismus einer innerhalb des akademischen Feminismus grassierenden identitären Ideologie.

Der Verlag warnt den Leser in einer verlegerischen Notiz:

Wir haben uns für die Veröffentlichung dieses Buches entschieden, um die rassistische und antisemitische ‚Beschneidungsdebatte’ anzugreifen und zu dekonstruieren.

Der Titel spricht ähnlich Bände über das autoritäre Zensur-Bedürfnis: „gegen“ eine Debatte, die ohnehin keine war, wollen Çetin /Voß/Wolter „intervenieren“.

Über die Autoren erhält der Leser keine Informationen. Ein Blick ins Netz stellt Klarheit her. Die drei publizieren regelmäßig zusammen. Jürgen Voß ist Biologe und schrieb über Intersexualität, Zülfukar Çetin promovierte über Intersektionen von Homophobie und „Islamophobie“, und den Namen Salih Alexander Wolter findet man beispielsweise über einen Link der BDS-Campaign.

Diese hat sich den internationalen Boykott Israels auf die Flagge geschrieben. 2009 erfolgte der bislang größte Schlag des Bündnisses: der britische Gewerkschaftsbund UCU beendete die Zusammenarbeit mit dem israelischen Gewerkschaftsbund Histadrut.[1]

2010 unterschrieb Wolter zusammen mit der BDS-Gruppe Berlin einen offenen Brief, der sich darüber empört, dass am Gedenktag der Reichspogromsnacht in Berlin der israelische Botschafter sich in Berlin über Rüstungsprodukte informieren ließ. An dem Tag, der dem Aufruf zufolge dazu mahne, dass „Menschen“ nicht „noch einmal“ Opfer von „staatlicher Gewalt“ würden – verharmlosender Stalinisten-Sprech zur Umdichtung der Shoah in eine Art Klassenkampf von oben – an jenem Tag also zelebriere der israelische Botschafter eine „Kultur des Tötens“. Der Text setzt Nazis und Israel gleich, weil eben jene Reichspogromnacht Anlass dazu liefert, ausschließlich Israel zu verurteilen für

[…] die permanenten Verstöße aller israelischen Regierungen ebenso wie der israelischen Armee gegen das Völkerrecht und die Menschenrechte.

Der Aufruf endet mit den Worten:

Keine Waffenlieferungen nach Israel. [2]

Das ist für den vorliegenden Band nicht ganz unbedeutend, weil es den Doppelcharakter des kulturalistischen Antisemitismus illustriert: Für den Judaismus als marginale Folklore ist in Deutschland ein Plätzchen freigeräumt worden, man findet allseits Gefallen an Klezmer, Hummus und Hitler-Filme mit „Success-story“ (Claussen) und Happy End. Antisemitismus verurteilt man natürlich. Gegen den jüdischen Staat aber heißt es von allen Seiten „Auf die Barrikaden“. Einstimmig wie nie wurde 2009 vom Bundestag eine Propagandaaktion der Hamas unterstützt, der Überfall der Besatzung der „Mavi Marmara“ auf Israel. Und eine solide Mehrheit hält Israel für das bedrohlichste Land der Welt.

Von solchen hegemonialen Diskursen wissen die Autoren nichts, weil sie daran teil haben. Ihr Begriff von Antisemitismus bleibt zwangsläufig eindimensional:

In der breiten Ablehnung der Knabenbeschneidung durch die mehrheitsdeutsche Öffentlichkeit verschmelzen Elemente des Antimuslimischen Rassismus und des stets latent gebliebenen Antisemitismus. (21)

Nun blieb der Antisemitismus im offenen Brief, den Wolter unterschrieb, sicher nicht latent, er will praktisch werden und Waffen für Israel boykottieren. somit Israel der Vernichtung preisgeben und lüstern-friedlich dabei zusehen. Was Wolter und seine beiden Mitstreiter im Zitat wohl gemeint hatten, war ein „stets vorhandener latenter Antisemitismus“, den zu entdecken sie anscheinend ohne Verdacht auf sich selbst im Bereich ihrer Kernkompetenzen verorten. Sie lokalisieren ihn dann auch am Anderen:  hinter der „offiziellen Rhetorik von den „jüdisch-christlichen Wurzeln unserer abendländischen Kultur“.

Geschickt verband solches Pathos die „Aufarbeitung“ der Schoah mit den gemeinsamen global-strategischen Interessen „des Westens“. Doch nun, da es nicht um die von der Bundeskanzlerin zur Staatsraison erklärte Sicherheit Israels geht, sondern um einen Angriff auf spezifisch jüdisches, wie muslimisches Leben hierzulande, erweist sich der Bindestrich [zwischen jüdisch und christlich, FR] als die geschichtsvergessene „abstruse Konstuktion“, die Almut Shulamith Bruckstein Çoruh (2010) schon auf dem Höhepunkt des Sarrazin-Hypes zurückwies. (22)

Was auch immer damit gesagt werden sollte, außer der Klage darüber, dass die Bundeskanzlerin die Sicherheit Israels für nicht komplett unwichtig hält, bleibt verborgen: Schließlich erwies sich die Kanzlerin mit ihrem Bonmot von der „Komikernation“ als regelrechte Schutzpatronin der religiösen Vorhautamputation im Kindesalter. In völliger Verkehrung der historischen Befunde wird weiter behauptet:

Die europäische Mission der Zivilisation, die „barbarischen“ Jüd_innen und Muslim_innen zu säkularisieren, wird durch die Debatte um die Vorhaut und ihr ‚grausames‘ Ende verstärkt.

Historisch hat die Säkularisierung Europas den Juden die Möglichkeit zur Assimilation eröffnet, und dadurch Juden wiederum in Konflikt zum Judaismus treten lassen: Entstehungspunkt unter anderem des säkularen Zionismus und des Reformjudentums. Den gängigen Forschungsbefunden zufolge war es dieser Assimilationsprozess, den die modernen Antisemiten abwehrten und der für diese die nachträgliche rassistische Bestimmung des Jüdischen als Körpereigenschaft erforderlich machte – wozu die Beschneidung den Antisemiten ein eher willkommenes Hilfmittel war. Man kann sich angesichts dieser komplexeren Hintergründe der „Diskurse“ natürlich auch in die Tasche lügen. Die Autoren schrecken jedenfalls nicht davor zurück, Adorno/Horkheimer als Schmuckzitat über ihren Text zu setzen:

„Das Wunder der Integration aber, der permanente Gnadenakt des Verfügenden, den Widerstandslosen aufzunehmen, der seine Renitenz hinunterwürgt, meint den Faschismus.“

 Adorno/Horkheimer meinten im Kontext des Kulturindustrie-Kapitels, in dem sich das Zitat findet, mit Integration gewiss nicht eine fiktive deutsche Bereitschaft zur Integration von assimilierten Juden, sondern ein kulturindustrielles Prinzip, das die Außenseiter abschleift und zurichtet. Nicht das Verhältnis von Kollektiven zueinander steht hier zur Disposition, sondern das Verhältnis vom Kollektiv zum Individuum: „Einmal war der Gegensatz des Einzelnen zur Gesellschaft ihre Substanz.“ heißt es einige Zeilen vorher bei Adorno/Horkheimer, ein Satz, der für die drei Apologeten anscheinend völlig belanglos ist.

Es liegt nun Çetin/Voß/Wolter nämlich gänzlich fern, im Gefolge Adorno/Horkheimers eine individualistische, säkularistische Position zu vertreten: Säkularismus und Individualismus werden von Çetin/Voß/Wolter systematisch mit dem Westen und dieser mit dem Faschismus oder wahlweise Imperialismus identifiziert. Die Beschneidung kann so implizit zum subversiven Akt der Renitenz gegen den Faschismus verklärt werden. Çetin /Voß/Wolter sehen daher auch in dem Verweis des Beschneidungskritikers Putzke auf die statistische Erfassbarkeit von etwaigen Beschneidungen in immigrierten Familien und Gemeinden eine Wiederkunft des Nationalsozialismus:

Die Migrant_innen, denen die Gruppenidentifikation als kulturell-religiöse verwehrt sein soll, unterliegen ihr also im Sinn einer rassistischen Fremdzuschreibung weiterhin: Nichts anderes war die historische Erfahrung der jüdischen Assimilation in Deutschland.

Wenn nämlich die Beschneidung verboten werde, müsse man zu rassistischen Befragungstechniken greifen, die auf den religiösen oder kulturellen Kontext zurückgreifen, um überhaupt noch stattfindende Beschneidungen in eingewanderten religiösen Kollektiven zu erfassen. Das sei dann sowohl die – im Falle der jüdischen Assimilation gar nicht relevante – „Verwehrung“ einer „kulturell-religiösen“ Gruppenidentifikation, und zugleich die Erfahrung, dass diese Identifikation als Fremdzuschreibung doch stattfände. So setzen die Autoren – wohl in Ermangelung tatsächlich antisemitischer Kommentare, die aufzuspüren man für zu arbeitsintensiv befand – die Diskussion des Beschneidungskritikers Putzke mit primitivem Rassismus gleich, schlimmer, mit Nationalsozialismus.

Völlig beliebig wird nämlich nun von Çetin /Voß/Wolter ein weiteres Zitat von Adorno/Horkheimer eingestreut:

„Die den Individualismus, das abstrakte Recht, den Begriff der Person propagierten, sind nun zur Spezies degradiert. Die das Bürgerrecht, das ihnen die Qualität der Menschheit zusprechen sollte, nie ganz ohne Sorge besitzen durften, heißen wieder Der Jude, ohne Unterschied.“ (24)

Genau das ist aber das Geschäft von Çetin /Voß/Wolter, die den Individualismus, das abstrakte Recht und den Begriff der Person zu einer Spezies, nämlich einer westlich-imperialistischen Kultur degradieren und dann selbst die Gesellschaft in Beschnittene und Unbeschnittene einteilen, indem sie ständig nach der Zugehörigkeit der Diskursteilnehmer fragen:

Es geht uns dabei insbesondere darum, aufzuzeigen, wie die betroffenen Jüd_innen und Muslim_innen sich zu dem antisemitischen und antimuslimischen Diskurs äußern, bzw. positionieren.

Das tun sie aber noch  nicht einmal, nur zwei Muslime und etwa zwei Juden kommen zusätzlich zu den Autoren zu Wort. Im Kapitel Der schlechte Sex der Anderen skandalisiert man dafür den angeblichen „Blick in die Hose“ durch Beschneidungskritiker. Denen, sofern „mehrheitsdeutsch“ schauen die Autoren aber nun selbst in die Hosen, das abzuschaffende Leiden werde „von diesen offensichtlich gar nicht empfunden“ – sie seien nämlich nicht beschnitten. (29) Laut Voß fände eine „Hexenverfolgung“ statt, in der zum einen „Menschen aus jüdischen und muslimischen Familien“ sich in der Debatte zurückhalten müssten, wenn sie denn eine beschneidungskritische Position tatsächlich vertreten würden, dagegen aber

„atheistische, junge Menschen, die über einen mehrheitsdeutschen sozialen Hintergrund verfügen, unentwegt über den Verlust der Vorhaut klagen (können), die sie selbst aber in der Regel noch besitzen. (12)

Anstelle einer „Stellvertreter-Diskussion“ sollten sich „beschnittene Jungen und Männer selbst äußern (können)“. Allein:

Es ließ sich im deutschen Sprachraum keine innerjüdische oder im weitesten Sinn innermuslimische Initiative von Zirkumzisionsgegnern ausfindig machen, und ein Beschnittener, der sich während der Debatte dann doch negativ äußerte, sprach sich zugleich gegen ein Verbot aus (s.u.). (29)

Dass sich beschnittene Beschneidungskritiker trotz der „einladenden Debattenkultur“ nicht so kritisch äußerten, dass die Autoren etwas davon gehört hätten, läge an der „von ihnen wahrgenommenen rassistischen Tendenz“. (30) Lediglich Ali Utlu konnten Çetin/Voß/Wolter nicht ignorieren. Dreimal wird er zum Kronzeugen aufgebauscht, für die These, dass den beschnittenen Beschneidungskritikern der Rassismus der „mehrheitsdeutschen“ Beschneidungskritiker allemal mehr Angst einflößt als die Beschneidung und dass Utlu sich aus diesem Grunde gegen ein Verbot ausgesprochen habe. Von Utlus tatsächlich sehr detaillierter und drastischer Kritik der Beschneidung bleibt wenig übrig, an ihm interessiert vor allem seine Homosexualität, nicht seine leidvolle Erfahrung. Dreimal müssen die Autoren noch betonen, dass er in der Berliner „Siegessäule“ schrieb.

Utlus Stellungnahme unterschied sich damit vom Gros des zirkumzisionskritischen Diskurses, in dem kaum thematisiert wurde, dass auch jeder wissenschaftlichen Bewertung der Beschneidung bestimmte kulturelle Normen zugrunde liegen, und die Ausrichtung der rezipierten Forschung ausschließlich auf ein heterosexuelles Funktionieren der Beschnittenen stillschweigend akzeptiert schien. (35)

Hatten sie den Beschneidungsgegnern unterstellt, die Gesellschaft würde in „Beschnittene und Nicht-Beschnittene polarisiert“, (39) so erweisen sich Çetin/Voß/Wolter als die eifrigsten Polarisierer und Hosenkontrolleure. Das hat natürlich System: Von Argumenten kann bequem abgesehen werden wenn Zugehörigkeit entscheidet. Wie „einladend“ die Debatte war, davon zeugten die zahlreichen hasserfüllten Kommentare unter Artikeln von Beschneidungsgegnern, die sich dem panoptischen Blick in die Hose verweigerten und so den rassistischen Blick provozierten, der sie aufgrund vager Anhaltspunkte als Unbeschnittene einsortierte. Ihnen diagnostizierte man pathologischen Vorhautfetischismus, Fixierung auf „das stinkende, eklige Hautfetzchen“, kündigte „Hausbesuche“ wie bei Neonazis an, empfahl die Kastration mittels Backsteinen und wirklich alles was an „einladendem“ pathologischem Material zum Vorschein kommen wollte, erhielt hier Einlaß.

Stoßen Çetin/Voß/Wolter in jedem ihrer Strohmannargumente auf einen Selbstwiderspruch, so zwangsläufig auch, wenn sie es mit feministischer Kritik versuchen. Der Entwurf von Beschnittenen als Verstümmelten folge dem Stereotyp der Verweiblichung/Kastration von „de-maskulinisierten „Orientalen““, „“jüdischer Männlichkeit“. Bei Çetin/Voß/Wolter hat die Zivilisation heteronormativen Charakter, um den Preis jeder Ehrlichkeit im Argument:

In dieser Debatte wird also wieder ein Opfer präsentiert, ein Opfer des Judentums und des Islams: es ist der Mann als „ein vollständiger Mensch“ (Oestreich 2012). (43)

Und Juden und Muslime würden zu Tätern gemacht. (42) Was interessiert es, dass die Beschneidungs-Kritik gerade das Mannbarkeitsritual in Frage stellte und die Verwundbarkeit von Jungen unterstrich, gegen die sich die Befürworter allzu häufig barbarisch hart machten. Und dass wohl niemand den christlichen oder den abstrakten Mann als Opfer jüdischer oder muslimischer Beschneidung entwarf, sondern das muslimische und jüdische Kind in Schutz genommen werden sollte. Die Beschneidungskritiker müssen nun mal heteronormativ sein, und so schreckt man vor keiner Peinlichkeit zurück:

Dadurch dass in der Beschneidungsdebatte die Existenz der abendländischen Zivilisation von der Existenz der Vorhaut des Mannes abhängig gemacht wird, erscheint diese Zivilisation bewusst oder unbewusst als „Männersache“. (39)

An der Vernunft, an Adorno/Horkheimer, aber auch an Foucault halten sie sich schadlos. Religionsfreiheit als Freiheit von Religion habe religiöse Wurzeln. (24) Adorno/Horkheimers Kritik an Kultur die „den Körper als Ding, das man besitzen kann“ kennt (26) verwursten diese Genderforscher zum Argument, an der Beschneidungskritik sei der Besitzanspruch auf den eigenen Körper verdächtig. Und nun kommen Foucaults Untersuchungen zur Gouvernementalität „die im deutschen Sprachraum neuerdings für queerfeministische Beiträge zur Staatstheorie bedeutsam werden.“ (26) Neuerdings ist natürlich ein dehnbarer Begriff und kann natürlich auch die letzten 20-30 Jahre meinen. Gegen das folgende Attentat jedenfalls ist selbst Foucault noch in Schutz zu nehmen. Man muss das schon in Länge zitieren:

Mittels des Versprechens von Freiheit und Souveränität wird Regieren erst ermöglicht und zugleich konstitutiert sich so das Subjekt als ‚freies’ und ‚souveränes’. Diese Bewegung des Regierbarmachens setzt, so Foucault, ein spezifisches Körperverhältnis der Subjekte voraus: […] Nur wenn die Subjekte lernen, einen ‚eigenen’ Körper zu besitzen, können diese als freie und souveräne regiert werden, da dieses Besitzverhältnis über den Körper zur Grundlage von Freiheit und Souveränität wird.“ (Ludwig 2012:105f) Die Kritische Theorie hat das Herrschaftsverhältnis herausgearbeitet, das dem zugrunde liegt, was Foucault als diffuse „Macht“ behandelt. Gerade mit [sic!] Bezug auf die laufenden diskursiven Aushandlungen zur Zirkumzision sollte nicht vergessen werden, dass sich die Normen der modernen kapitalistischen „Zivilgesellschaft“ in einer Geschichte der Klassenherrschaft und des Kolonialismus, des Rassismus und des Antisemitismus gebildet haben, die ebenso die Geschichte der Heteronormativität ist. (26)

Ein flottes Stück Impertinenz, das ihnen selbst nicht ganz geheuer scheint. Weil das mit der Herrschaft so gar nicht zum Abstimmungsverhalten im Bundestag passt, kommt auf einmal folgendes Argument um die Ecke:

Indes zeigt die aktuelle Debatte, dass sich „Expert_innen“ im Kampf um die Deutungshoheit über diese Normen mit der „Volksmeinung“ gegen die Regierenden verbinden können. Denn in dem Maß, in dem das Recht, einen eigenen Körper zu „besitzen“, von wenigen Oberen im Prinzip auf alle – zunächst: europäischen, männlichen – Menschen ausgeweitet wurde, etablierte sich die Macht der dafür als sachverständig angesehenen Wissenschaft. (27)

Diese „Medizinisierung“ ist den Autoren nun grundsätzlich verdächtig, obwohl sie sich selbst für die besseren Mediziner halten. Wenn Voß in seiner Einleitung auf zwei Seiten gleich viermal „Unwissen“ bzw. „Unwissenheit“ beklagt, meint er damit gewiss nicht das antiisraelische Ressentiment seines Co-Autoren, sondern er beruft in offenbarstem Selbstwiderspruch die Medizin, die er später als „neue Art hegemonialer „Religion““ verurteilt.(6f) Dass – von Medizinern wohlgemerkt – die Beschneidung mit FGM vermengt werde, sei „wissenschaftlich nicht haltbar“. Wer diese Voß’schen Quellen der Wissenschaft dann aufsuchen will, stößt auf zwei Blogeinträge von Voß, die Altbekanntes summieren,[3][4] aber gewiss keine wissenschaftliche Diskussion der Argumente der Gegner darstellen. Tatsächlich massiert der letzte Teil des Buches etwas ausführlicher einige medizinische Studien.

Was den Vergleich von FGM und Jungenbeschneidung angeht, haben sich Aktivisten gegen FGM inzwischen fast durchweg auf den Vergleich von FGM Typ I (Ritzen oder Exzision der Klitorisvorhaut) und der Amputation der männlichen Vorhaut eingelassen, so z.B. Ayaan Hirsi Ali und Thomas Osten-Sacken. Und diese haben darauf hingewiesen, dass die Legalisierung der Beschneidung im Extremfall auch die Legalisierung, aber zumindest Legitimierung von FGM enthält, zumal in islamischen Staaten mit noch unklarer Rechtslage. Bei Çetin/Voß/Wolter werden solche Befürchtungen gar nicht erst  beachtet. Von Bedeutung erscheint ihnen allein die Abgrenzung zur zwangsweisen Geschlechtsumwandlung im Kindesalter oder zu FGM Typ II und III, der Entfernung von Klitoris und Schamlippen. So würden im Falle der Beschneidung weder Eichel noch Keimdrüsen entfernt und auch keine Hormonbehandlung oder Vaginalplastik wie bei Geschlechtsumwandlungen fände statt. Nun auf einmal solle in einer weiter gefassten Allgemeinheit im „Dialog“ eine Diskussion stattfinden darüber

[…] wie die engen Geschlechternormen und die Eingriffe in die Selbstbestimmung von Geschlecht grundlegend geändert werden können. Das träfe aber alle gesellschaftlichen Normen, es würde bedeuten, dass grundlegend etwas gegen die Gewalt gegen Frauen getan werden müsste, grundlegend Geschlechterstereotype angegriffen werden müssten, grundlegend etwas gegen die Medizinisierung und Psychiatrisierung der Menschen getan werden müsste. (36)

Aber vorsicht:

So gesehen geht es gar nicht um ein Missverhältnis in der Abwägung eines „Unrechts“ gegen ein anderes, sondern der öffentliche Aufschrei über die Zirkumzision entspricht genau der allgemeinen Unempfindlichkeit für das Leid der Intersexe. Beiden liegt die unerbittliche Norm zugrunde, der sich nichts entziehen darf. (38)

Die Beschneidungskritik ist also unempfindlich für das „Martyrium der Zwischengeschlechtlichen“ (36), sie wird dergestalt Täter und eine Kooperation mit ihr schließt sich Çetin/Voß/Wolter geradezu aus. Sie widerspreche nämlich der Medizin, die sie zuvor als gouvernementales Instrument benannt haben. Die nichtheteronormative Beschneidung gegen den Hegemon aus Medizin und faschistischer „Zivilisierungsmission“ zu verteidigen, und das mit medizinischen Argumenten, das ist in schärfster Kürze das Programm von Voß/Çetin/Wolter.

Kulturalismus, mit dem islamische Rechtswissenschaftler FGM rechtfertigen, ist zwangsläufig das Gärprodukt einer solchen abenteuerlichen Melange:

Durch die Argumente „Traumatisierung, sexuelle Störung und Körperverletzung“ werden religiös und gesellschaftlich bedingte Riten psychologisiert, medizinisiert und kriminalisiert und als „archaisch“ eingestuft. (43)

Daher greifen die Autoren hier auf eine wirkliche Autorität zurück, Aiman Mazyek, Vorstand des „Zentralrat der Muslime“:

Geht es um Hygiene, Krebsvorsorge […] und um die Vorbeugung von Geschlechtskrankheiten, so ist aus medizinischer Sicht die Sachlage unumstößlich zugunsten der Beschneidung. […]Die menschliche Gesundheit hat Priorität im Islam, die Bewahrung der menschlichen Unversehrtheit ist ein ebenso göttliches Gebot. (44)

Solange nur „existentielle Relevanz“ (41) über die Jahrtausende zugrunde liegt, ist Religion schon ok so:

Die kollektive sexualmedizinische Online-Erörterung bewegt sich also gänzlich innerhalb des Horizonts einer post-christlichen deutschen Mehrheitsgesellschaft, die sich zwar nicht mit ihrem besonders antisemitischen, dafür aber mit dem gesamt-westlichen kulturellen Erbe einer „Zugehörigkeit der Lust zum gefährlichen Bereich des Übels“ (Foucault 1986: 315) auseinandersetzt. Es liegt offenbar jenseits der Vorstellungskraft, dass Sex schon im vorkolonialen Islam „als etwas uneingeschränkt Positives gesehen“ wurde (Bauer 2011: 278). (32)

Nach dieser umfassenden Eliminierung kritischer Vernunft versucht der abschließende Artikel von Voß Zirkumzision – die deutsche Debatte und die medizinische Basis noch einmal ausführlicher, eben jene Medizinisierung, diesmal freilich der Beschneidung zu verteidigen. Komplikationen bewegen sich den zitierten Studien zufolge im Bereich von maximal 2%, davon seien fast keine schwerwiegend. Verluste der Empfindsamkeit seien wahlweise nicht nachgewiesen oder nicht relevant. Die präventiven Vorteile der Beschneidung seien nachgewiesen für HIV, Eichelentzündungen und Harnwegsinfekte. Wenigstens gesteht er noch negative Folgen für den Fall zu, dass die Beschneidung als „Mittel“ gegen HIV das Kondom ersetzen könnte.

Die Rezitation ausgewählter wissenschaftlicher Studien ist zwar positivistisch, aber kaum wissenschaftlich zu nennen. Es fehlt jede Reflexion auf Methode und Fragestellung. Studien gerade im medizinischen Bereich haben sich zuallererst durch ihre Unabhängigkeit von Pharma-Unternehmen und anderen Lobbyisten zu legitimieren. So fällt bei Voß bemerkenswerterweise die vorher regelrecht gebrüllte Frage unter den Tisch, ob die jeweiligen Studienleiter selbst beschnitten sind oder (religiösen) Organisationen angehören, die Beschneidungen einfordern. Es werden Ergebnisse präsentiert, an die man dann glauben soll. So sieht tatsächlich Medizin als Religion aus und so funktioniert Biomacht: Die invasive Herrschaft über Individuen zu ihrem vermeintlichen Besten.

Dass die Vorhaut ein zentraler Teil eines Sexualorgans ist, ein komplexes Hautsystem mit zahlreichen Nervenendungen und biologischen Funktionen, dass also die, zumal schmerzhafte, Entfernung desselben eine gewaltsame Eroberung des Individuums durch das religiöse Kollektiv bedeutet, diesem Machtverhältnis verschließt sich Voß völlig. Von diesem Grundproblem aber ist auszugehen, wenn Prävention überhaupt diskutiert wird. Kein ähnliches Organ würde vorsorglich entfernt werden, relativistische Vergleiche mit Blinddarm, Polypen oder Mandeln (sehr beliebt ist auch der Haarschnitt) haben den Sexualakt schon völlig entwertet. Diese spezifische präventive Organentfernung ist eben nicht mit dem hippokratischen Eid zu rechtfertigen und daher wird Kritik daran von beschneidenden Ärzten so heftig abgewehrt: Es geht um Schuld.

Bleibt man aber im statistischen Argument, dann gibt es für alle der Befunde, die Voß anführt, heftigste Widersprüche von anderen Studien. Gänzlich wertlos werden die zitierten Studienergebnisse auf der Metaebene, wenn entsprechenden Krankheitsraten für Länder, in denen Beschneidungen mehrheitlich stattfinden (USA, islamische Staaten, Israel, Teile des südlichen Afrikas) mit denen jener Ländern verglichen werden, in denen die Beschneidung sehr selten ist (z.B. Dänemark). Voß, dem Kritiker der zwangsweisen Geschlechtsumwandlung, genügen jedoch ein paar Studien und eine Komplikationsrate von „nur“ 2 %, damit er die Amputation der Vorhaut im Kindesalter für unbedenklich erklärt.

Die drei Autoren haben es geschafft, auf 90 Seiten Adorno/Horkheimer und Foucault für ihren Aufklärungsverrat als Geiseln zu nehmen. Es bleibt zu hoffen, dass dieses durchsichtige, zynische Manöver nicht nur Laien auffällt, sondern auch der akademischen Kaste, an die sich der Band richtet und dass aus dem Entsetzen über diese besonders offensichtliche und krasse Ent-Kritisierung von Theorie heraus ein Begreifen einsetzt darüber, wie akademische feministische Theorie wieder eine kritische werden könnte. Eine wirklich wissenschaftliche Analyse antisemitischer Kommentare zur Beschneidungsdebatte (tatsächlich gab es auch einige harte antisemitische Beschneidungsbefürworter) und eine medizinische Diskussion, die nicht in positivistischem Zauber aufgeht, stehen leider noch aus.

Beiträge auf „Nichtidentisches“ zum Thema:

Ein Beitrag zur Beschneidungsdebatte

“Die latente Unehrlichkeit ihres positiven Israel-Knacks” – Eine Diskussion der Gegner der Gegner der Beschneidung

Schuld und Vorhaut

Der Reflexionsausfall der Antisemitismuskritik am Beispiel Dershowitz

Das Recht des Kindes


[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Boycott,_Divestment_and_Sanctions

[2] http://www.antiimperialista.org/node/6665; http://www.bds-kampagne.de/articles/2010/11/11/keine-waffenlieferungen-nach-israel/

[3] http://dasendedessex.blogsport.de/2012/09/21/vorhautbeschneidung-bei-jungen-weg-von-vorannahmen-hin-zu-fundierter-diskussion/

[4] http://dasendedessex.blogsport.de/2012/06/29/die-gleichsetzung-beschneidung-der-vorhaut-bei-jungen-gewalttaetige-medizinische-eingriffe-gegen-intersexe-funktioniert-nicht/

„Wissenschaftsbetrug“ und System

Ein Gesetzesvorschlag der deutschen Hochschulen will Ghostwriter und Nutznießer mit 2 Jahren Gefängnis bedrohen. Interessant ist der projektive Charakter des Gesetzesvorstoßes. „Wissenschaftsbetrug“ soll das neue Verbrechen heißen. Die Begründung dafür lautet:

„Ghostwriter bringen die akademischen Grade und die Hochschulen, die sie verleihen, in Verruf“, sagte Verbandspräsident Bernhard Kempen. Das gehe zulasten der „großen Mehrzahl der Akademiker, die ihre akademischen Grade rechtmäßig durch Leistung erworben haben“.

Darin trotz noch ganz überkommener Stolz auf. Die Leistung der „rechtmäßig“ erworbenen Grade besteht in den Geisteswissenschaften meistens aus jahrelanger unentlohnter Arbeit. Bei einer durchschnittlichen Promotionsdauer von 5 Jahren beträgt die Förderungshöchstdauer 3 Jahre, in seltenen Fällen wird ein halbes Jahr Abschlußstipendium gewährt, sofern man nicht ohnehin schon qua Interdisziplinarität durch institutionelle Netze fällt. Kinder, Krankheit oder Komplexität und Arbeitsaufwand von Themen werden in aller Regel nicht berücksichtigt. Die Promotionsförderung ist ein weitgehend arbeitsrechtsfreier Raum, es gibt keinen gewerkschaftlichen Vertretungsanspruch, keine Arbeitgeberbeiträge. Man gilt als „Selbstständiger“, ist aber von der Steuer befreit. Mit einem Nettolohn von 800 Euro nach Krankenkasse bewegt man sich mit 30 Jahren hochqualifiziert an der Armutsgrenze. Die Förderung ist gar nicht selten noch an unbotsmäßige Ausbeutung geknüpft, in der Lehre, Forschung für Betreuer, editorische Aufgaben, administrative Aufgaben (Tagungen organisieren, Werbeträger gestalten) abverlangt werden, selbstverständlich im höchsten Interesse der Promovenden und seines Lebenslaufes.

Mit dem Wettbewerb um Exzellenzcluster wird auch jede Promovendengruppe selbst zum Investment, das für die blinde Reproduktion des Status quo immer exotischere repräsentative Werbeträger erarbeiten soll: Konferenzen, Workshops, Exkursionen, Tagungen, Publikationen, etc. Das alles entsteht nicht aus der gerechtfertigten, logischen Konsistenz eines Forschungsthemas heraus, sondern wegen des Tauschwerts dieser doch meist äußerlich bleibenden Veranstaltungen. Forschung ist daher heute in weiten Teilen Kulturindustrie und wie bei jener bedarf es gar keiner eigenen Ideologie sondern nur der immerwährenden Wiederholung des Bestehenden, das als stummer Zwang der Verhältnisse naturhaften Charakter annimmt.

Jede Hochschule und Stiftung, die ein Promotionsstipendium oder eine rechtlich etwas besser gestellte Promotionsstelle vergibt, rechnet bewusst damit, dass die Förderungsdauer die reale Arbeitszeit unterschreitet und dass sie die Arbeitskraft der Promovenden um diverse Grade in andere Zwecke kanalisieren können. Die Rede von „Stipendien“ wiegt Promovenden in einer trügerischen narzisstischen Grandezza und verschleiert ihnen selbst die eigene Ausbeutung. Eine klassische Umkehrung findet statt: Arbeitgeber und Arbeitnehmer werden vertauscht, der Ausbeuter stellt sich als Wohltäter dar, der Ausgebeutete als Empfänger. Mit einem Quentchen Bildungsadel in spe kann man den Promovenden lange genug bei der Stange halten, in Wahrheit ist er Faktotum: der überwiegende Teil der Forschungsleistungen an Universitäten wird von Promovenden geleistet, danach erwartet sie im besten Falle Lehre und Bürokratie, im weniger guten Fall Arbeitslosigkeit oder Umschulung.

Hochschulen profitieren trotz einiger irrationaler Produktionslücken und noch nicht ganz eingeholter Marktrationalität in erheblichem Maße von ihren Investitionen in die Promovenden. Dass das alles nicht dem bösen Willen der einzelnen Akteure geschuldet ist, dass durch das automatische Subjekt Verschleierungsformen entstehen, ist selbstverständlich. Erwarten sollte man zumindest von Gesellschaftswissenschaftlern heute, dass sie Grundlagen solcher Verschleierungsformen bestimmen und reflektieren können. Die „Rechtmäßigkeit“ von Promotionsleistungen in den Dienst zu nehmen, verschleiert, dass diese alles andere als rechtlich verregelt sind und die Hochschulen selbst den größten Teil der Misere zu verantworten haben, in der den Promovenden ihr Thema entweder so äußerlich oder so unbegreiflich wurde, dass sie ihre Arbeit von anderen schreiben lassen und dass sie dann noch damit rechnen dürfen, dass Prüfungskommission und Betreuer davon nichts ahnen werden.

 

 

 

„…jene kühlen Rationalisten…“

Die Rede von der Kultur war schon immer wider die Kultur, sagt unser alter Meister Adorno. Reden wir deshalb von Kultur. Kultur in Deutschland bedeutet zum Beispiel die katholische auf dem Dorfe, zu der ein Kind jüngst gegen den Willen der Mutter und dem Willen des Vaters entsprechend höchstrichterlich verdonnert wurde:

Unter Abwägung aller Umstände „erscheint es für das Kindeswohl förderlich und auch notwendig, den Besuch des Unterrichts und der Schulgottesdienste zu ermöglichen“, heißt es in dem abenteuerlichen Beschluss. Die Nichtteilnahme stelle aufgrund von „Ausgrenzung“ „eine Gefährdung des Kindeswohls dar“.

Nach Ansicht des Gerichts sei zu „berücksichtigen, dass die Kinder außerhalb der mütterlichen Wohnung sich in einem ländlich-katholisch geprägten Umfeld bewegen und christliche Symbole und Rituale für die Kinder nichts Fremdes darstellen, diese vielmehr als Teil des Alltags anzusehen sind“. So sei die Teilnahme am Religionsunterricht und an Gottesdiensten „lediglich eine Fortsetzung des Kontaktes mit Religion, den die Kinder bislang außerhalb der Haushalte der Eltern erlebt haben“. (Taz: 23.7.2012)

Auf einem katholischen Dorf – nehmen wir etwa jene aus einer alten geopolitischen Laune heraus wie Fliegen um den protestantischen Kuhfladen Marburg schwirrenden, düster vor sich hinrottenden Fachwerkmonster – auf einem solchen katholischen Dorf bedeutet dieser Kontakt mit Religion als Teil des Alltags zum Beispiel drei Meter hohe Christusstelen aus rotem Fels, der vor lauter Geißelung Christi mit gigantischen, mehrschwänzigen Peitschen starrt. Eingemeißelte Sinnsprüche scheinen direkt der ästhetischen Tristesse der verregneten Vorgärten entsprungen zu sein: „Sieh, oh Mensch, mich an und frag ob mein Leid deinem gleichen kann.“ Man kann das tolerieren als Zeichen der Geschichtlichkeit und gegen ikonoklastische Zerstörungsversuche sollte man sogar diese sadomasochistischen Sandsteinungeheuer verteidigen.

Der „Kontakt mit der Religion“ muss aber trotz dieser Öffentlichkeit von Religionsdruck gar nicht notwendig stattfinden, solange Eltern sich nicht in das Kollektiv einschweißen. Natürlich wird jeder in Kirchennähe um 6 Uhr morgens aus dem Bett geläutet, auch wenn heute jeder Laden und jeder Friedhof erst um zehn öffnet und atomuhrbeweckerte Bauern ohnehin schon um vier beim Melken sind. Und selbstverständlich werden Kinder indoktriniert. Etwa dazu, in der Karwoche um 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends mit dem Ratschenlauf die Glocken zu ersetzen. Übermüdete Kleinkinder werden dann von irgendeiner engagierten Furie vor sich her getrieben, damit sie nicht umfallen. Im Anschluß lernen sie das offizielle Spendensammeln für diesen Dienst am Herrn, während man „Zigeunern“ und „Scheinbettlern“ ganz christlich die Haustür zuschlägt und das Betteln mit Kindern gerichtlich verfolgt. Das christliche, ehrbare Spendengeld soll natürlich stets irgendwo einem guten Zweck dienen und zur Belohnung kriegt das Kind dann an Weihnachten eine neue Spielkonsole für 270 Euro, weil es so artig fromm war und damit es nach Weihnachten noch Sternsingen geht. Weil es sich in seiner medial marginalisierten Freizeit eventuellst doch mit „Asylanten“ aus nahegelegenen Flüchtlingsgefängnissen einlassen könnte, wird es zum Meßdienern und zur Mitgliedschaft in der KJG angehalten. Sollte immer noch Zeit für kritische Gedanken bleiben, wird es mit weiteren üppigen Geschenken zur Kommunion oder Konfirmation überredet, dann hagelt es Motorroller, I-Phones, Snowboards. Bei jedem Kirchgang passiert das sozial integrierte Kind ein Heldendenkmal, das ihm die armen deutschen Soldaten der beiden Weltkriege als Vorbilder und wahre Christen anempfiehlt, ein jährlich erneuerter Kranz der Universitätsstadt leistet offiziösen Hintergrund-Applaus, in Trachtenröcke gewickelte Öhmchen gießen die schmückenden Petunien in Angedenken an ihre gefallenen Helden der Ostfront.

Wer einem solchen Richterurteil entgeht und in wohliger Ausgrenzung nicht an diesem Spektakel teilhaben muss, räkelt sich im Bett mit Astrid Lindgren, Enyd Blyton, Charlaine Harris oder J.K. Rowling. Während in meinem einstigen, badischen Heimatdorfe andere in den Konfirmandenunterricht oder zum dort stark vertretenen syrisch-orthodoxen Pendant mussten, studierte ich auch gern die „Dokumente der Weltrevolution: Der Anarchismus“ aus dem Regal der Eltern oder ich las Emile Zolas „Bestie Mensch“. Mein kindlicher Hang zur Blasphemie beschränkte sich auf naive Vorträge darüber, dass Gott ja ein Sadist sein müsse oder es ihn nun mal nicht gebe, was ältere weibliche Nachbarn zu erschrocken geschürzten Mündern reizte. Nicht fehlte ein infantiler, antireligiöser Antisemitismus von dem ich glücklicherweise durch Kritik und diverse Lektüren geheilt wurde. Als Student las ich dann die Bibel, von vorn bis hinten, was mir einen erstaunlichen intellektuellen Vorteil gegenüber jenen verschaffte, denen das Ganze wegen Bibel- und Religionsunterricht völlig äußerlich geblieben war. Auch den Koran, versteht sich. Leider nicht auf Arabisch, aber dafür ganz durch. Und Nietzsche, den Verkannten. Mir lag nun nicht mehr soviel an Blasphemie als am Verstehen, warum Menschen diese Projektion akzeptieren und wie die atheistische Aufklärung über bloße nihilistische Negation des Christentums hinaus gehen könnte. Eines konzedierte ich jedoch nie: Dass die Nichtexistenz Gottes nicht beweisbar wäre, und daher nur Agnostizismus angebracht sei. Die Mysterien des Universums, der Mikrobiologie, der Psychosomatik oder der Tiefseezoologie mit dem religiösen Gottesbegriff zu vermischen, aus der von seriösen Wissenschaften ausgehaltenen Unsicherheit über offene Fragen der Astrophysik die Möglichkeit einer Existenz irgendeiner weltweit präsenten Gottesprojektion zu extrahieren, ist schlichtweg ein dummer Kategorienfehler.

Zeitgleich zu meiner eigenen Entradikalisierung des Atheismus entradikalisierte sich die christliche Religion. Der Religionsunterricht wurde während meiner Schulzeit langsam mit dem Ethikunterricht ergänzt, Kreuze in Klassenzimmern wurden in Frage gestellt, Kirchen leerten sich oder wurden ganz verkauft und Religion befand sich definitiv auf dem Rückzug.

Sie ist spätestens seit den islamischen Karikaturenkriegen wieder da, und sie nimmt aktuell das Judentum in Schutzhaft. Nicht nur das klerikalfaschistoide, antisemitische Kreuz.net entdeckt plötzlich Sympathien für das Judentum. Martin Mosebach, ein, es ist wirklich ZU infantil um lustig zu sein: „Büchner-Preisträger“, forderte jüngst in der FR ein ganz ökumenisches Verbot der Blasphemie, als gäbe es nicht selbiges schon längst. Matthias Mattussek leistet ihm im Spiegel Schützenhilfe, wegen der Beschneidungsdebatte sei ein Nachdenken über die Eindämmung der Blasphemie angeraten. Robert Spaemann schließt sich der Front in der Faz an:

Das deutsche Recht und mehr noch die deutsche Rechtsprechung muten es dem religiösen Bürger zu, dass das, was ihm das Heiligste ist, ungestraft öffentlich verhöhnt, lächerlich gemacht und mit Schmutzkübeln übergossen werden darf.

Irgendein Trauerkloß von Erzbischof wittert dieselbe Morgenluft und kopiert das natürlich sofort ab. Und im Tagesspiegel flennt sich Malte Lehming über die „Diktatur des Rationalismus“ aus, die kalt und herzlos „die Toleranz auf dem Altar des Humanismus“ opfere. Der individualistische Rationalismus in seiner „Eintönigkeit“ mache dem kollektiven, bunten Fastnachtsfest der Religionen und Kulturen die Farben und Formen madig. Ganz ähnlich überqualifiziert wertet sich Volker Heise in der FR an einem Phantom von „durchsäkularisierten“ Deutschen auf, denen er das schlimmste aller Verbrechen unterstellt: keine Hoffnung zu haben. Anders als christoide Menschen würden sie ihr Heil nur in „Rentenversicherungen,  Fernsehapparaten, oder Ferien auf Mallorca“ suchen, in einer unglaublich „vornehmeren Variante“ seien es „Apple-Computer, Theaterbesuch, Haus in der Uckermark oder im Taunus“. Ihre Kinder würden durchsäkularisierte Deutsche mit 1,8 Tonnen Ritalin jährlich füttern, während die Kirche doch für konzentrationsfördernde Therapien bekannt ist. Zum Beispiel durch jenen katholischen Franziskanermönch Brzica, der im Jahr 1942 in Serbien sehr konzentriert in einer einzigen Sommernacht 1360 gefangenen Serben und Juden die Kehle durchschnitt. Und was den vor Religionsstolz berstenden Heise ausgerechnet darauf bringt, den desolaten Immobilienmarkt in der braunen Uckermark gegen die christliche Fürbitte auszuspielen oder ein Haus im Fichtenforst Taunus gegen die Eucharistie? Vielleicht hat er in protestantischer Erwerbsethik gefehlt.

Nun ist solcher eitle, schleimige, altherrenreligiöse Furor altbekannt, schon Descartes schien sich bereits in einer Art Abwehrkampf gegen „Atheisterey“ zu befinden und Sokrates hatte bekanntlich die schönen Götter beleidigt. Speziell interessant wird das aktuelle, an der Beschneidungsdebatte aufgeladene Theater der Kulturkämpfer, wenn sie wie bei Spaemann einmal konkret werden:

Stellen wir uns vor, es erschiene irgendwo das Bild einer Gaskammer mit der Überschrift „Arbeit macht frei“, in der sich zahllose halbtote Frösche befänden. Niemand würde hier bestreiten, dass das Beleidigtsein von Menschen objektiv gerechtfertigt ist. Die Leugnung des Mordes an sechs Millionen Juden sollte zwar so wenig strafbar sein wie die Leugnung des Kreuzestodes Jesu zum Beispiel im Koran. Sie ist einfach eine falsche Tatsachenbehauptung. Für Wahrheitsfragen aber ist der Staat nicht die entscheidende Instanz. Die Verhöhnung der Opfer dagegen wäre eine objektive Beleidigung, die mit Recht nicht straffrei bliebe.

Spaemann stellt sich in dieser Ausgeburt seiner pathischen Projektion also tote Juden als halb(!!!)tote Frösche vor. Gerade mahnt uns schon Lehming an, dass Rationalisten ja auch Augen auf Fotos ausstechen würden ohne Skrupel zu empfinden, nun kommt hier noch so ein heimlicher Psychopath und bringt mental Frösche in Gaskammern „halb“ um, natürlich nur, um im besten Interesse der so verhöhnten Opfer etwas zu illustrieren. Dieses Etwas stellt sich so dar: Für Christen sei Gotteslästerung so schlimm wie eine zynische Verspottung von Shoah-Opfern für Juden und Atheisten. Die Verspottung nimmt Spaemann aber erst einmal selbst vor, in kurioser Ermangelung handgreiflicher und wirklich absurder Bösartigkeiten. Man müsse halt nur einmal drastisch vor Augen führen, was Blasphemie so bedeute und als Beispiel nimmt man dann das, was den Juden wohl so der Gott sein müsse, nämlich die Gaskammern. Und steckt da dann halbtot herumzappelnde Frösche rein. Als Gedankenspiel. Man wird ja wohl  noch, im Namen des Herrn. Sonst wäre ja Blasphemie gar nicht begreiflich zu machen, den gaskammeranbetenden Juden, Nazirationalisten und Blasphemikern, die gar nicht fühlen und wissen, wie heilig und groß und prächtig so ein christlicher Gott ist, der natürlich trotz der so feinsinnigen, spielerischen Gleichsetzung gar nichts mit Gaskammern zu tun habe. Dank Spaemann durften wir nun wirklich an Leib, Geist und Seele fühlen, wozu ein tonnenschwer gekränkter ungeglaubter Glaube bei schlecht getauften und durchaus heftig delirierenden Christen in der Lage ist.

In der Beschneidungsdebatte verläuft das ähnlich niveauvoll. Religionen, die über Jahrtausende aus ganz religiösen Gründen Pogrome durchführten, kumpeln nun das Judentum an, weil dessen offizielle Vertreter ein Ritual der Genitalverstümmelung gegen legitime Kritik und einiges antisemitisches Ressentiment verteidigen und dabei leider nicht immer genau trennen können. Die christlichen Reaktionäre wittern in dieser Gemengelage die einmalige Chance, hier das Judentum als menschliches Schutzschild für ihre Restauration des religiösen Kollektivzwangs instrumentalisieren zu können. Sie stellen dabei auf den Erfolg des Islamismus ab, der den Paragraph 166 StGB auf sich selbst zurückführte:

§ 166
Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen

(1) Wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) den Inhalt des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.

(2) Ebenso wird bestraft, wer öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften (§ 11 Abs. 3) eine im Inland bestehende Kirche oder andere Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung, ihre Einrichtungen oder Gebräuche in einer Weise beschimpft, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören.

Die unfriedlichen Religionen erhalten demnach Recht gegen die Blasphemie, wo friedliche Religionen beschimpft werden, ist der öffentliche Friede nicht gestört. Das ist auch das Problem von Mosebach, Mattussek und Spaemann. Das Christentum mauzt nur noch gelegentlich auf, etwa wenn der Papst als inkontinent karikiert wird. Nicht ein Blasphemieverbot wollen sie einfordern, sondern Unfrieden anstiften. Wozu ihnen, wie sie bewiesen haben, wirklich jede Geschmackslosigkeit und Stumpfheit recht ist, die sie dann dem Rationalismus als Mangel an Empathievermögen auf die Rechnung schreiben.

Dagegen lässt sich Blasphemie nur als adäquate Protestform betreiben und begreifen, als dialektische, notwendige Entsprechung zu narzisstisch dauergekränkten, erzchristlichen und neosensualistischen, kommunitaristischen Restauratoren. Gegen solche Zumutungen hat jedes Titanic-Titelbild sein Recht und darin ist Gesellschaft tatsächlich noch zu rerevolutionieren durch einfachsten Fäkalhumor und auf diese lächerliche, stumpfsinnige, beleidigte, zur Solidarität unfähige, faule, mit dem Lockenfrosch gepuderte, hirngespinstige, pathisch daherprojizierte, selbstermächtigende, widerwärtig lügende, kastrierende, menschenopfernde und kannibalisierende, sadistische, wahnsinnige, wagnerhörende, unbelesene, ranzige, autodafierende, pogromierende, abschiebende, füsilierende, garottierende, faschisierte, flachsinnige, partout nicht zu entblödende, von siebzehnschwänzigen Fuchsgespenstern aus allen chinesischen Provinzen gerittene Gottesprojektion der Christen gemünzte Unflätigkeiten.

Das Recht des Kindes

Die Verwirrung der Kleinbürger über das spätestens seit Rousseau gar nicht mehr so neue Rechtsubjekt „Kind“ ist offenbar. Kinder waren einst das Eigentum der Eltern und wurden wahlweise als Produktionsmittel oder Konsumptionsware verwendet, verheiratet und zur Mehrung ihres Wertes verprügelt. Ein Zweig der Beschneidungsbefürworter vertritt nun die Meinung, das Kind sei im Besitz der Eltern und damit gelte das Eigentumsrecht, mit ihm gewissermaßen zu verfahren, wie es beliebt. Ein gesellschaftlicher Eingriff in dieses Private kündige den Faschismus an, die Abschaffung jedes Privaten.

In der Beschneidungsdebatte krankt dieses Argument stets an der falschen Voraussetzung, dass es sich bei der Beschneidung um ein harmloses, irgendwie akzeptables Ritual handle und daher der gesellschaftliche Eingriff maßlos sei. Im Kern ist das also wieder kein rechtliches Argument, sondern um eine medizinische Fehlinformation. Der Eingriff des Gesellschaftlichen wird gar nicht per se als Skandal betrachtet vielmehr die vermeintliche Maßlosigkeit. Nehmen wir einmal an, es handele sich um Maßlosigkeit, so wäre selbst diese innerhalb einer gewissen Varianz zu situieren.

Das Rechtssubjekt Kind steht in einer Reihe von Rechtssubjekten, die ihr Recht nicht selbst wahrnehmen oder einklagen können und bei denen zwangsläufig eine gesellschaftliche Instanz entstehen muss, die das Recht einklagt. Da wären etwa jene Menschen mit Behinderungen, deren intellektuelles oder körperliches Vermögen keine eigenständige Formulierung von Rechtsansprüchen gestattet. Für sie gibt es Kontrollinstanzen, die sicherstellen sollen, dass sie nicht in Sklaverei oder Misshandlung leben müssen. Es gibt rechtliche Vorschriften für behindertengerechtes Bauen und für die Standardpflege.

Dann wären da die Tiere. Das Tier ist zwar Privateigentum einer Person, dennoch wird bei Verdacht der Tierquälerei ermittelt. Jemand, der seinen Hund auf dem Hof verprügelt, könnte ihn bald polizeilich entwendet bekommen. Ein Zoo oder Bauernhof, der tierrechtliche Mindesstandards nicht erfüllt, wird geschlossen ohne dass das Tier je ein Wort vor Gericht aussagen muss.

Und zuletzt die Toten. Bei den Yanomamö werden Verstorbene verbrannt und die Asche mit Bananenbrei gemischt gemeinsam getrunken. Von anderen Gesellschaften kennen wir zumindest überlieferte Rituale, nach denen der Kopf des Toten abgetrennt, separat bestattet oder eventuell als Schädel verziert und aufgebahrt wird. In Ghana gibt es im Norden den Brauch, Tote in der eigenen Schlafhütte zu bestatten, den Lehmboden zu erneuern und dann stets 10 Zentimeter über der Leiche der Mutter zu schlafen. Alle diese Rituale gälten in Deutschland als Störung der Totenruhe oder Gefährdung der öffentlichen Gesundheit und wären trotz allgemeiner Harmlosigkeit verboten.

Wie auch immer man die einzelnen rechtlichen Verregelungen bewertet: Tote, Tiere und Menschen mit Behinderungen sind Rechtssubbjekte, die gesellschaftlichen Normierungen unterliegen und die gesellschaftliche Instanzen seit Jahrzehnten sowohl kontrollieren als auch einklagen, ohne dass eine Korrelation zu florierendem Antisemitismus, Faschismus oder Antiziganismus hergestellt werden könnte. Wenn nun aber das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit gegen seine religiösen Eltern in der Beschneidung plötzlich öffentlich verhandelt wird, sehen vermeintliche Liberale hier den Faschismus heraufziehen.

Die Entwicklung der Kinderrechte ist dem Erfolg der einst als „jüdische Unart“ verschrieenen Traumatheorien zu verdanken. Nach dem Ende des zweiten Weltkrieges entstand eine Debatte, ob Misshandlung und körperliche Züchtigung aus Kindern jene Sadisten oder pathischen, zur Solidarität unfähigen Individuen schuf, die im zweiten Weltkrieg dann, wenn nicht selbst Massaker begingen so doch widerstandslos diese bezeugten. Die Entwicklung von Kinderrechten in Deutschland erfolgte mit einer antifaschistischen Argumentation: Das Ideal des gesunden Kindes war zu Mitleid, Individualität, Freude und Solidarität fähig. Im Zuge dieser Argumentation wurde zunächst die infame körperliche Züchtigung an Schulen ausgerottet. Das Züchtigungsrecht der Eltern fiel in anderen Staaten früher, in Deutschland erst 2000, Großbritannien folgte 2004.

FGM, die Verstümmelung der weiblichen Genitalien, ist in Deutschland nicht explizit verboten, sie fällt allerdings nach allgemeiner Auffassung unter den Strafbestand der gefährlichen oder schweren Körperverletzung. Eltern, die ihr Kind im Ausland verstümmeln lassen, machen sich der Mittäterschaft schuldig und können belangt werden.

Dass nun, nur 12 Jahre nach dem Verbot der Ohrfeige und noch mitten in der rechtlichen Diskussion um FGM auch die Beschneidung diskutiert wird, ist überhaupt nicht „überraschend“ oder unzeitgemäß, sondern stellt sich als logische Folge der vorgehenden Diskurse dar. Die Integrität des Kindes wurde schrittweise heraufgestuft, jeweils für normal und kultürlich gehaltene Praktiken hinterfragt. Die altbekannten Reaktionsmuster finden sich nun in der Beschneidungsdebatte: Es sei normal, Kultur, Religion, schon immer so gewesen, harmlos, und: Recht der Eltern auf das Kind. Die Erfahrung mit den bisherigen Diskursen kann zu einem skeptischen Optimismus der Vernunft führen: Im Endeffekt wurde, teilweise nach jahrzehntelangen Kämpfen, das Recht des Kindes erweitert und religiöse Instanzen sowie rachsüchtige Eltern und Lehrer in Schranken verwiesen. Es bleibt zu hoffen, dass sich das im Falle der Beschneidung rascher und zumindest ähnlich effektiv ereignet.

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Dieser Text ist eher ein Nachtrag. Die Trilogie zur Beschneidung auf Nichtidentisches ist über folgende Links abrufbar:

Ein Beitrag zur Beschneidungsdebatte

„Die latente Unehrlichkeit ihres positiven Israel-Knacks“ – Eine Diskussion der Gegner der Gegner der Beschneidung

Schuld und Vorhaut