Der russische Krieg gegen die russischen Soldaten

Die Hauptfrage des Krieges in der Ukraine war nie, warum die Ukrainische Armee weiterkämpft. Immer stärker rückt aber die Frage in den Vordergrund, warum die russischen Soldaten trotz ihrer katastrophalen Verluste weiterkämpfen und noch immer in sinnlose Offensiven in der Stadt Marinka und in Richtung Kupiansk stürmen. Mit erbeuteten Waschmaschinen lässt sich das längst nicht mehr erklären. Die Zahl der getöteten russischen Soldaten wird von der ukrainischen Armee auf 270.000 datiert, die der Verwundeten auf 800.000. Täglich neue Aufnahmen von Schlägen aus Raketen und Drohnen und die auf der Plattform www.oryxspioenkop.com gesammelten Nachweise aus Fotos mit Geodaten legen nahe, dass sich die von der Ukrainischen Armee gelieferten Angaben trotz einer für Propaganda naturgemäßen Übersteigerung wesentlich näher an der Realität bewegen, als die Zahlen der russischen Militärpropaganda.
70 Prozent der Verluste auf beiden Seiten gehen auf Artillerie zurück und das von der NATO fast vergessene Artillerieduell erfährt daher eine neue Rolle in der Kriegsführung und -planung. Dahingehend konnte die russische Militärdoktrin ihre artilleriezentrierte Rüstungsindustrie voll ausnutzen und aus ihren fast unerschöpflichen Lagern mehr als 20.000 unpräzise Geschosse pro Tag abfeuern, während die Ukrainische Armee wesentlich präzisere Maschinerie nutzen kann, aber die ständige Munitionsknappheit beklagt. Diese Knappheit macht damit allen NATO-Staaten zu schaffen. (https://www.youtube.com/watch?v=3gbc-v6TGfE, https://www.youtube.com/watch?v=wRtYyjvYTWk&t=71s) Zudem sind vor allem die Rohre der Waffensysteme nur auf einige hundert bis wenige tausend Feuervorgänge ausgelegt und werden von der ukrainischen Armee vollkommen vernutzt, weil sich ein Austausch in dieser Zahl nicht realisieren lässt.

Russland wiederum hat inzwischen nicht nur einen Großteil der nutzbaren Artilleriemunition verbraucht und Maschinerie verschlissen, es hat die Hälfte seiner Artillerie und Panzer verloren und seinen Kriegseinsatz auf 100 Milliarden pro Jahr erhöht, etwa ein Drittel des Staatshaushaltes von 340 Milliarden. (https://www.reuters.com/investigates/special-report/ukraine-crisis-intercepts/) Das wird Russland absehbar in den Staatsbankrott führen, in den Ruin der öffentlichen Infrastruktur, des Sozialwesens, des Medizin- und Bildungssystems. Das bedeutet, dass der imperialistische Faschismus Putin’scher Prägung Verbrechen gegen die russische Gesellschaft ebenso einplant wie seine notorischen Kriegsverbrechen in der Ukraine und nur mit einer langfristigen Verarmung der russischen Gesellschaft und Massenflucht zu rechnen ist.

Das Vabanque-Spiel um die rasche Eroberung und Annexion der Ukraine als russifizierter Vasallenstaat und umzuverteilende Beute für Oligarchen, Militärs und auch für die Petit-Bourgeoisie mit dem Wunsch nach einer geraubten Ferienwohnung auf der Krim, wurde bekanntermaßen von der ukrainischen Armee und Partisanen, darunter jene kampferprobten Elemente aus dem rechtsradikalen, neonationalistischen Lager (1, 2, 3) vereitelt. Dennoch konnte die russische Armee durch den Überfall genug Rohstoffquellen und Ackerland erobern, um auch die aktuellen Verluste noch als Investment für diese Beute rationalisieren zu können. Die vollständige Kontrolle über das Asowsche Meer und die Bedeutung der Marinebasis Sevastopol tragen zur Rationalisierung bei und lassen befürchten, dass das System Putin dafür noch wesentlich mehr Soldaten opfern wird.
Derweil legen Mitschnitte von Militärpersonal nahe, dass es noch einen zweiten, zynischeren Grund für den verschwenderischen Umgang mit Soldaten gibt: Eugenik. „Sie entsorgen uns einfach“, empört sich ein Soldat. Ein anderer sagt, im zukünftigen Russland werde offene Sklaverei herrschen. In der russischen Geschichte ist die Dezimierung der eigenen Gesellschaft durch Gefangenenlager und Kriege Teil der nationalen Kultur. Durch die Dezimierung kann ein Zuwachs an Wohlstand durch Umverteilung von Beute simuliert werden. Die entstehende Angst und Frustration sucht sich ihre Kanäle über häusliche Gewalt, Alkoholismus und in der Armee durch die Dedovshchina: Systematische Gewalt und extreme Ausbeutung entlang der Hackordnung.

Im russischen Suprematismus lebt zudem die Verachtung für ehemals kolonialisierte Gesellschaften fort. Die russische Armee opfert daher in der Ukraine primär die Angehörigen ethnischer Minderheiten und ködert mit Belohnungen vor allem die ärmsten Schichten der Gesellschaft. Etwa 40.000 Euro verspricht Putin der Familie eines getöteten Soldaten bislang. Allerdings wird diese Summe häufig nicht ausgezahlt, weil die realen Verluste verheimlicht werden. Das russische System ist den Oligarchen und den Befehlshabern der Armee verpflichtet, nicht jedoch den Armen. Daraus entsteht der eugenische Charakter der russischen Kriegsführung, ein Zug, der den meisten Armeen strukturell eigen ist, der im russischen Chauvinismus jedoch sehr ausgeprägt zutage tritt. Zuletzt wurde von einem russischen Kriegsgefangenen in Robotyne erneut von koordiniertem russischem Artilleriefeuer gegen sich zurückziehende russische Einheiten berichtet.
Den Soldaten bleibt das nicht verborgen und in der Geschichte sind unterschiedliche Reaktionen darauf verbürgt, von der Desertion bis hin zur Meuterei. Im Vietnamkrieg wurde das „Fragging“ unbeliebter Kommandeure in über 1000 Fällen dokumentiert. Unter russischen Soldaten äußert sich die Aggression gegen Vorgesetzte bislang eher autoaggressiv, als exzessiver Alkoholkonsum und Apathie.

Die russischen Soldaten, die verstanden haben, dass sie verachtet werden, melden sich über Chats und Telefonnummern bei der ukrainischen Armee, um ihr Überlaufen zu verhandeln. Im Falle eines Überlaufens können sie entweder Asyl beantragen oder ihren Austausch mit ukrainischen Kriegsgefangenen. Kriegsverbrechen gegen russische Kriegsgefangene, vor allem Exekution und Folter sind bislang in 50 Fällen dokumentiert, eine für solche Konflikte sehr niedrige Zahl, die für eine hohe Disziplin unter den ukrainischen Truppen spricht. Dem gegenüber stehen die massiven, systematischen und seriellen Kriegsverbrechen der russischen Armee.

Der Frontverlauf scheint nach wie vor nur geringfügig verändert, was die hohe Motivation ukrainischer Truppen erklärungsbedürftig machen würde. Jedoch waren die Schlachten um Robotyne, Staromajorske und Klischivka von einem Abnutzungskrieg tief in den besetzten Gebieten begleitet, bei dem rotierende Truppen, Munitionsdepots und jegliche Lastwagenlieferungen von der ukrainischen Artillerie, von Drohnen und Raketen systematisch zerstört wurden. Gleichzeitig hat man nun an mehreren zentralen Stellen mit Wärmebildkameras und Minenräumsystemen die extrem dichten Minenfelder überwunden. Die extrem verzögerte Lieferung von Kampfflugzeugen und das in NATO-Staaten bereits beobachtbare Training der Pilot*innen wird im ersten Quartal 2024 einsetzen und dadurch wesentlich tiefere Schläge der Luftwaffe ermöglichen. Daraus resultiert der Optimismus der ukrainischen Armee, noch im Herbst größere Geländegewinne in Richtung Tokmak, Melitopol, Berdiansk und Mariupol zu erzielen und dadurch die logistischen Versorgungsrouten zu kappen, sowie Bakhmut einzukesseln, und dann im Frühjahr und Sommer des kommenden Jahres mit voller Luftunterstützung den Keil zu öffnen und eventuell schon im Sommer auf der Krim zu landen und dort einen Brückenkopf auszubauen.

Selenskyjs Zustimmungsraten und die Stärke seiner integrativen Regierung mit einem jüdischen Präsidenten und nun einem muslimischen Krimtartaren als Verteidigungsminister sowie die Integration internationaler Freiwilligenkämpfer aus dem eher bürgerlichen Lager und die vollständige Orientierung an westlichen Demokratien machen eine mittelfristige Bedrohung der Ukraine durch interne neonazistische Gruppierungen eher unwahrscheinlich. Das strukturell gegen Minderheiten gerichtete Verteidigungsnarrativ der Neonazis ist nun mit einem realen mächtigen Gegner konfrontiert und muss mit dem bürgerlichen Nationalismus eher konkurrieren als dass es diesen auf sein Narrativ verpflichten kann. Der entstandene bürgerliche Nationalismus ist erwartbar eher integrativ und betont in Abgrenzung zu Russland liberale Werte wie Redefreiheit und Pressefreiheit. Die Geflüchteten werden mit ihren Erfahrungen tendenziell zur Liberalisierung der Gesellschaft beitragen. Dennoch bleibt die Ukraine als Hotspot für neonazistische Aktivitäten wie Rekrutierung, Wehrsport und Waffenhandel für ganz Europa ein Problem, wenngleich ein nachrangiges angesichts der viel größeren Faktoren für die beängstigend wachsenden Zustimmungsraten zu rechtsradikalen Parteien in fast allen europäischen Ländern.
Der Zerfall des russischen Wagner-PMC und anderer Söldnertruppen mit engen Bindungen an mafiöse Strukturen, rechtsradikale Parteien und Neonazis lässt einen Machtkampf zwischen russlandorientierten (1, 2) und ukraineorientierten Nazis eher wahrscheinlich werden. In Europa sollten zuallererst die Wahlergebnisse für die von Russland geförderten rechtsradikalen Parteien wie AFD, VOX, FdI, RN, FPÖ, Fidesz und Jobbik äußersten Grund zur Besorgnis geben. Auch hier werden Spaltungen zwischen den russlandskeptischen skandinavischen Rechtsradikalen und den russlandtreuen Parteien sichtbar – auch wenn diese kaum entscheidend sein werden, wo die gemeinsame Feindschaft gegen Nichtweiße und Nicht-Heterosexuelle dominiert. Der russische Faschismus mit seiner Militarisierung bis in die Kindergärten und seiner vollständigen Aufgabe internationaler Reputation bleibt für beide eher ein Vorbild als die ukrainische Demokratie.

Eine bislang unterschätzte Bedrohungssituation aus dem Krieg ist die Entwicklung des Krieges mit kleinen zivilen Drohnen zur Observation und zum Absetzen von kleinen Sprengsätzen und Minen. Diese Entwicklung wird assymetrische Konflikte und insbesondere den Djihadismus absehbar verändern.







Die Ideologieproduktion zum neuen Cannabisgesetz

Der Gesetzentwurf zur Legalisierung von Cannabis liegt vor und produziert Ideologien.
Das Gesetz ist an wichtigen Stellen ein Fortschritt: Privater Konsum wird legal, niemand kann mehr wegen THC im Blut entlassen werden (z.B. Polizisten, Richter, Zollmitarbeiter, etc.). Die Beschaffung allerdings wird ein bürokratisches Monstrum, für das man sich „Cannabis-Clubs“ ausgedacht hat, die höchstens 500 Personen umfasssen dürfen, aber ein Maximum an Kontrollmaßnahmen leisten sollen.
Immerhin: Samenbesitz, -erwerb und der Handel über Grenzen hinweg werden mit §4 rückhaltlos legalisiert.

https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/C/Cannabis/Gesetzentwurf_Cannabis_Kabinett.pdf


Die größte Unklarheit besteht zwischen der Erlaubnis, drei weibliche Pflanzen zum Eigenanbau großziehen zu dürfen, jedoch nur 25 Gramm davon „besitzen“, also lagern zu dürfen. Gewächshauspflanzen können weit über 300 Gramm, in einigen Fällen auch über 1000 Gramm Ertrag bringen. Ein Ertrag von 80-100 Gramm pro Pflanze gilt als untere Grenze der Anbauwürdigkeit einer Sorte. Der Eigenanbau für den regelmäßigen Eigenkonsum wird so unter Kunstlicht gezwungen, um eine ganzjährige Versorgung durch Cannabonsai-Pflanzen zu ermöglichen. 1 Gramm pro Tag ist für Dauerkonsumenten normal. Das bedeutet, alle 25 Tage eine weitere Pflanze erntereif zu haben. Die Ernte kann aber nur nach der Blütenreife stattfinden.
Die drastische Beschränkung von Vorratshaltung und Anbau kann daher zu Mehrkonsum führen. Steht eine Ernte an, müssten rein rechtlich Restbestände rechtzeitig aufgeraucht werden – denn die Entsorgung ist nicht geregelt. Eine Abgabe an andere Personen ist nur im Rahmen der Clubs legal. Diese Clubs werden sich naturgemäß auch entlang politischer Verwerfungslinien bilden – schließlich will nicht jeder in einen Club christkonservativer Cannabiskonsument*innen eintreten.

Trotz der drastischen, rundweg enttäuschenden Einschränkungen wird die Scheinlegalisierung als Bedrohung diskutiert. Auffällig ist, dass sich auch die Befürworter*innen des Gesetzesvorschlags häufig auf die Gleichsetzung mit Alkohol zurückziehen. Ob Gehirnschädigungen bei Jugendlichen, psychische Erkrankungen, Unfälle oder Sucht: Der ritualisierte Satz in den Radios derzeit lautet: „Das gilt aber auch für Alkohol“.

Das ist eine schlechte Defensive. Alkohol hat eine vielfach größere psychische und physische Suchtwirkung und vielfach größere Hospitalisierungs- und Verkehrsunfallszahlen. Nach wie vor ist kein einziger direkter Todesfall durch Cannabiskonsum bekannt – wohl aber durch Spice und synthetische Cannabinoide, die als „Legal High“, Tees und Badesalz vertrieben werden und nichts mehr mit Cannabis oder THC gemein haben.

Cannabis hat nun einmal keine physische Suchtwirkung und nur eine milde psychische, die sich als Gewöhnung beschreiben lässt. Wer aufhören will, hört auf. Dauerkiffer können grantig und suchtig werden, wenn sie keinen Stoff bekommen – was aber auch für Kaffeetrinker gilt, denen der Morgenkaffe verweigert bleibt. Dennoch ist der Schritt in die Verwahrlosung durch Cannabis bislang von einem einzigen Faktor dominiert: Der Schritt in die Beschaffungskriminalität.
Wer Cannabis konsumiert, vernachlässt für gewöhnlich trotzdem nicht Körperpflege und Nahrungsaufnahme. Bei Alkoholiker*innen ist die körperliche Verwahrlosung die Regel. Alkohol schiebt sich in der Bedürfnishierarchie nach oben und zwingt Abhängige dazu, Nahrung, Waschen, etc. hintanzustellen. Dosissteigerung ist die Regel. Das starke Zittern hält bei starken Alkoholikern selbst noch nach dem Konsum von Alkoholmengen an, die eine normale Person volltrunken machen würden.

Bei Cannabis stellt sich auch bei Dauerkonsumenten eine Dosissteigerung nur in Grenzen ein. Auch Dauerkonsumenten werden es kaum je schaffen, mehr als 2 Gramm am Tag dauerhaft zu konsumieren.
Und selbst wenn Sorten wie Bruce Banner, Banana, Gorilla, Critical Kush theoretisch THC-Gehalte von 30% erreichen, entspricht das noch nicht einmal gutem Haschisch. Solche Sorten waren bislang teuer und der Illegalität geschuldet: Hochpotentes Cannabis lässt sich für gleiche Wirkung mit bis zu dreimal geringerem Gewicht schmuggeln und verkaufen, wurde aber gerichtlich häufig einem normal- und niedrigpotenten Cannabis gleichgestellt. Ein Großteil der Konsument*innen wird sich in einem transparenten Markt aus freien Stücken für schwächere, berechenbare Sorten entscheiden und sorgfältiger nach Geschmack aussuchen als nach THC-Gehalt.

Was die Schädigung von Gedächtnis und Gehirn von Jugendlichen angeht, haben Arbeit und ideologische Erziehung ungleich größere Auswirkungen. Auch starker Cannabiskonsum in der Jugend wird den später Erwachsenen weniger schwer zu schaffen machen als etwa der Bildungshintergrund der Eltern oder eine streng religiöse Erziehung, Zugang zu gutem Bildungsmaterial oder die Qualität von Lehrer*innen in der Schule, die der Hauptfaktor für Lernerfolge sind. Die meisten psychischen Schäden treten durch Mischkonsum ein: u.A. durch Alkohol, der von Dauerkiffern als Ersatzdroge verwendet wird, aber auch durch Pilze, unaufgeklärt eingenommene Pflanzendrogen (Engelsblüten, Muskatnuss, Fliegenpilz), Amphetamine oder Cocain. Dauerkiffer sind in der Regel zufrieden mit Cannabis, weil die Wirkung über Jahre hinweg relativ gleich bleibt.

Entgrenzungsängste sind unrealistisch, was Cannabis angeht. Angemessen sind sie bei Alkoholismus. Alkoholikern geht es schlecht, wenn sie nicht mindestens eine Flasche Schnaps am Tag konsumieren. Der Entzug kann Alkoholiker töten. Sie werden durch das Zittern bewegungsunfähig, können nicht mehr Treppen steigen oder Flaschen öffnen, können durch den Entzug Psychosen entwickeln.
Dauerkiffer hören von einem Tag auf den anderen auf zu kiffen, ohne körperliche oder psychische Probleme zu haben.
Nikotin- und Alkoholsucht bleiben jedoch ein Leben lang mit einer Rückfallgefahr behaftet. Wer Nikotin- oder Alkoholsüchtig war, wird immer unter Cravingattacken leiden. Dieses Craving wird von einer ganzen Industrie systematisch ausgebeutet. Gaststätten, Restaurants, Getränkehändler, Brauereien, Discos leben vom Alkoholkonsum. Supermärkte verkaufen nach wie vor Alkohol in Kleinstflaschen an der Kasse als Schnuckware – um Alkoholiker*innen rückfällig zu machen.
An der projektiven „Diskussion“ um die ohnehin schon halbgare „Legalisierung“ von Cannabis redet sich die Bevölkerung primär ihr Alkoholproblem schön.

Ebenso geht unter, dass der generelle Umgang mit Sucht grundsätzlich überholt werden muss und eine Entkriminalisierung von Drogen eine unmittelbare Verbesserung der Situation von Suchtkranken zur Folge hat. Drogenprostitution und Beschaffungskriminalität sind zwei der größten Faktoren, die Suchtkranke in Verelendung treiben. In der Diskussion des Cannabisgesetzes wird nach wie vor nicht annähernd hinreichend thematisiert, wie reaktionär Gesellschaft mit Sucht umgeht und wie kontraproduktiv Kriminalisierung für Suchtkranke ist. Die Legalisierung von Cannabis ist überfällig, weil die Droge um ein vielfaches harmloser und weniger gesundheitsschädlich ist als Alkohol und Nikotin.
Eine wirklich humanistische Drogenpolitik ginge aber nicht nur neoliberal vom egoistischen rekreationalen Konsuminteresse der Einzelnen aus, sondern von der Irrationalität der Kriminalisierung Suchtkranker, die zuallererst bei der Entkriminalisierung und kontrollierten medizinischen Abgabe harter Drogen ansetzen müsste. Drogen wie Amphetamine, Cocain oder Opiate und Opioide greifen tief ins hormonelle System ein und erzeugen eine Suchtwirkung, deren Entzug psychisch in vollständige Depression führt oder körperlich in Folter mit lebensbedrohenden Reaktionsbildungen beim kalten Entzug mündet. Hier muss eine humanistische Gesellschaft Möglichkeiten schaffen, das unmittelbare Craving von nun einmal Suchterkrankten legal zu stillen, um dann in einem zweiten Schritt medizinische Substitutionstherapie und langfristige Entzugskonzepte anzubieten.
In einem dritten Schritt würde ein aufgeklärter Umgang mit Drogen nicht nur eine Liberalisierung anstreben, sondern auch eine stärkere Kontrolle von legalen, akzeptierten Drogen. Die Opioidkrise, die in den USA seit den 1990ern andauert, wurde durch legale Medikamente ausgelöst: vor allem Fentanyl und Oxycontin. Die mafiöse Eroberung des US-amerikanischen Marktes für Oxycontin wurde durch die Serie „Dopesick“ thematisiert. Im Schatten der restriktiven Drogenpolitik profitierten wieder einmal legale Tabletten. Im Jahr 2021 starben in den USA 220 Menschen täglich an einer Überdosis. In Deutschland ist die Verschreibung des vergleichsweise schwachen Tramadols üblich. Zwar gilt dieses als gering suchterzeugend, kann aber bei bereits Suchterkrankten Rückfälle auslösen. Bei der Verschreibung von Opioiden gegen starke Schmerzen muss eine Abklärung von vorliegenden Suchterkrankungen stattfinden, um Rückfälle auszuschließen. Dazu bedarf es eines grundlegend anderen Verständnisses von Suchtkrankheit als das bürgerlich-reaktionäre, das Sucht primär auf Disziplinlosigkeit, Arbeitsscheu und eigenes Verschulden zurückführt und die Suchtkranken bekämpft.

Die vermurkste Legalisierung von Cannabis stellt leider ein Ablenkungsmanöver dar, das durch die in Regulierungswut transportierten Ideologien eine wirklich progressive Drogenpolitik sabotiert.

Das kuriose Brillenhämatom des Andreas Jurca

Der AFD-Politiker Adreas Jurca hat ein Brillenhämatom und vorgeblich einen Bruch des Sprunggelenks. Er behauptet vor der Kamera, von „Migranten“ verprügelt worden zu sein, kann angeblich die Herkunft recht präzise einordnen, habe diese also gesehen. Ein Parteifreund sei dabei gewesen, wird aber in den Berichten nicht als Zeuge präsentiert.
Dieser mutmaßliche Angriff kommt wenige Tage nach einer medialen Show über eine Veröffentlichung der Adressen von AFD-Politiker*innen durch eine Frankfurter Antifa, wodurch es die AFD schaffte, die Solidarität bürgerlicher Parteien einzuwerben. Was läge näher, als diesen „Opferstatus“ der rechtsextremen Partei weiter zu vertiefen.

Wer aber mit Schlägereien und Prügeleien zu tun hatte, weiß, dass Schläge ins Gesicht meist mit der Faust oder der Handfläche oder -kante oder dem Ellenbogen oder Tritten erfolgen, von der Seite, auf Backen oder Lippen, Nase, Ohren oder Schläfen. Augen werden eher oberhalb und seitlich über der Braue verletzt, weil Ausweichreflexe für ein Ausweichen sorgen. Natürlich gibt es individuelle Schlag- und Kampftechniken. Es gibt aber auch Gesetzmäßigkeiten, die für alle gelten. Bei einem frontalen Faustschlag auf die Knochenbereiche ist die Verletzungsgefahr für die geballte Faust sehr hoch, Knochenbrüche beim Zuschlagenden wahrscheinlich. Am Gesicht des Geschlagenen kommt es zu Aufplatzungen, die häufig genäht werden müssen. Daher sollen Boxhandschuhe diese Schlagenergie von der Oberfläche in die Tiefe überführen, um ein K.O. zu erzeugen und nicht die blutigen Fleischwunden aus der Anfangszeit oder den Bareknuckle-Kellern des Boxens. Beim Boxen mit Handschuhen oder auf der Straße auch Schlagringen entstehen „cuts“ aufgrund der großen Aufprallfläche auf oder über der Braue.

Jurca hat in den frühesten Aufnahmen auf beiden Seiten quasi identische, etwa 1cm große Läsionen knapp unterhalb der unversehrten Braue und dementsprechend ein sehr regelmäßiges Brillenhämatom. Lippen und Backen sind unversehrt und letztere laufen erst auf späteren Aufnahmen mit dem absackenden Blut mit an.
Das bedeutet, der Täter hätte an der gleichen Stelle unterhalb der Braue extrem kontrolliert mit gleicher Energie zuschlagen müssen – und danach vom Opfer ablassen. Das ist in einer hektischen Kampfsituation mit Abwehrreaktionen und Ausweichreflexen extrem unwahrscheinlich, es würde eine vollständige Fixierung Jurcas und ein präzises Zielen des Täters voraussetzen. Die Aufprallfläche der Faust würde auch eine Läsion erzeugen, die deutlich größer ist und die Braue erfasst.
Auch der Bruch des Sprunggelenks ist ungewöhnlich. Beim Verprügeln kommen meist Tritte in den Bauch- und Thoraxraum hinzu, Rippenbrüche, Hämatome an Schienbeinen und Oberschenkeln. Bei einem Sprung auf das Sprunggelenk würden die Randbereiche und gegenüberliegende Hautpartienstark geschädigt werden. Jurca präsentiert ein Bein mit Abschürfungen am Schienbein und Schwellung am gegenüberliegenden Knie, aber ohne tritttypische Hämatome.

Ausschnitt aus: https://www.br.de/nachrichten/bayern/ermittlungen-nach-mutmasslichem-angriff-auf-afd-politiker,TmtG0XV

Ferner ist auffällig, wie sparsam Jurca die vorgebliche Tat schildert. Es scheint keine Deckerinnerungen zu geben, keine Details außer der „südländischen“ Herkunft der Täter. Keine Beschreibung von Schlägen oder Tritten, keine Schilderung von Emotionen, Ursprung oder Ziel seines Spaziergangs. Das weist tendenziell eher auf eine Fabrikation hin, bei der Widersprüche durch sparsame Angaben vermieden werden sollen. Opfer erzählen tendenziell anders.

So untypisch die Verletzungen für eine schlaginduzierte Verletzung sind, so typisch sind sie für einen Sturz: ein Abrutschen auf einer Treppe, der mutmaßliche (bei Kameraaufnahmen aber nicht eingegipste) Bruch des Sprunggelenks, Aufschürfen des Schienbeins und Aufprall des gegenüberliegenden Knies und dann Aufprall parallel unterhalb der Braue etwa auf einer Geländerstange oder Treppenstufe. Dass offenbar ein Tag bis zur medizinischen Behandlung abgewartet wurde, legt potentiell Alkoholeinfluss und eine Ausnüchterungsphase nahe.
Der Hergang wird gerichtsmedizinisch geklärt und in Wahrscheinlichkeiten ausgedrückt werden. Eine Anklage wegen Irreführung und Falschaussage ist ein denkbares Ergebnis, eine Verurteilung ohne Zeugenaussagen und Bildmaterial allerdings schwierig.

Das Problem ist, dass faschistische Propaganda nicht auf Entlarvung ihrer Mythen reagiert. Das Authentische an faschistischer Propaganda ist eben nicht die Logik oder empirische Belegbarkeit eines Narrativs, sondern das Gefühl, das sie erzeugt. Die Empfänger erinnern sich nicht daran, vor einem halben Jahr belogen worden zu sein. Sie erinnern sich daran, reale Angst oder Wut gehabt zu haben. Dieses Gefühl ist „wahr“. Daher ist es auch völlig egal, was hinterher entlarvt wird.
Die faschistische Notstandspropaganda versetzt Menschen künstlich in einen Verteidigungsmodus, in dem sie rationale, zeitaufwändige Prüfungen kurzfristigem Massenverhalten opfern, das aus dem archaischen Inventar unseres evolutionsgeschichtlichen Verhaltens schöpft: Etwa das Zusammenrotten, das Brüllen, das Grimassieren, das aufspüren von Feinden in jedem Winkel.
Im Interesse bestehender Hierarchien werden reale Notstände (Klimakatastrophe, Ungleichverteilung von Reichtum, Misogynie) häufig geleugnet oder ein – aufgrund seiner realen Schwäche – angreifbarer „Täter“ identifiziert, an dem die Bekämpfung des vermeintlichen Notstandes gefahrlos praktiziert werden kann. Interessanterweise verrät faschistische Propaganda in ihren Opfermythen immer wieder, was sie in Wirklichkeit mit ihren eigenen Opfern zu tun gedenkt.
Ihren ersten Erfolg hat die AFD schon geschafft. Wieder einmal haben sich die Parteien von Gewalt distanziert. Das ist zunächst ebenso banal wie die ritualisierte und damit wertlose „Verurteilung“ von Terroranschlägen durch Politiker. In der Distanzierung steckt aber automatisch eine Diskursverschiebung. Statt über die rechtsextremen Umtriebe in der AFD und deren Gewalt wird über Gewalt durch Antifa und Migrant*innen diskutiert. Auch wenn das nur kurzfristig und ritualisiert stattfindet, spielt man der AFD damit in die Hände.



Empfehlung: „Nicht länger nichts!“ – Geschichte der Arbeiterbewegung in vier Teilen

Die Dokumentation „Nicht länger nichts!“ lässt sich auf arte herunterladen oder streamen. Zwei Aspekte sind besonders hervorzuheben: es kommen gebildete, reflektierende Arbeiter*innen ausführlich zu Wort. Ein Schlachtfabrikarbeiter, eine Fließbandarbeiterin, ein zum Historiker fortgebildeter ehemaliger Minenarbeiter brechen klassische Präsentationsformen von Arbeitenden. Wie gebildet Arbeitende waren, wird mit einer Studie aus dem 19. Jahrhundert untermauert, die Arbeitende ihren Lesestoff zwischen Darwin, Marx und Nietzsche angeben lässt. Die gescheiterten Revolutionen führten zur permanenten Selektion der gebildeten Arbeitenden durch Verbannung und Ermordung.
Bildungsgrade sind zwar bis heute einkommensabhängig, aber Bildung und Ausbildungsgrade gehen nicht ineinander auf, wie das Beispiel zahlloser eher wenig zu Reflexion und Denken begabter Professor*innen belegt. Auch geht extremer Reichtum nachweislich nicht mit Reflexionsvermögen, Intelligenz und Aufklärung einher, auch wenn die Superbourgeoisie von Jack Ma über Elon Musk bis Jeff Bezos sich selbst ihren Reichtum aus höherer Gewitztheit oder Leistungsfähigkeit erklärt.
Die Serie legt an Beispielen offen, wie roh und brutal Vertreter*innen der besitzenden Klasse die Ausbeutung planten, raffinierten und letztlich an die Arbeiter*innen manipulativ departementalisierten, bis diese sich ab dem Fordismus ohne äußeren Zwang und für den Konsum von objektiv nicht notwendigen Waren ausbeuteten. Die Beispiele sind zwar in gleicher Strategie wie bei Marx/Engels, aber eher in Erweiterung zu den dort bekannten vorgetragen.

Der zweite Aspekt ist der faire und ausführliche Blick auf den Luddismus. Die Maschinenstürmerei war innerhalb der Zwänge eine legitime und nachvollziehbare Praxis. In Ermangelung der organisatorischen und militärischen Macht zur Übernahme der Produktionsmittel schritten die durch Konkurrenz der Maschinen außer Brot gesetzte Arbeitenden zur Sabotage. Die Entwicklung der Produktionsmittel ging eben nicht strukturell mit einer Erleichterung der Arbeitenden einher, sondern mit höherem Risiko für Gesundheit und härterer Konkurrenz. In den Maschinen wurden die Arbeitenden tatsächlich zermalmt. Mit der Entwicklung von Bohrhämmern im Bergbau sank die Lebenserwartung zunächst, weil die grotesk lauten Geräte die Minenarbeiter noch rascher zerschmetterten und zerrüttelten als vormals die Arbeit mit Hämmern und händisch gedrehten Bohrstangen. Und heute besprühen Maschinen mit Lasertechnologie die Hände der Turnschuhkleber*innen rücksichtslos mit Lösungsmitteln, bis sich deren Haut ablöst und sie von den Dämpfen bewusstlos werden. Der Parteisozialismus verherrlichte den Fabrikarbeiter und damit die Maschinen, die den Arbeitenden den Fortschritt bringen sollten. Stalin machte aus dem Maschinenkult eine regelrechte Religion, deren heiligste Reliquie die immer größere, in den Dienst von Tunnelbau und Landschaftsgestaltung gesetzte Nuklearwaffe wurde. Mao ließ für den „Fortschritt“ einer simulierten Industrialisierung die Arbeitenden Kochtöpfe in Stahlöfen werfen, bis sie abends vor Muskelzittern ihre Suppe nicht mehr essen konnten. Die Maschinenstürmer waren rationaler als vieles, was die sozialistischen Eliten an Ideologien über Maschinen hervorbrachten.


Die Dokumentation hat vor allem drei Mängel: sie ist gerade in der Darstellung internationaler Arbeitskämpfe, z.B. in Südkorea, Japan, Südafrika, Peru viel zu kurz und damit ethnozentristisch. Sie vernachlässigt Marx/Engels auf geradezu kriminelle Weise. Und sie zeigt in ihrem Fazit des Endes einer Arbeitendenklasse zwar reflektierende, pessimistische moderne Arbeiter*innen, aber nicht den Gewerkschaftsalltag und die Struktur von Arbeitskämpfen heute.






Die inszenierte Enttäuschung – zur medialen Berätselung der Strategie der Ukrainischen Armee

Jedes Interview zur Lage der Ukraine beginnt derzeit mit sichtbarer Enttäuschung: Warum die Ukraine so langsam vorankomme, wo jetzt die großen Geländegewinne blieben, die man so lange erwartet habe, wie es denn tatsächlich mit den Erfolgsaussichten stehe, ob nicht doch ein Stillstand der Front zu erwarten sei, ob sich die ganzen westlichen Waffen gelohnt hätten, und ob man nicht tatsächlich Verhandlungen anstreben könne. Diese Bestellmentalität geht zynisch an den Realitäten in der Ukraine vorbei und erzeugt einen erheblichen Erwartungsdruck, der Verluste produziert.

Eine professionelle Militärberichterstattung lässt sich derzeit nur über Youtube-Kanäle erhalten, auf Kosten einer Einladung zum Clickbait auch russischer Propagandakanäle und auf Kosten einer Schwarmanalyse, die letzten Endes der russischen Seite nutzt. Im Fokus der Militäranalysen steht stets die ukrainische Strategie, ihre Möglichkeiten, ihre Stoßrichtungen. Die Aufforderung der UA zur Nachrichtensperre wird selbst von ukrainischen Militärvloggern ignoriert. Deren Abwägung ist nicht allein von Klickökonomien getrieben: selbst die erfolgreichsten Kanäle erhalten kaum 100.000 Klicks, viele andere bewegen sich im Bereich unter 10.000 und damit unter der Ökonomisierungsgrenze. Nicht wenige sind von einem ehrlichen Versuch motiviert, die Moral der Truppen, der Geflüchteten, aber vor allem auch der Unterstützer*innen im Westen aufrecht zu erhalten. Daher werden Tagesrückblicke auf Grundlage der Deepstatemap primär auf Englisch und Deutsch produziert, während Telegramkanäle noch aktuellere Informationen in Landessprachen liefern. Berichte von ukrainischen Erfolgen sind unabdingbar zum Kontern russischer Propaganda und deren Strategie der Entwertung und Verhöhnung der Gegner.

Zur berechtigten Skepsis gegenüber ukrainischer Kriegspropaganda gehört, die Hürden der UA ernst zu nehmen als Resultat der Erfolge russischer Propaganda bis tief in die europäische Sozialdemokratie hinein. Nachdem man der UA nach Kriegsbeginn noch monatelang schwere Waffen vorenthalten hat, gelangen diese immer noch verzögert an die Front. Und zäh wurde und wird über die Lieferung von Kampfflugzeugen insbesondere vom Typ F-35 diskutiert, die nun im September ankommen sollen. Die UA kämpft trotz aller Waffenlieferungen als Einzelnation ein Kaltes-Kriegs-Szenario mit handicap, mit auf den Rücken gebundenen Händen. Ihr Vorteil von Partisan*innen in den besetzten Gebieten wird von der Präsenz prorussischer Spione auf gehaltenem Land und in den eigenen Institutionen nahezu aufgehoben.

Gemessen an diesen widrigen Bedingungen ist die UA überaus erfolgreich. Am 19.6. hat die UA mit Drohnenangriffen und im Grabenkrieg 1010 russische Soldaten getötet oder schwer verwundet, 8 Panzer, 15 gepanzerte Personentransporter, 23 Artilleriesysteme, 4 MLRS, 2 Luftabwehrsysteme, einen Hubschrauber, 10 Militärdrohnen, 3 Cruise MIssiles außer Gefecht gesetzt.

Jeden Tag kommen weitere Erfolge hinzu: Die Eroberung kleiner, strategischer Höhenzüge, das Öffnen russischer Verteidigungslinien. Und jeden Tag werden neue Zeugnisse über den Zustand der russischen Verteidiger aufgedeckt: Folter und Kastration an ukrainischen Kriegsgefangenen, Alkoholabusus an der Frontlinie, Cholera. Die russische Verteidigung wird vor allem durch drei Faktoren bestimmt: die Zahl der Soldaten, die Zahl der Artilleriesysteme und die Minenfelder. Gegenüber einer derart befestigten Verteidigung ist ein Combined Arms-Ansatz hin zu einem Durchbruch mit schwerem Gerät vorerst nur bedingt erfolgreich, zumal wenn die dafür essentielle Luftwaffe veraltet und dezimiert ist. Die NATO-Armeen haben den Guerillakrieg in Afghanistan trotz modernster Waffensysteme mit Satellitenunterstützung, Drohnen und Infrarotkameras nicht gewonnen und schließlich politisch verloren. Umgekehrt hat die russische Armee in Syrien die parallelen Aufstände von Demokraten und Djihadisten mit roher Gewalt und einem Fokus auf Luftwaffe und Artillerie binnen weniger Jahre unterdrücken können.

Zweifel an militärischen Erfolgen sind daher angemessen und eine Strategie, die allein auf waffentechnologische Überlegenheit setzt, muss sich immer noch rechtfertigen.
Die ukrainische Strategie ist aber nach wie vor kein Guerillakrieg und kann eine relativ klare Trennung in Zivilist*innen und Soldaten vornehmen. Das militärische Moment besteht nicht in der Befriedung eines Gebietes, sondern in einem Abnutzungskrieg aller gegnerischen Ressourcen. Dahingehend ist die UA extrem erfolgreich. Weit hinter der Front gelingen Schläge gegen russische Trainings- und Munitionslager, gegen die militärische Führung, gegen Treibstoffdepots und Infrastruktur. Die mit einer Rakete getöteten dreihundert russischen Soldaten reduzieren die mobilen Reserven, die der Schlüssel russischer Verteidigungsringe sind, sie dämpfen die Moral russischer Truppen und Söldner erheblich – während die russischen Schläge gegen ukrainische Krankenhäuser und Zivilist*innen die Ukraine nur stärker zusammenschweißen und die Kampfmoral erhöhen.

Das Starren europäischer „Experten“ auf die Frontlinie, das Bekritteln der ukrainischen Verluste an Material sind Ausläufer von Indifferenz, von fehlender Empathie mit dem disziplinierten und vorsichtigen Vorgehen der UA. Hinzu kommen offene propagandisische Störfeuer aus den afrikanischen Staaten und aus Indien. General Gagan D. Bakshi beispielsweise bietet Indien und damit sich als „einzigen neutralen“ Vermittler in einem angeblich für beide Seiten aussichtslosen Kriegsverlauf an. Seine Strategie ist das Vorspiegeln von Objektivität durch den Eindruck einer sachlichen Analyse, die allerdings systematisch ukrainische Erfolge wie auch russische Verluste kleinredet, um ein „Unentschieden“ heraufzubeschwören. Aber auch aus Deutschland kommen wieder die „skeptische Stimmen“ zu Wort, die vor einem „Unentschieden“ warnen und denselben Verhandlungstisch heraufbeschwören, den sowohl Putin als auch die ukrainische Seite rigoros ausschließen.

Der Zermürbungskrieg wird nicht durch Geländegewinne entschieden, sondern von der Kriegsmüdigkeit Russlands. Dazu genügt es, die Offensiven der russischen Armee weiter zu frustrieren und an der Frontlinie zu knabbern, bis diese zusammenbricht. Entlang der gesamten Front einen Angriffsdruck aufrechtzuerhalten ist absolut sinnvoll, um die Überlegenheit der westlichen Artilleriesysteme und Luftabwehrsysteme voll gegen russische Bewegungen zur Stützung der Frontlinie zu nutzen.
Die Perspektive eines jahrelang mit hohem Blutzoll durchgeführten mühsamen Eroberungskrieges, bei dem Graben für Graben von immer neu aufgestockten russischen Brigaden abgerungen werden muss, ist unrealistisch, weil sie die ökonomische und politische Situation in Russland und den Wirtschaftskrieg außer Acht lässt. Eine weitere Teilmobilisierung wäre bereits ein Eingeständnis einer Niederlage, die Kriegsmaschinerie an Panzern und Artillerie ist bereits erheblich dezimiert, die Reparaturfähigkeit und Ersatz durch die Sanktionen erschwert. Steigende Kriegskosten stehen einer Reduktion der Öleinnahmen um 40% im Februar 2023 und einer Blockade von 300 Milliarden Auslandsreserven in der EU entgegen. Das negative Wirtschaftswachstum von ca. -2% ist nur scheinbar wenig, wenn die gestiegenen Kosten für Material und Sold gegengerechnet werden. Jeder Kriegstag kostet Russland etwa eine Milliarde USD.

Anstatt die sehr gut und vielfältig beratene UA unterm Mikroskop zu sezieren und zu bekritteln, vernachlässigen europäische Medien mehrere Aufgaben: Primär die russische Strategie zu analysieren und der Ukraine durch kompetente Analyse russischer Schwachstellen zuzusarbeiten, anstatt auf die UA zu schauen wie auf ein mühsam trainiertes Sportlerkind; die Lieferung von Luftwaffensystemen zu forcieren, die der Schlüssel für erfolgreiche Combined-Arms-Strategien sind; und die russische Besetzung des AKW Saporischija zu beenden, um die Drohung Russlands mit dieser „schmutzigen Bombe“ entgültig aus dem Spiel zu nehmen. Gingen anlässlich der Katastrophe in Fukushima noch zehntausende in Deutschland auf die Straße, wird eine Sprengung mehrerer AKW-Blöcke in der Ukraine offenbar achselzuckend akzeptiert. Politische Druckmittel wären auf ökonomischer Ebene weiterhin vorhanden: Ein vollständiger Boykott russischer Waren, die Einstufung eines solchen Angriffs als nukleare Kriegsführung mit entsprechender Antwort. Die Nonchalance, mit der Europa die russische Drohung mit einem solchen genozidalen, radioaktiven Angriffs toleriert, ist frappierend und beängstigend – sie fügt sich ein in ein Europa, das besinnungslos den drei bis fünf Grad Klimaerhitzung in die Arme steuert.

Die UA wird aller Wahrscheinlichkeit nach ihre militärtechnologische Überlegenheit erst mit der Ankunft der Luftwaffe voll ausspielen können. Es existiert kein Planspiel für eine Konfrontation mit Russland, in der die Luftwaffe nicht die Hauptlast trägt. Alle NATO-Interventionen basierten auf dem primären Ausspielen der luftwaffentechnologischen Überlegenheit: Ob in Jugoslawien, Afghanistan oder Libyen. Die Lieferung von Panzern ohne wenigstens eine Parität der Luftwaffe herzustellen, ist weitgehend sinnlos und geht am Grundverständnis der Notwendigkeit von Combined-Arms-Strategien vorbei. Die Ersatzstrategie ist der Verzicht auf Panzer und der Einsatz von MRAPs (minenresistente Personentransportfahrzeuge), agilen Schützenpanzern und Minenräumer in Kombination mit reichweitenstarker Artillerie. Die ukrainische Infanterie trägt daher die Hauptlast der westlichen Trägheit, die durch die Verniedlichung des russischen Angriffs zum teilbaren Landkonflikt und durch Unverständnis von Militärstrategien, für russische Waffen wie thermobarische Waffen und Folter entstanden ist.

Solidarität mit der Ukraine bedeutet, eine vollumfängliche Bewaffnung entsprechend der Szenarien des Kalten Krieges zu leisten und die Diskussion um die Notwendigkeit weiterer Waffensysteme einzustellen. Hinzu kommt, das Zusammenspiel von Propaganda und Gesellschaftsstruktur in Russland zu beleuchten. Das ukrainische Gesetz gegen Oligarchen erfährt aus Europa nicht Kritik, weil Korruptionsbekämpfung in korrupten Staaten immer zur Repression gegen politische Gegner verwendet werden kann – sondern weil die Einstufung als Oligarch auch das neoliberal-neokonservative Verständnis von wohlverdientem extremem Reichtum und rechtschaffenen Multimillionären kränkt. Anstatt die Ukraine für das Gesetz zu kritisieren, hat Europa Konzepte aufzulegen, wie künftig zunächst in den europäischen Staaten endlich ein destruktives Wirken von Extremreichen effektiv verhindern. Nur dann kann das russische Zusammenspiel von neostalinistischer Kriegsbegeisterung, neoliberaler Bereicherungstaktik von Krisen- und Kriegsgewinnlern und faschistischer Propaganda mit antisemitischen Zügen als die globale Bedrohung begriffen und bekämpft werden, die es ist.




Das Beaver-Dam-Sabotage-Movement – ein naturfeindliches Youtube-Phänomen

Millionen Aufrufe generieren Videos von forschen Männern, die Biberdämme einreißen. In Hochwasserhosen oder Gummistiefeln, mit Baggern oder Gabeln tragen sie Stück für Stück Holz vom Bau ab, bis der Bach wieder frei fließt. Manche sind neutral untertitelt, andere machen aus ihrer Abneigung gegen Biber keinen Hehl: „Beavers set me up!“ oder „Beavers should be more on the menue!“. Typische Kommentare sind „Great Job!“ und „Why don’t you use dynamite!“


Fox River Bushcraft (3340) und Gene Plumley (1370) gehören zu den eher kleineren Kanälen, während msTech86 mit 20300 Abonnenten, Terell Spivey mit 26.100 und Kenislovas mit 50300 Abonnenten bereits deutlich größere Dimensionen erreichen. Im Umfeld der Beaverdam-Removal-Videos finden sich auch Beaver-hunting-videos, in denen Amateure und professionelle Jäger sich beim Abdrücken von Bibern filmen.
Das Kuriose ist, dass sich unter den Filmen eine endlose Liste an Kommentaren findet, die das beklatschen und bejubeln. Kritische Kommentare werden mindestens im Verhältnis 10:1 überstimmt.
Europa beherbergt nach einem Tiefpunkt von 1200 Tieren in etwa acht Reliktpopulationen in ganz Eurasien heute wieder 1,2 Millionen Tiere. In ganzen Regionen gilt die Art Castor fiber noch immer als ausgerottet und Biberdämme gelten als Attraktion und besondere Sehenswürdigkeit.
Anders in Nordamerika. Dort gab es vor der Ankunft der Europäer etwa 60-400 Millionen Biber der genetisch abzugrenzenden Art Castor canadensis, die auch in Finnland und Asien eingeführt wurde und parallel zu Castor fiber Populationen bildete. Bis kurz nach der letzten Eiszeit existierten noch die bärengroßen Riesenbiber Castoroides. Heute existieren noch etwa 15 Millionen Tiere der Art castor canadensis.
Biberdämme werden teilweise über Generationen aufgebaut und gewartet, bis sie beachtliche Größen erreichen. Die Tiere passen die Höhe der Dämme an den Wasserstand an und regulieren aktiv den Wasserabfluss. Dadurch verbessern sie die Wasserretentionsfähigkeit des gesamten Bachlaufs erheblich. Lediglich Sturzfluten können die Dämme wegreißen und für erhebliche Flutwellen sorgen.
In den fast stehenden Gewässern hinter Biberdämmen vermehren sich Amphibien und Fische, Libellen und andere Wasserinsekten. Langfristig entstehen Schilfgürtel, in denen Wasservögel brüten. Die gefällten und teilweise halbgefällten Bäume liefern Totholz für Insekten. Der Stockausschlag von Weiden garantiert eine nachhaltige Nahrungsgrundlage für die Biber, die sich von Rinde, Trieben und Blättern, aber auch von Kräutern ernähren. Der Umkreis, in dem sie Bäume fällen, ist begrenzt. Allerdings plündern Biber gern auch Rüben- und Rapsfelder. An Steilufern entstehen „Biberrutschen“, die für Eisvögel interessant werden. Aus ökologischer Sicht ist der Biber einer der besten Landschaftsarchitekten und ein Großteil der wasserbasierten Artenvielfalt ist nicht nur an den Biber angepasst, sondern sogar auf ihn angewiesen.
Reale Konflikte entstehen dort, wo Obstbäume gefällt werden, wo Klärwerke, Straßen, Gleise, Brücken geflutet oder Deiche untergraben werden. In sehr seltenen Fällen ist eine Gefährdung von Orchideenstandorten durch Überflutung denkbar. Bibermanagement ist daher notwendig, und dazu gehört selten auch, einen Damm zu öffnen, Biber umzusiedeln oder zu vergrämen.
Das Publikum der Biberdammentfernungsvideos ist allerdings von Hass und Hohn für die Tiere geprägt. Sie werden als Schädlinge („varmint“, „vermin“, „parasites“) bezeichnet. Der Biberdamm repräsentiert ihnen den Triebstau, das Fließen des Flusses die Ejakulation, die braunen Biber selbst werden mit dem Fäzes gleichgesetzt. Der Biberhass kann als typisches Beispiel für eine zivilisatorische Kanalisierung sexueller Energie gelten, die aus Halbbildung geboren ist. Der Anspruch, die umgebende Natur zu kontrollieren und zu beherrschen wird durch die Präsenz eines eigenwilligen, in großem Stil wirksamen Tieres gekränkt. Mit der technologisch eher stupiden Arbeit der Öffnung von Biberdämmen kann durch einfachste Mittel ein Schwall von Selbstwirksamkeit erfahren werden, der auf das Publikum abfärbt.
Da die Zerstörung von Biberdämmen die Tiere Stress aussetzt und Prädatoren ausliefert, sind die Videos als Tierquälerei anzusehen. Zahllose an stehendes Wasser angepasste Tiere werden abgeschwemmt oder verenden im trockengelegten Land. Davon unberührt schwelgen Kommentare im „ASMR“-Moment, das Wasser wieder plätschern zu hören.


Die Entfernung des Damms gilt als Akt der Befreiung. Rationalisierungen werden stets nachgeliefert, die Videos erklären meist weder Zweck noch Inhalt der Arbeiten. Es handelt sich nicht um Bibermanagement im Sinne eines vermittelnden Naturschutzes, sondern um stupide Landschaftsgärtnerei im Auftrag von Kommunen oder Privatpersonen. Erst aus der Defensive heraus werden Argumente geliefert wie die Gewährleistung der Dränierung, die Wiedergewinnung von Ackerland, oder die beliebteste Rationalisierung überhaupt: „I just do my job, fuck you very much!“

Biberdammentfernungsvideos bewerben eine extrem zerstörerische und nur in Ausnahmefällen rational begründbare Tätigkeit als „fun“ und, heute eventuell noch wichtiger, „relaxation“: „calming to watch!“

Solche zelebrierte, als Naturliebe maskierte Naturfeindschaft verhärtet sich gegen jedes Argument. Sie ist Resultat konservativer, aber auch sozialdemokratisch-technokratischer Aufklärungsrückstände. Wo man nicht einmal eine der wichtigsten Tierarten der Welt verstanden hat, herrscht naturkundlicher Analphabetismus und dieses Nichtwissen öffnet Portale für die pathischen Projektionen auf unverstandene Natur.

Kommentare aus:
https://www.youtube.com/watch?v=UIVhMi5M_VM (Polen)


Siehe auch:
https://nichtidentisches.wordpress.com/2011/02/15/hommage-an-den-maulwurf/



Rough Music – Lina E. und der Vigilantismus gegen Nazis

Screenshot aus: Welt Nachrichtensender, 2.6.2023: https://www.youtube.com/watch?v=qitQUaecRd4.

Nach 30 Monate U-Haft erhielt Lina E. nun fünf Jahre Haft für die Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung. Der Haftbefehl wurde jedoch wegen guter Führung und langer U-Haft ausgesetzt, was auf Freigang auf Bewährung und unter Auflagen hinausläuft.
In Leipzig wurden nun auch in zweiter Instanz linke Demonstrationen gegen das Urteil verboten.
Und die Innenministerin Nancy Faeser tritt vor die Kamera und behauptet: „Wir gehen tatsächlich genauso entschieden gegen Linksextremismus wie gegen Rechtsextremismus vor.“
Die Gleichsetzung von Gewalt und Gegengewalt, die Vermischung und Verkehrung von Tätern und Opfern – das ist der Punkt, an dem das liberale Bürgertum dem Faschismus zuarbeitet.

Auch wenn die Einzelheiten des Urteils noch nicht bekannt sind, fällt an den dummdreisten Reaktionen darauf auf, dass sie einem Schritt in den Vigilantismus die Legitimität regelrecht aufzwingen. Gerade weil die Innenministerin nicht moralisch Recht und Unrecht unterscheiden kann, gerade weil die Behauptung der Gewaltfreiheit nicht im Sinne des Grundgesetzes und der durch Gewalt geborenen Demokratie ist, gerade weil das Gewaltmonopol durchaus Grundlage eines zivilisierten Miteinanders ist und gerade weil dieses Gewaltmonopol gegen Nazis nicht nur versagt, sondern von Nazis in Judikative und Exekutive durchseucht ist, ist eigentlich ein sozialwissenschaftliches Rätsel, dass so viele Antifaschist*innen nicht zum Vigilantismus schreiten. Das liegt meist daran, dass zum Einen die Angst vor einer Gegengewalt („Aufrüstungsspirale“) und einem Verlieren in den faschistisch dominierten Zonen groß ist und zum Zweiten, dass in der Linken strukturell das Gewalttabu viel stärker internalisiert wurde und jeder Bruch erheblicher Rechtfertigung bedarf.

Terry Pratchett hat eine schöne Metapher für den Vigilantismus geschaffen: Rough Music. Im vierten Band („I shall wear midnight“) der Reihe um Tiffany Aching („The wee free men“), einem der besten Werke englischsprachiger Literatur überhaupt, bringt er den Lynchmob in seiner ganzen Ambivalenz zum Klingen. Auch wenn er seine Hauptdarstellerin Tiffany Aching subversiv gegen den Lynchmob arbeiten lässt, und auch wenn er die rauen Musiker in ihrer hexenjägerischen Infamie zeichnet, blickt er dennoch wohlwollend auf das Prinzip, dass Leute kollektiv „genug haben“ und mit Waffen, die eigentlich keine Waffen sind, extremen Störungen des zivilisierten Miteinanders entgegentreten: gegen häusliche Gewalt, gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit. Rough Music ist die Revolte, die konformistisch, regressiv und reaktionär sein kann, aber in ihrem Prinzip eine Kulturleistung zur Emanzipation darstellt.
Ein ähnlich ambivalentes Bild des Vigilantismus entwirft Ray Abrahams in „Vigilant Citizens“. Zwar bedrohen vigilantistische Bewegungen das Gewaltmonopol und erzeugen humanitäre Krisen durch Folter und Hexenjagden, sehr häufig entstehen sie aber in Situationen eines schwachen Gewaltmonopols. Sie erodieren weniger, als dass sie Zeichen der Erosion sind: Wie die Steine, die unter dem dünnen zivilisatorischen Humus herausgewaschen werden. Zum Vorschein kommen der KuKluxKlan, rechte Todesschwadronen, Jugendbünde in Tansania, Gewerkschaften, Bürgerwehren gegen Kriminelle und Vergewaltiger – oder weitergedacht eben Sportantifas, die ihren Kietz verteidigen. Der Vigilantismus ist zwar anfällig für rechtsextreme Motive – Folter, öffentliche Erniedrigung, Todesstrafe. Er geht aber nicht darin auf.

Die Erosion oder wenigstens einen erkennbaren Rückstand des Gewaltmonopols im Kampf gegen den Faschismus einzugestehen wäre der erste Schritt ehrlicher Politik. Auch wenn man das Ausagieren von Sadismus in konkreter Gewalt des abschreckenden Zusammenschlagens von Nazis verabscheut, auch wenn der Linksextremismus von schrecklichen Ideologien befallen ist, so gehört doch zum Beweis der politischen Diskursfähigkeit dazu, in Actio und Reactio unterscheiden zu können. Wer heute Nazi wird, ist eine wandelnde Morddrohung, eine Traumamaschine für Opfer des Nationalsozialismus und Nachkommen von Opfern. Bereits der Anblick von offenen Sympathisant*innen des Rechtsterrorismus bedeutet Gewalt für die Opfer. Der Staat hat den Rechtsterrorismus aber nicht nur nicht bekämpft, sondern aufgebaut. Teilweise durch den Verfassungsschutz, teilweise durch Gerichtsurteile, teilweise durch Unterlassung und teilweise in völlig selbstverständlich empfundener Integration rechter Ideologien in den Staatsapparat. All das ist hinreichend und über Jahrzehnte hinweg wissenschaftlich und empirisch belegt: mit den Skandalen um den Verfassungsschutz, mit der NSU-Affäre, mit Nazi-Chatgruppen in Polizei und Bundeswehr, mit der Existenz von rechtsextremen Richtern, mit der schrittweise Umsetzung von rechtsradikalen Forderungen in Realpolitik durch CDU/CSU.
Wo mehrheitliche Wählerschaften Parteien wählen, die ihnen de facto den Genozid an den Außengrenzen der EU versprechen, was die Konsequenz der Politik von CDU/CSU, Freien Wählern, AFD und Teilen der FDP ist, da ist dem Faschismus inhaltlich keine Schranke gesetzt. Wer sagt, es solle Obergrenzen geben, sagt implizit, dass man alle Überzähligen zu Tode bringen wird – durch Drittstaaten, Söldner und natürliche Beschaffenheiten wie Wüsten, Meere, Flüsse, Berge, Winter. Dass diese Erosion von Zivilisation Erfolg hatte, ist Resultat des Terrors von Nazis in den 1980ern und 1990ern und einer großen Welle von Brandanschlägen und Attentaten im Jahr 2015.
Die stetigen Wahlergebnisse für die AFD und die Militanz des Rechtsextremismus vor allem in Bayern und Ostdeutschland zeigen, dass das Gewaltmonopol nicht wirkt oder nicht Willens ist. Das ist eine einfache Beobachtung. Wer das Defizit nicht erkennt und benennt, macht sich der Mittäterschaft schuldig.
Nancy Faeser setzt Linksextremismus und Rechtsextremismus gleich und behauptet in vollendeter Verkehrung der realen Verhältnisse, beide würden gleichermaßen bekämpft. So jemand sollte nicht Innenminister in einem Land sein, das den Nationalsozialismus hervorbrachte. Wer nach dem Nationalsozialismus Rechtsextremismus und Linksextremismus gleichsetzt, ist eine Gefahr für die Demokratie, weil er oder sie leugnet, dass die Demokratie in einem Akt der Gewalt gegen den Faschismus und in den Antifaschistischen Aktionsausschüssen geboren wurde, die in der Übergangszeit die Entnazifizierung organisierten. Wenn SPD-Politiker*innen vergessen, dass 1949 SPD-Politiker den Nazi Wolfgang Hedler aus dem Bundestag prügelten, denselben Wolfgang Hedler, den in die Bundesrepublik übergetretene Nazirichter vom Vorwurf der „Beleidigung des Andenkens Verstorbener“ freisprachen, wenn sie den Antifaschisten Willy Brand und den Nazi Kurt Georg Kiesinger nicht auseinanderhalten können, wenn sie ihre eigenen antifaschistischen Kampfbünde vergessen, die Gewalt gegen Faschisten aus blankem Überlebenswillen konspirativ planen und organisieren mussten, wenn sie das Prinzip der richtigen Gewalt gegen Nazis verleugnen, wenn sie nicht wahrhaben wollen, dass die einen nicht genug bekommen können von Gewalt, während die anderen einfach genug davon haben und deshalb zur Gegengewalt schreiten, produzieren sie einen Treibsand aus Kitsch und Lügen, in dem zuallererst die politische Mündigkeit ertrinkt.




Der Krieg gegen die Grünen

Die rechtsextreme AFD steigt mit 17-18% in den Umfrageergebnissen zur drittstärksten Partei auf und wird in absehbarer Zeit in ostdeutschen Bundesländern als stärkste Partei Regierungen bilden können. Mit dem Schritt der CDU/CSU zurück in den offenen Rechtspopulismus lässt sich der rechte Block aus AFD, CDUCSU und FDP, regional auch Freie Wähler, nur noch als arbeitsteilige Maschine begreifen, deren Hauptmedien Bild, Welt und Focus darstellen. Diese Maschine hat als einzigen Gegner die Grünen gewählt, gegen die 90% ihrer Propaganda fabriziert werden. SPD und Linke sehen ihren Hauptkonkurrenten ebenfalls bei den Grünen und stimmen teilweise baugleich in die Kakophonie ein. Begleitet wird die Kampagne zur Schwächung der Grünen von einem journalistischen Totalversagen zwischen notorisch gutgelaunter Radiomoderation, hochdotierten Talkshows und Presse.
Diese Kampagne lässt sich nicht wieder abstellen oder einfangen, weil die Erosion an politischem Bewusstsein irreversibel ist.
Die Entkoppelung konservativer Propaganda von Wahrheit ist in Deutschland nicht neu. Jedoch waren Ökologie und andere Wissenschaften nie in derartiger Form und von einem derart breiten Parteienbündnis zum alleinigen Feind erklärt worden. Weil Wissenschaft Vernunft symbolisiert, und weil die Grünen als letzte Partei den Anspruch vertreten, wissenschaftsgeleitete Politik zu machen, stehen sie der gesellschaftlichen Regression in den klimapolitischen Todeskult bürgerlicher Gesellschaften im Weg.
Es wäre zu einfach, die Öl- und Gaslobby dafür verantwortlich zu machen, und es wäre falsch, das nicht zu tun. Der rechte Block steht für Korruption und ist abhängig von fossilem Kapital. Er ist aber nicht nur abhängig, sondern sexuell identifiziert mit den fossilen Energien, weil sie Regression und Golden Age Syndrome erlauben. Autos und Ölheizungen bedeuten einer alterndern Gesellschaft eine Möglichkeit, das Altern zu verdrängen. Fortschritt bedeutet den Tod. Aller technologischer Fortschritt war unterm konservativen Diktat nur ein Brummkreiseln um die Öllampe.
Und so wird dann von Habeck das „Lebenswerk“ von Rentnern zerstört, weil deren Lebenswerk offenbar aus einer 40 Jahre alten Ölheizung im Keller besteht.


Was aber treibt SPD, Linke und Gewerkschaften dazu, beim Kesseltreiben gegen die Grünen mitzumachen? An der grünen Politik selbst kann es nicht liegen. Sie ist wirtschaftsliberal, konservativ und an jeder Stelle rennt man noch den erbittertsten Feinden mit ausgestreckten Händen und hinterher bejubelten Kompromissen hinterher. Zwar ist sie die Partei, die Klimaschutz ernster nimmt, als andere Parteien, aber ihre politischen Forderungen sind weit entfernt von dem, was Klimaschutz bedeuten würde.
Die SPD sieht in den Grünen weniger inhaltlich als parteiökonomisch eine Konkurrenz, die ihr regelmäßig den Rang abzulaufen droht und in immer mehr SPD-Städten zur stärksten Kraft aufsteigt. Die Linke sieht in den Grünen hingegen inhaltlich eine Feindin, weil die Grünen das vertreten, was die Linke nie geschafft hat: Eine antifaschistische Politik und damit eine Politik, die den Pazifismus als Helfershelfer von Genoziden erkannt und demontiert hat. Die Linke ist zudem noch aus Sowjetzeiten von russischer Propaganda durchseucht und im Osten sieht sie noch signifikante Wählerpotentiale bei den letzten Kohlearbeiter*innen. Daher verbreitet sie zu Russland und Klimaschutz baugleiche Propaganda wie ihre russlandpolitische Schwesterpartei, die AFD. Parteiübergreifend trichtert man einer ohnehin egoistischen Gesellschaft ein, dass Klimaschutz „sozial verträglich“ sein müsse und allenfalls individuellen, freiwilligen Verzicht, nie aber Verbote oder Preisverschiebungen bedeuten soll. Es läuft in dieser Propaganda darauf hinaus, dass kein Klimaschutz notwendig ist und dass er allen zahlreichen geschmäcklerischen Pläsierchen von Currywurst zum Frühstück bis zum angenehm-archaischen Blubbern der Starkmotoren absolut untergeordnet bleiben soll. Mit der geschlossenen Wendung aller anderen Parteien gegen das Gesetz werden die Grünen zur Partei, die DAS Gesetz vertritt, oder in einem anderen Wort: das Verbot. Der Aufstand gegen das Verbot als Prinzip von Zivilisation nützt den Feinden der Zivilisation, die vor allem das zentralste aller Verbote aushöhlen wollen: Das Tötungsverbot. Zwangsläufig profitiert die AFD von der Propaganda der anderen Parteien, wo diese die künstliche Steigerung des ohnehin extremen Egoismus, den Abbau von Empathie insbesondere für regional oder zeitlich ferne Personen („Ausländer“ und Kinder anderer Menschen) zum Ziel hat und letztlich den an Natur und Drittstaaten deligierten Genozid an Geflüchteten bewirbt.
Solche Propaganda ist im Kern faschistische Propaganda. Sie zielt auf Vernunft ab, weil Vernunft Zweifel bedeutet und mit richtigem Schließen die manipulativen Fehlschlüsse aufdecken kann. Sie zielt auf Wissenschaft ab, weil Wissenschaft Bildung und Wahrheit repräsentiert und beide sind Hemmnisse für den Erfolg der Lügenkabinette, in denen die klimafeindlichen Mehrheitsparteien sich aufhalten. Sie zielt auf Empathie ab, weil Empathie Solidarität erzeugt und Solidarität nicht nur geschäftsschädigend ist, sondern auch ein Menschenbild beinhaltet, das grundverschieden ist vom konservativen Ideal der Einfamilienhausburg von konkurrierenden, allenfalls durch Kirchenchöre und Alkoholismus organisierten Individuen.

Hatte die Adenauerstiftung schon 1998 vor dem grünen „Vampir an der Zapfsäule“ gewarnt, so bewegt sich die antigrüne Propaganda zielsicher zum Antisemitismus, bei dem sich Elsässers Compact-Magazin schon längst bedient: Mit dem grünen Dolchstoß oder der grünen Geldmacherei, der grünen Verschwörung hinterm IPCC, den sexuell umgepolten und verführten Kindern, den entmännlichten Männern und den entweiblichten Frauen. In den Handwerkerforen wird bei jedwedem Problem von Fehlerstrom bis Stagnationswasser ein Rene oder Markus sich finden, der es auf die Grünen zurückführt. Und wenn die Grünen erst an allem schuld sind, ist der logische Schritt, dass sie auch an der Klimakatastrophe schuld sind. Daher wird das Fortschreiten der Klimakatastrophe auch nicht zu einem Erstarken der Grünen führen, sondern zu ihrer umso erbitterteren Bekämpfung.

Der antigrüne Krieg, den die Parteien mit ihren medialen Verstärkern ausgerufen haben, geht mit einer vollständigen Indifferenz gegenüber dem Erstarken der AFD und dem rechten Terrorismus einher, als gebe es ein akzeptables Maß an Rechtsradikalismus, das unbedenklich sei. Das zwangsläufige Ende einer solchen Politik ist die Aushöhlung der Demokratie und das Ende der Möglichkeit der Erziehung zur Mündigkeit.

Ukrainische Kriegspropaganda und ihre Rationalität

„Strike the occupier! Let’s win together! Our strength is in the truth!“

Ministry of Defence, Ukraine

Die Diskrepanz zwischen dem Optimismus der proukrainischen Militärkommentare und offiziellen Nachrichten von der Front und den Kartenwerken von UA-Maps scheint erschütternd. Auf Youtube, Twitter und Tiktok täuschen die Algorithmen vor dass die ukrainische Armee permanent russische Schützengräben räumt, mit Drohnen Granaten zielgenau in russische Panzer versenkt und selbst kaum Verluste hat. Es scheint auch offizielle Linie der ukrainischen Armee zu sein, keinerlei negative Meldungen und keine für die russische Armee nutzbaren Informationen zuzulassen. Reportagen aus den Schützengräben zeigen motivierte Soldat*innen, die ihren Gegnern zwar verletzlich, aber heroisch gegenüberstehen. Hier die kühl planenden Landesverteidiger mit klug angewendeten modernen Waffensystemen, dort die ausgehungerten, schlecht schießenden, aus den Gefängnissen geholten Söldner und Infanteristen mit uralten Waffen und Panzern aus dem zweiten Weltkrieg. Es ist, als wäre der Fog of War selbst getarnt worden als permanente Berichterstattung direkt von den Fronten: Über Bodycams, Dronen und Handykameras von Soldaten, deren Aufnahmen allerdings penibel selektiert werden.

Auf dem Kartenwerk, das aus Meldungen zusammengebastelt wird, wird jedoch die Intensität russischen Artilleriebeschusses, russischer Angriffe mit Infanterie und die Realität relativ statischer Frontlinien deutlich. 20.000 Stück Artilleriemunition pro Tag verschwendete die russische Armee auf den Beschuss im November, die Nachrichtenkartenseite https://liveuamap.com/ listet tägliche Angriffe durch Artilleriebeschuss entlang der gesamten Front auf. Auch wenn dieser Beschuss den NATO-Präzisionswaffen weit unterlegen ist, muss er doch einen hohen Blutzoll fordern und den psychischen Terror erhöhen. Vier Smertsch-Raketenwerfer können aus bis zu 120km Entfernung in wenigen Sekunden einen knappen Quadratkilometer eindecken. Von einer lernfähigen Armee eingesetzt könnte der noch fahrbereite russische Militärpark trotz erheblicher Verluste noch gigantische Schäden anrichten. Und auch die unintelligente, auf Terror und eugenisches Menschenopfer von Strafgefangenen und ethnischen Minderheiten setzende Strategie konnte bislang einen größeren Durchbruch verhindern und die Ukraine trotz anrollender Militärmaschinerie zum Aushalten zwingen.


Während die zivilen Opfer von russischem Raketenterror gemeldet werden, hält sich die Ukrainische Armee aus nachvollziehbaren Gründen bedeckt über militärische Opfer. Aus gigantischen Explosionen im ukrainischen Gebiet zu schließen, trafen russische Luftschläge vor einer Woche offenbar große Munitionsdepots. Russische Spionage in den ukrainischen Gebieten, Satelliten, sowie die Folter gefangener Soldaten sind erwartbare Faktoren, die die Treffsicherheit russischer Raketen erklären.
Kaum denkbar ist, dass die Ukrainische Armee den Beschuss durch Russland nur aushält, um in Ruhe den Gegenangriff aufzubauen. Realistischer ist die Annahme, dass die Kapazitäten zur Gegenwehr schlicht noch nicht vorhanden sind und dass die russischen Angriffe mit einigen kritischen Schlägen den Gegenangriff verzögern konnten.

Die Strategie der ukrainischen Propaganda, eigene Verluste zu beschweigen und die unter den ukrainischen Geflüchteten beobachtbare Disziplin beim Bewahren von Diskretion über das Frontgeschehen, sind rational. Die Brüchigkeit der Solidarität zentraler NATO-Staaten wie Deutschland ist in der Ukraine schmerzhaft bekannt. Anstatt das Land nach der Invasion der Krim und des Donbass 2014 auf einen weiteren Schlag vorzubereiten und angemessen aufzurüsten, führten acht Jahre lang verbummelte Diskussionen zu monatelanger Verzögerung von Waffenlieferungen. Wieder einmal, denn als der IS 2014 Sindschar eroberte und Massaker an den ezidischen Kurden organisierte, diskutierte ausgerechnet Deutschland monatelang darüber, ob man Menschen militärisch helfen darf, die genozidaler Gewalt ausgesetzt sind. Geliefert wurden am Ende ein paar ausgemusterte Militärfahrzeuge und Waffen – jedoch nicht an die Selbstverteidigungseinheiten oder an die YPG und PKK, die den esidischen Kurden als Einzige beistanden, sondern an die konkurrierenden Peschmerga. Dass Waffen „in falsche Hände“ geraten könnten, wurde im Falle des permanenten Terrors des türkischen NATO-Partners gegen esidisch-kurdische Selbstverteidigungsgruppen beflissentlich ignoriert.

Und 2022 wurde in Deutschland erneut monatelang diskutiert, ob man einem Land Waffen liefern kann, das von einem jüdischen, liberalen Präsidenten geführt wird und Opfer dreier Überfälle wurde: zunächst durch die stalinistischen Sowjets, dann durch die Nazis, dann durch das neozaristische Russland unter Putin.
Die harte Arbeit, die ukrainische Botschafter und die Regierung Selenskyj leisten mussten, um nach einem halben Jahr erste einigermaßen hinreichende Zusagen für die Lieferung schwerer moderner Waffensysteme zu erhalten, sowie die Weigerung der Schweiz, essentielle Panzermunition zu liefern, machten unmissverständlich klar, dass nicht wenige NATO-Länder einer russischen Verhandlungsofferte mit signifikanten Gebietsverlusten für die Ukraine nur zu gern gefolgt wären, allein um weiter in Trägheit schlummern zu dürfen. Es durfte für den Westen keine Zweifel an einem Sieg der Ukraine geben. Die Kriegspropaganda der Ukraine hat daher zunächst drei rationale Ziele: Die Moral der eigenen Truppen und Bevölkerung unter dem Terror gegen die Zivilbevölkerung und angesichts der zeitweise hohen Verluste aufrecht zu erhalten, der russischen Feindaufklärung so viele Informationen wie möglich vorzuenthalten und die NATO-Länder bei der Stange zu halten.

Nach den großen Geländegewinnen in der Gegenoffensive 2022 warteten nun alle Seiten auf eine Wiederholung des Erfolges. Dass dieser sich noch hinauszögert, ist zunächst durch Verluste erklärbar. Zwar gab es kaum Verluste an NATO-Waffensystemen, aber die Verluste an erfahrenen Soldaten vor allem in der Schlacht um Bachmut müssen erheblich gewesen sein. Bakhmut erhielt die Funktion, die russischen Truppen auszubluten. Der Preis dafür war jedoch zu hoch, um das als souveräne Strategie aus einer überlegenen Position heraus zu erklären. Die Notwendigkeit einer derartig hingezogenen Schwächung russischer Truppen verwies auf die eigene Schwäche und den Zwang zu einem solchen Vorgehen. Dass die ukrainische Armee mit der Eroberung der Höhenzüge nun einen Kessel herstellt, ist zwar ein erster Schritt, jedoch bleibt das Rückgrat der russischen Strategie der Artilleriebeschuss und der Raketenterror aus dem sicheren Hinterland des Krieges, während die teilweise von Lohnunternehmen ausgehobenen Schützengräben mit Rekruten aufgefüllt werden, die von der ukrainischen Armee unter hohem Aufwand von Munition nach dem immer gleichen Ablauf getötet werden: Drohnenaufklärung, Artilleriefeuer und Mörser (softening up), nach Möglichkeit Anrücken im Schutz von Schützenpanzern und Panzern, Vorrücken unter suppressive Fire und letztlich die vermutlich am wenigsten veränderte Technologie seit dem zweiten Weltkrieg, die in Gräben und Erdlöcher geworfene Handgranate.

Das zweite, rationale strategische Element einer Konzentration auf Bachmut ist offensichtlich: eine Verlegung russischer Truppen aus den Verteidigungslinien am Dnipro um Saporischschja zu erzwingen. Das dritte wurde von Militärkommentatoren häufig vernachlässigt: Russland den Propagandaerfolg zu verweigern. Die ukrainische Regierung weiß, wie essentiell Propaganda für das System Putin ist und da diese Propaganda sich auf Bachmut kaprizierte, musste die Ukraine dort reagieren, obwohl der militärische Wert der nunmehr ohnehin zerstörten Stadt zweifelhaft war.

Ein durchaus genialer Schachzug ist nun, der „Legion freies Russland“ und dem „Russischen Freiwilligenkorps“ in der ukrainischen Armee ausreichend Material für einen Aufstand auf russischem Gebiet in Belgorod zur Verfügung stellen. So wird die russische Strategie solcher „Aufstände“ russischer Staatsbürger ad absurdum geführt und die Russifizierungspolitik Russlands wird endlich gegen Russland selbst gewendet.

In den besetzten ukrainischen Gebieten wurde schließlich mit Dekret vom 23.4. die russische Staatsbürgerschaft zur Pflicht: Wer sie nicht annimmt, wird mit der Deportation als feindliches Element bedroht. Die Politik der Russifizierung, der zynischen Verschickung von Menschenmassen zur Herstellung von loyalen Mehrheiten wurde vom Zarismus in den Stalinismus übernommen und ist weiter prägendes Element der russischen Expansionspolitik. Sie ist auch der Grund, warum die baltischen Staaten und die Ukraine Strategien zur Klärung der Loyalität der dorthin verbrachten russischsprachigen Gesellschaftsteile entwerfen mussten. In Lettland wandte sich die Mehrheit der Bevölkerung gegen Russisch als zweite Amtssprache, in Estland blickt man misstrauisch auf die russisch dominierten Orte im Osten und überall werden sowjetische Kriegsdenkmäler mal aus nachvollziehbaren Motiven, mal aus Revisionismus geschliffen. Mit Antifaschismus hatte die Sowjetunion nichts mehr gemein, die Aufarbeitung des Holocaust wurde von ihr aktiv sabotiert und verhindert, und vor allem in Polen sogar offener Antisemitismus gegen „zionistische Elemente“ geschürt.

Die historische Erfahrung mit der Russifizierungspolitik in Estland, Lettland, Georgien, Donbass und Krim ist eindeutig: Russland hat und wird seine Staatsangehörigen mittels Sprachpolitik und Propaganda nutzen, um Einfluss auszuüben oder territoriale Ansprüche durchzusetzen. In Deutschland waren und sind russischsprachige Individuen und Vereine das Ziel einer aggressiven Propaganda, die sowjetische Propagandastrategien übernommen und weiterentwickelt hat. Das Bandwagon-Element von Propaganda erwies sich dabei als Rückgrat: Alle Russen müssen für Putin sein, oder zumindest gegen den homosexuellen, liberalen, verweichlichten, faschistischen, zionistischen Westen. Russifizierung als essentiellen Teil der russischen Kriegsökonomie zu unterhöhlen und zumindest potentiell in einem symbolischen Aufstand gegen Russland zu wenden ist eine gelungene und progressive Antwort auf die Russifizierungspolitik. Sie ist nicht nur ein Signal an Russlands Regierung und Opposition, sondern auch an die eigenen Gesellschaften: Es darf keine Vereinheitlichung des Gegners geben, es gibt eine russische Pluralität, es gibt eine russische Opposition gegen Putin und die russische Minderheit ist nicht nur bedrohlich, sondern eine Chance auf ein freies Russland.
Das Narrativ eines Zerfalls des durch Militarismus bis in die Kindergärten, Geschichtsmythen, Zentralisierung, Paranoia, Suprematismus und auf den Mord als Mittel der Politik trainierten und somit faschisierten Russlands erhält mit der Initiative in Belgorod einen Testballon, der die interne Schwäche Russlands sichtbar macht. Die Evakuierung russischer Bürger*innen von der entstandenen Front trägt dazu bei, die russische Kriegsmoral entscheidend zu unterminieren und Putins Paranoia zu steigern.

Wer ist da nun mit dem Material der ukrainischen Armee einmarschiert? Während die „Freedom for Russia Legion“ aus russischen Deserteuren und Kriegsgegnern zu bestehen vorgibt, deren weiß-blau-weiße Flagge sie trägt, ist die RVC rechtsextrem. Der Anführer der RVC, Denis Nikitin, kann als Nazi-Hooligan gelten, der seine Abneigung gegen den „zu liberalen“ jüdischen Senenskyj seiner Abneigung gegen Putin unterordnet.
Die ukrainische Gesellschaft indes hat einen im europäischen Vergleich eher niedrigen Anteil rechtsextremer Gruppen, die sich aber durch die Invasion mit bürgerlichen Nationalisten verbünden konnten und die – in die Armee integriert – weitgehend einer ans Völkerrecht gebundenen Kriegsdisziplin unterworfen bleiben. Der Krieg hat den internationalen Faschismus in zwei Lager geteilt. Die Neofaschisten traditioneller Prägung, sprich Nazis z.B. des Dritten Wegs, tendieren zur Unterstützung der Ukraine, insbesondere des Asov-Batallions und der Kraken-Einheit. Der größte Teil des politisch harten Kerns der dort organisierten Rechtsextremen dürfte allerdings inzwischen gefallen sein, die Einheiten unterlagen seit Beginn des Krieges im Donbass 2014 einer Umstrukturierung und einem weitgehenden Austausch der Kämpfer.
Die bürgerlich-konservativen Faschisten vom Stil der AFD, aber auch Banden wie die Night Wolves, rechtsextreme Söldner und russische, syrische und südamerikanische Nazis unterstützen Russland.
Während jedoch linke und anarchistische Gruppen für die Ukraine kämpfen, gibt es keine antifaschistischen Truppen auf Seiten Russlands.

Die traditionell von sowjetischer Propaganda infiltrierten Teile der traditionellen westlichen Linken nehmen nicht an den Kämpfen teil, reproduzieren aber die russische Propaganda mit ihrem Hauptelement der Rückprojektion: Aus der Ukraine werden angreifende Nazis im Dienst der NATO, aus den russischen Invasoren antifaschistische Verteidiger des großen, vaterländischen Krieges. Die in der Linken immer noch weit verbreiteten Verschwörungstheorien und Mythen über die Jugoslawienkriege belegten die Anfälligkeit der Linken für ein propagandistisches Reenactment der Täter-Opfer-Positionen des zweiten Weltkrieges und die Erleichterung von intellektueller Arbeit, die eine solche fälschende Wahrnehmung von Konflikten verschafft. Dazu zählen im globalen Kontext auch Länder wie Brasilien unter dem linken Antiimperialisten Lula oder Südafrikas ANC, der ebenfalls historische Gemengelagen mit aktuellen Konfliktlinien verwechselt und sich als Revanche für die Unterstützung der südafrikanischen antirassisischen Kämpfer durch die Sowjetunion eindeutig auf die Seite Russlands geschlagen hat. Gegen die vorgeschützte, zwischen zwei Übeln angeblich differenzierend abwägende, in Wahrheit russlandtreue linke Position, und gegen die unentschlossenen, abwartenden Staaten und Parteien muss die ukrainische Position den Kriegserfolg zumindest in der Propaganda vorantreiben, um keinen Zweifel am weiteren Kriegsverlauf zu lassen.