Der folgende Artikel bildet den vorläufigen Abschluss einer Trilogie. Die Beschneidungsdebatte, die keine ist, verläuft entlang tiefenpsychologischer Verwerfungslinien. In zwei weiteren Beiträgen (1, 2) problematisierte ich die Sexualneiddimension: Sobald der Vorhaut ein Wert zugesprochen wird, werden zwangsläufig bisherige Kompensationsformen der Differenz in Frage gestellt. Verdrängter Neid und Kastrationsangst beherrschen dann die Abneigung gegen die jeweils andere Position.
Die zweite Ebene ist die einer allgemeinen analen Abwehr der Vorhaut als Zeichen zu intensiver Körperlichkeit: Sie stinke, sehe hässlich aus, sei wertlos, überflüssig, ein Irrtum der Evolution, befördere Krankheiten und in den puritanischen Ländern symbolisiert sie die Onanie. Für die symbolische Aufladung der Vorhaut und der Beschneidung gibt es zwei mediale Beispiele.
Ein populärer Film über Katharina die Große stellt der edlen Schönheit Katharina einen infantilen, perversen, hässlichen Peter gegenüber, der wegen seiner Phimose kein Kind mit der Zarin zeugen könne. Die wird aber von ihrem Liebhaber schwanger. Es muss also schleunigst ein Akt mit dem Zar Peter stattfinden, damit man ihm das Kind unterschieben kann. Man macht ihn betrunken und beschneidet ihn, in der nächsten Szene lässt er sich dann endlich verführen. Die Vorhaut symbolisiert hier das Elend eines ganzen Reiches, ihre Beseitigung bereitet die Beseitigung des Zaren vor und damit die „Befreiung“ Russlands.
Der Film trägt jenseits dieser symbolischen Dimension zum populären Irrtum bei, eine Beschneidung sei ein winziger Eingriff, den man im Zustand durchschnittlicher Trunkenheit kaum bemerke und dem am nächsten Tag Sex folgen könne: Der Film-Schnitt legt zumindest diese Abfolge nahe.
Ein weiterer Film, in dem die Beschneidung verharmlost wird, ist „Robin Hood – Helden in Strumpfhosen“. Wir sehen eine satirische Gestalt eines missionierenden Juden, der Beschneidungen mit dem Werbeträger verkauft, die Frauen seien ganz wild drauf. Er führt eine Art Guilliotine vor, mit der es in Sekundenbruchteilen vonstatten gehe und danach solle man ein bisschen Wasser drauftun. Der Film ist natürlich nicht ernstzunehmen, dürfte aber durchaus das verzerrte Bild einer Beschneidung von Millionen darstellen: Kurzer Schnitt mit einer Art Guilliotine und kaum Schmerzen.
Tatsächlich werden die wenigsten Menschen außerhalb eines abgehärteten medizinischen Personals Filmaufnahmen einer Beschneidung ertragen können, ohne Phantomschmerzen am eigenen Genital und Übelkeit zu verspüren. Man schneidet sorgfältig einmal senkrecht bis zum Eichelrand und von da mit einer kleinen Operationsschere oder einem Skalpell direkt am Rand zwischen Eichel und Vorhaut entlang. Danach wird alles mit einem selbstzersetzenden Faden vernäht. Der Rand muss genau getroffen werden, da die Oberhaut auch mal verziehen kann und dann zuviel Haut fehlen würde. Bei Erwachsenen dauert die Wundheilung leicht vier Wochen, die Narbenbildung und Veränderung der Eichelhaut erheblich länger und bis zu Jahre später können noch Veränderungen auftreten: vor allem das Abschuppen der verhornenden Eichelhaut, brüchige Hautübergänge zwischen Narbe und Eichel aber auch klassische Narbenschmerzen, Missempfindungen am nunmehr offen liegenden unbefeuchteten Übergang von Harnröhre zur Eichel. Wer die in Lokalanästhesie vorgenommene Operation bewusst mitansieht, kann auch einen reaktualisierten Kastrationskomplex und eine temporäre, tiefenpsychologisch begründete erektile Dysfunktion erleiden. Alle Symptome lassen sich relativ gut nachbehandeln, werden aber von Ärzten selten als Nebenwirkung erwähnt oder nachuntersucht. Verabreicht wird in der Regel eine Lanolincreme, um die Hautveränderung zu erleichtern. Keloide kommen vor. Bei der klassischen Hand-Masturbation kommt es insbesondere in der Frühphase der Narbenbildung durch den stärkeren Zug am Gewebe leichter zum Aufreiben des Narbengewebes und auch nach vollständiger Heilung ist die Penishaut aufgrund des wegfallenden Spielraums zugempfindlich. Wer als Kind beschnitten wurde, hat in der Regel bereits vollständig angepasste Masturbationstechniken entwickelt und natürlich gibt es Kompensierungsmöglichkeiten wie die Anwendung von Hautcremes oder Gleitgels.
Die allgemeine Verharmlosung der Beschneidung war bis vor wenigen Wochen noch so dominant, dass Beschneidungsgegner, sogenannte Intaktivisten, als obskure Sekte mit einem massiven Kastrationskomplex verlacht wurden, die aus einer Mücke einen Elefanten machen. Es gab Studien, die eine (durchaus mögliche) narzisstische Besetzung der Vorhaut in toto pathologisierten und die Akzeptanz der Beschneidung zum Beweis einer gesunden Psyche nahmen.
Wenn in wenigen Wochen ein Gesetz verabschiedet sein wird, das Beschneidungen unter bestimmten Maßgaben legalisiert, geschieht das mit dem Argument „jüdisches und muslimisches Leben in Deutschland zu ermöglichen“. Diese Formulierung ist bezeichnend. Eine religiöse Praxis wird mit „Leben“ in eins gesetzt, darauf zu verzichten würde den Tod bedeuten. Nicht nachgewiesen ist, wie das Leben von Juden und Muslimen sowohl von der Religion wie auch von der Beschneidung und wie Religion von der Beschneidung zwangsläufig und auf ewig abhängen sollen.
Schreckensszenarien werden entworfen: Die fraglichen Gruppen könnten nach Polen (!) oder in noch barbarischere Regionen gehen und dort in unsauberen Hinterhofkliniken ihre Beschneidung vornehmen lassen. Das deutsche Medizinsystem war noch nie in der europaweiten Bestenliste, auf einmal gehören polnische Krankenhäuser, in denen sich Deutsche ganz gern mal die Zähne oder die Brüste „machen“ lassen, zum medizintechnologischen „Anderen“. Wahrscheinlich wissen Menschen, die solche Ängste vor polnischen Krankenhäusern schüren, nicht, dass rituelle Beschneidungen bei Muslimen recht häufig in der Türkei durch traditionelle Beschneider vorgenommen werden (ein Grund, die Verwandten zu besuchen und manchmal kommen ein paar Dutzend oder Hundert Knaben hintereinander in einem rauschenden Fest dran), oder in Deutschland auch auf dem Küchentisch. Gering dürfte die Zahl der Ärzte sein, die in Deutschland überhaupt noch eigene Operationserfahrungen mit Beschneidungen haben, von Routine ganz zu schweigen. Daran wird auch eine entsprechende „Aufsichts“-Regelung der Bundesregierung nichts ändern, weshalb die Zeit bis zur Gesetzgebung die einzige Gelegenheit bietet, über Beschneidungen aufzuklären und so tatsächlich diese Zustände zu problematisieren.
Bei der Aufklärung stößt man allerdings auf ein tiefenpsychologisches Problem, das sehr viel schwerer fassbar ist, als die bislang angesprochenen Abwehrmechanismen: der Schuldkomplex.
Schuldgefühle löst die Beschneidungsdiskussion auf drei Ebenen aus.
1. Die individuelle Ebene. Eltern haben gegenüber ihren Kindern Schuldgefühle, müssen diese abwehren und sich vergewissern, dass die konkrete Beschneidung ein harmloser Akt war. Die Kinder wiederum haben Angst, ihre Eltern bezichtigen zu müssen und nehmen sie aus Konfliktvermeidung vorauseilend in Schutz. Resultat ist in beiden Fällen die Verharmlosung der Beschneidung, das Verdrängen von negativen Folgen und das Überidealisieren von positiven Folgen.
2. Die historische Ebene: Da Beschneidungen kollektivbildende Akte sind, bedeutet ihre Kritik auch Kritik am Kollektiv, dem aktuellen wie dem historisch sich reproduzierenden. Zu sagen, dass die Beschneidung heute überflüssig, falsch und Genitalverstümmelung ist, bedeutet die Aussage, dass alle Eltern der Geschichte, die diesen Akt vollzogen haben, mindestens im Irrtum und schlimmstenfalls „böse“ Menschen waren. Es ist übrigens fraglich, ob unter historischen Bedingungen eine Beschneidung je präventiven Charakter vor allem bezüglich der Phimose haben konnte. Aus dem Pentateuch ist das Wundfieber als Folge der Beschneidungen überliefert und es wird als Grund angeführt, dass Moses ihr aus dem Weg zu gehen suchte.
Unabhängig davon müssen diese beiden Ebenen in den jeweiligen Konstellationen gelöst werden: In der Familie und im religiösen/säkularen Kollektiv. Wirklich gravierend erscheint mir die für den jüdischen Ritus spezifische dritte Ebene:
3. Die antisemitische Ebene. Wenn, wie Freud nahelegte, die Imaginierung der Beschneidung beim Antisemiten Kastrationsängste auslöst und diese den Kern seines Antisemitismus ausmachen, so war es bislang bequem, zu sagen, dass die Beschneidung ja in Wirklichkeit harmlos ist und der Antisemit schlichtweg irrt über die Beschneidung.
Auf der gleichen Ebene wurden noch die Argumente der Intaktivisten als pathische Projektionen in den Wind geschlagen. Wenn nun die Beschneidung als Akt der Genitalverstümmelung anerkannt wird, erhalten nicht nur die Intaktivisten Recht, sondern auf einer subdiskursiven, unbewussten symbolischen Ebene auch die Antisemiten und deren historische Verbrechen.
Die Beschneidung als Akt der Genitalverstümmelung anzuerkennen bedeutet dann die unbewusste Assoziation der antisemitischen Gewaltakte mit einer Bestrafung für dieses Verhalten. Die Abwehr der Beschneidungsdebatte ist demgemäß die Abwehr der illegitimen Rationalisierung des Antisemitismus an der Beschneidung, letztlich des Antisemitismus selbst und nicht bloß das Eintreten für die Religionsfreiheit oder für ein theologisches, literalistisches Konstrukt des Bundes.
Träfe diese verkürzte und in Reinform schwer nachweisbare Deutung zu, würde sie eine kaum erträgliche Spannung zwischen Bestrafungsphantasie, abgewehrte Identifikation mit dem Aggressor, Kastrationsangst, Schuldvorwurf an die Eltern und Infragestellung des positiven kollektiven Selbstbildes diagnostizieren, die in Verdrängung und Verfolgungsangst münden kann. Die wütenden Ineinssetzungen von Nazismus und Beschneidungsverbot sprechen für die Existenz einer solchen tiefenpsychologischen Problemlage. Der offensichtliche Unterschied, dass der Nazismus nie das Recht des Individuums gegen das Kollektiv vertreten hat, dass also ein individualistisch begründetes Beschneidungsverbot nicht nur dem Kollektivrecht der Religionen sondern auch der suprematistischen Kollektivideologie des Nazismus diametral entgegensteht, wird ausgeblendet. Anstelle theologischer Diskussionen um die (Un-)Möglichkeit der Abschaffung der Beschneidung unter Erhaltung des religiösen Kollektivs tritt eine dualistische Radikalopposition, in der es nur Beschneidungsrecht oder den „Tod“ des jüdischen/muslimischen „Lebens“ zu geben scheint.
Die strukturell antisemitische, aber staatsantifaschistische Mehrheit im Bundestag kann ihrerseits die Drohung nicht aushalten, hier mit der konsequenten Abwertung eines spezifischen jüdischen und muslimischen Rituals dem ganzen in sich selbst tabuierten, aber nie abgeschafften Antisemitismus und Rassismus ein Einfallstor zu schaffen. Die Gesetzesinitiative antizipiert in der Formulierung vom „jüdischen und muslimischen Leben“ den Dammbruch des eigenen Ressentiments und den Umschlag von mühsam aufrechterhaltenem, begriffslosem Staatsantirassismus (dem die Realpolitik ohnehin Hohn spricht) in vernichtenden Antisemitismus. Weil man zu viele der vielfältigen Morphen des Antisemitismus in sich trägt, darf es keinen Makel am Judentum geben, an dem dieser in den deutschen Menschen auf der Lauer liegende Antisemitismus wieder Kraft gewinnen könnte. Die vermeintliche Toleranz ist mühsam durch Idealisierung verdrängtes Ressentiment, für die ernsthafte Bearbeitung von medizinischen, rechtlichen und theologischen Problemlagen bleibt kein Raum.
Wenn der Antisemitismus in dieser Debatte seine Kastrationsphantasien an der Beschneidung rationalisiert, so bedeutet doch die Anerkennung der Beschneidung als Kastration nicht die Legitimation der antisemitischen Kastrationsängste. Die Psychoanalyse des Antisemitismus weist keinen Irrtum über die Juden nach: Der Antisemitismus ist die „gewusste Lüge“, er geht gesellschafltichen Konflikten aus dem Weg und anstatt dort die Kastration zu riskieren, identifiziert er sich mit dem, was ihm als Individuum feindlich ist, dem nationalen oder antinationalen Kollektiv, und projiziert das von diesem als Negatives, Kastrierendes Erfahrene auf „die Juden“. Mit der Beschneidung hat das historisch wenig zu tun, auch wenn sie hin und wieder als Projektionsfläche aufscheint. Gemeinhin bekannt ist, dass der Antisemitismus sich sein Bild vom Juden aus sich selbst heraus schafft. Ein Beschneidungsverbot wird er ebenso inkorporieren wie die Legalisierung – und umgekehrt wird kein Antisemit durch ein Beschneidungsverbot oder eine Legalisierung von seinem Antisemitismus geheilt werden.
Mit der gleichen Begründung lässt sich auch die reaktualisierte Vermutung widerlegen, die Ritualmordlegenden seien an dem wohl ausgestorbenen Ritual entstanden, in dem der Mohel die Beschneidungswunde aussaugte um die Wundreinigung zu fördern und Blutungen zu stillen. Dann wären historisch entsprechende negative Berichte über konkrete Beschneidungsrituale häufiger. Auch in den antiken Antisemitismen findet sich die Beschneidung nur selten als Ideologem gegen das Judentum und wenn, ist es einer Reihe von anderen Ressentiments untergeordnet und tritt als Akzidentielles hinzu. Die europäischen Ritualmordlegenden erwähnen die Beschneidung nicht als verwerfliches Verhalten – dafür aber die Hostienschändung, die Hexensynagoge, den Hexensabbath und die Blut-Geldmagie.
Freud bietet eine zweite, weitaus schlüssigere Deutung des Antisemitismus an: Die von Antisemiten als „schlecht getauften Christen“, die das Negative und die unausgehaltene Widersprüchliche des unbegriffenen, weil unbegreiflichen Christentums auf das Judentum projizieren, allen voran dem christologisch notwendigem Gottesmord und dem magischen, virtuellen Kannibalismus der Eucharistie (projiziert als Hostienschändung und Ritualmord). Daher kam es zu Kreuzzugspogromen und Karfreitagspogromen, Pogrome in Folge von jüdischen oder islamischen Beschneidungsfesten sind jedoch nicht bekannt. Mit dem Hinzutreten des islamischen Antisemitismus wird die Beschneidungsthese Freuds noch unwahrscheinlicher, seine Taufthese ließe sich allerdings problemlos auf den Islam übertragen.
Während also die Freud’sche These zweifelhaft ist, dass der Antisemit seinen zweifellos gegebenen Kastrationskomplex an der Beschneidung bildet (wohingegen nachgewiesen werden kann, dass er ihn daran gelegentlich auflädt), besteht die wahrscheinliche Möglichkeit, dass für jüdische Individuen durchaus eine Abwertung der Beschneidung intrapsychisch Selbsthass und unbewusste Identifikation mit den Antisemiten auslöst, die wiederum abgewehrt werden muss.
Dahingehend ist den Beschneidungsgegnern anzuraten, angesichts der Drastik der hier formulierten Spannung ein Verständnis für diese Überreaktion einzuüben, auch wenn es schwer auszuhalten sein mag, sich nun selbst als Antisemit bezeichnet zu sehen. Weil man den modernen Antisemiten die Klage darüber, zu Unrecht als Antisemit diffamiert worden zu sein, leicht als Verdrängung nachweisen kann und die analytischen Begriffe zur Bestimmung des spezifischen Antisemitismus‘ parat hat, ist es nun umso bedeutender, sich nun selbst nicht analog idiosynkratisch zu verhalten, sondern diesen Verdacht und Vorwurf ernst zu nehmen, zu reflektieren, zu kontextualisieren und die zugrunde liegenden, möglichen Verdrängungsmechanismen ins Bewusstsein zu überführen. In keinem Fall wäre aber dem überkommenen Anspruch der Religionen, nach Belieben mit den Körpern ihrer Kinder zu verfahren, nachzugeben. Das religiöse und noch so orthodoxe Judentum gegen jeden Antisemitismus zu verteidigen ist der kategorische Imperativ. Er bedeutet nicht, eine Religion, und sei es die jüdische, vor zwangsläufigen Konflikten mit dem Realitätsprinzip zu bewahren.
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Die gesamte Trilogie zur Beschneidung auf Nichtidentisches ist über folgende Links abrufbar: