Neues von der Arbeitsfront: Der 0,15 Liter-Arbeiter von Erasco

Das kapitalistische Glücksversprechen kommt mitunter in der Werbung zur größten Ehrlichkeit:

Wer täglich alles [sic!] gibt, hat auch eine kleine [sic!] Pause verdient. Mit Erasco Heisse Tasse. Die schmeckt und gibt neuen [sic!] Schwung. So viel Zeit muss sein.

Wer bei soviel Zeit und Schwung noch Kraft hat, „kräftig“ umzurühren, der wird mit 0,15 l „Inhalt“ für „alles“ entschädigt, das er gegeben hat. Und der „neue“ Schwung maximiert sein Verwertungspotential.

„Guten Appetit!“

Glamour und Bergpredigt – Käßmann, die Lichtbringerin

Margot Käßmann schreibt in einer Art Wort zum Sonntag unter dem drohenden Titel „Wir Weltverbesserer“ (Die Zeit 2013/17: 66):

Ich blicke anders hin, habe die Bergpredigt im Sinn, die ganz andere Prioritäten setzt als Ruhm und Glamour.

Den sie selbst genießt. Nun muss man das pflichtgemäße Volksbetüttern einer Berufspredigerin nicht in den Rang der Kritikfähigkeit heben. Es lässt sich an der Predigt Käßmanns aber doch etwas Akutes ablesen. Zunächst erhebt sich natürlich Einspruch gegen diesen Satz: Glanz und Glamour, das ist exakt der Gestus der Bergpredigt. Vor seinen Fans steigt Jesus auf die Bühne, also den Berg, gibt den Fans ein fettes Feedback: Er spricht sie allesamt selig, denn das ist im Eintrittspreis inbegriffen. Und dann wirds blutig im Moshpit:

28 Ich aber sage euch: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen. 29 Wenn dich dein rechtes Auge zum Bösen verführt, dann reiß es aus und wirf es weg! Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle geworfen wird. 30 Und wenn dich deine rechte Hand zum Bösen verführt, dann hau sie ab und wirf sie weg! Denn es ist besser für dich, dass eines deiner Glieder verloren geht, als dass dein ganzer Leib in die Hölle kommt.

Was passiert aber, wenn man das Augenausreißen befolgt? Man kommt zumindest in veritable aporetische Großküchen des Luzifers:

22 Das Auge gibt dem Körper Licht. Wenn dein Auge gesund ist, dann wird dein ganzer Körper hell sein. 23 Wenn aber dein Auge krank ist, dann wird dein ganzer Körper finster sein. Wenn nun das Licht in dir Finsternis ist, wie groß muss dann die Finsternis sein!

5 Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen.

Käßman wollte nun sicher nicht theologisch die Bergpredigt diskutieren, sondern sie agiert hier ganz als Handlangerin des Kapitals: Den austauschbaren und unbedeutenden Anhängseln der Produktionsverhältnisse hämmert sie noch einmal ein, dass es gut ist, unbedeutend zu sein, dass sie in Wahrheit selig seien und nicht die Reichen und Berühmten.

Zu Geld sind diejenigen, die Jesus nachfolgten, nicht gekommen. In den Seligpreisungen steht auch nicht, dass Geld glücklich macht.

Eine faux frais, war doch der Protestantismus bekannt dafür, als Erwerbsethik das Wohlgefallen Gottes im Reichtum abzubilden. Wenn sie nun Josef Ackermann scheinheilig als Negativbeispiel hinstellt, weil der mit 2 Millionen Jahresgehalt nicht zufrieden ist, dann lügt sie sich über den gesamten Protestantismus hinweg, der den Reichen eben jenen Reichtum als Zeichen göttlicher Zuwendung definierte, während er als Pietismus den Armen traditionsgemäß die Lust als Sünde austrieb. Die Lüge wird um so durchsichtiger, als sie einen reichen Bischof, also einen Katholiken, in den USA anführt, dessen Jahresgehalt 3 Millionen Dollar gewesen sei. Diese Summe wird sie mit dem unter dem Artikel angepriesenen Büchlein für 17,99 rasch beisammen haben. Aber wer will so kleinlich sein, das ist unabhängig von ihrem eigenen Einkommen Kulturkampf. Kulturkampf aber gerade zum Wohlgefallen der kapitalistischen Reproduktion:

Du kannst aus der Spirale der Dauererschöpfung ausbrechen und der Last der Erwartungen entgegenkommen. Halte an, entschleunige, überlege neu, was du mit deinem Leben anfangen willst. Das ist gut für dich und für die, mit denen du lebst.

Wie die Astrologiespalten hat Käßmann hier gewiss nicht das Prekariat als Adressat, sondern das bürokratische Kleinbürgertum. In der Wette auf dieses Publikum kann sie sich auch erlauben, das Prekariat zu verhöhnen, das eben die Wahl zur „Entschleunigung“ gar nicht hat oder für diese mit Elendsverwaltung in Arbeitsagenturen verachtet und bestraft wird. Von Streik und Klassenkampf will sie partout nicht sprechen. Jeder ist sein eigener Ausbeuter, gottgegeben das Klassenverhältnis:

Der Bauplan der Welt leitet sich ab aus der Hoffnung auf ein Miteinander von Starken und Schwachen.

Dazu passt dann auch die süffisant empfohlene Politik mit dem Einkaufskorb, die nur jene noch ausüben können, die vom Ausbeutungsverhältnis schon privilegiert wurden und nun mit Porsche Cayenne vor dem Aldi stehen. Vom Leben bleibt das Sterben:

Sterbende sind kein Tabu, und der Tod ist kein hoffnungsloser Fall – wagen wir, darüber zu reden. Wie will ich sterben? Wie können Sterbende in Würde begleitet werden? Das sind Themen, denen wir nicht ausweichen dürfen.

Käßmann schlägt aus dem Tod noch Sinn, natürlich nicht ohne auf die kirchliche Industrie mit dem Bestseller Tod zu schielen. Nachdem sich die Frage nach dem „ob“ offenbar schon erledigt hat, wird das „wie“ angeblich zur Wahl – als würde jemand freiwillig die Wahl treffen, allein und elend in einem heruntergewirtschafteten Hospital zum Rhytmus der eisernen Lunge zu verrecken. Wenn die Kirchen das Leben schon nicht geben können, und an den Verhältnissen nicht rütteln, so bleibt ihnen nur der Tod. Oder die Liebe? Die sieht bei Käßmann so aus:

Liebe ist nicht statisch. Wer sich darauf einläßt, macht sich verletzbar. Aber es lohnt sich, in sie zu investieren, damit wir das Gewebe stärken, das unsere Gesellschaft zusammenhält. Da geht es um Familie, Ehe und Partnerschaft, aber auch um Vertrauen und Freundschaft. 

Investmentfonds Liebe zur Erhaltung der harmonistisch vergifteten Gesellschaft, der religiös vertuschten Ausbeutungsverhältnisse. Was sagt eigentlich die Bergpredigt zur Ehe?

Ich aber sage euch: Wer seine Frau entlässt, obwohl kein Fall von Unzucht vorliegt, liefert sie dem Ehebruch aus; und wer eine Frau heiratet, die aus der Ehe entlassen worden ist, begeht Ehebruch.

Just so charming, isn’t it. Der Kitt, den Käßmann abliefert, ist für die Produktionsverhältnisse gedacht, nicht für die Individuen. Die sollen am Recht nicht rütteln und doch die errungene Freiheit verteidigen.

Es gibt kein „Die“ und „Wir“, sondern nur „Uns“ in unserem Land, unserer Welt. Hier können wir in einer Vielfalt von Kulturen und Religionen leben, wenn wir das Recht achten und die errungene Freiheit verteidigen.

Das ist so konformistisch und nicht einmal eine Revolte, das spottet jeder aufrichtigen katholischen Befreiungstheologie. Selbst Käßmanns Anhänger klagen offenbar über die offensichtlichen Widersprüche ihres affirmativen Gerechtigkeitskonzepts:

Bei einem Vortrag über Gerechtigkeit fragte mich ein Zuhörer: „Frau Käßmann, seit 30 Jahren engagiere ich mich jetzt, aber irgendwie wird alles immer schlimmer. Woher soll man denn die Hoffnung nehmen, dass es besser wird?“

Und was gibt ihr die Käßmann? Durchhalteparolen mit Prophet Elia: Der Weg ist lang und so weiter. Und aber auch ein wenig Konsum als Ersatz für das verlorene Glück:

Ja, es gibt Ermüdung, weil wir alle nicht mal eben schnell die Welt retten werden. Wir brauchen Zeiten für uns selbst, in denen wir Kraft schöpfen.

Reproduktionszwang vergiftet Muße zur Freizeit. Und was hat Käßmann den Verwalteten anzubieten?

Im Glauben, im Gottesdienst, beim Pilgern und Schweigen können wir Kraftquellen erschließen. Wir dürfen uns auch Gutes tun!

Wo noch Widerständigkeit in den Menschen überlebte, werden sie hier komplett zur Batterie zugerichtet, in der irgendwelche verborgenen Ressourcen noch „erschlossen“ und vernutzt werden sollen. Das ist noch nicht der Gipfel, der Gipfel der Ekelhaftigkeit ist es, diese in Selbstausbeutung Erschöpften noch einmal in die kirchlichen Pilgerindustrie zu hetzen und ihre letzten finanziellen und zeitlichen Ressourcen kontrollieren und ausbeuten zu wollen und das dann als „sich Gutes tun“ zu verkaufen wie der Kaffee, der die meisten doch viel eher bei der Arbeit hält als ihnen die idyllischen Ruhepausen der Cappucino-Werbung zu gönnen.

Was Käßmann in jeder Faser ausschließt, ist Widerstand.

Zum Frieden gehört der Mut, Konflikte gewaltfrei zu lösen – im persönlichen Umfeld wie in internationalen Konflikten. Waffen sind keine Lösung, sondern das Problem. In den Seligpreisungen entwirft Jesus eine Kontrastgesellschaft, die für uns Provokation und Leitfaden sein kann, auch im politischen Handeln.

Das sagt ein Nachkomme einer Gesellschaft, die nur durch Waffengewalt aufgehalten werden konnte. Solcher Pazifismus nach dem Nationalsozialismus ist die Befürwortung des Nationalsozialismus, der zynische Spott über die sich für „unsere Freiheit“ opfernden alliierten Soldaten, denen man hier noch zurät, sie hätten noch mehr Wangen hinhalten und noch mehr Menschen ins Gas schicken lassen sollen. Den aggressiv-pazifistischen Deutschen lässt sie ein Lichtlein tragen, als wüsste sie nicht genau, wer in der biblischen Mythologie der Lichtträger ist:

Ihr seid das Licht der Welt. So lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.

Käßmann zündet hier wohl eher ihr kleines Lichtlein an, um gewaltig über die schlechten Werke hinwegzublenden. Wer bezeichnete bekanntermaßen sich und die arischen Deutschen in der Geschichte als „Lichtbringer“ im Kampf gegen „lichtscheues Gesindel“? Man kann dieser „Lichtbringerin“ jedenfalls nur ihr eigenes Kraut empfehlen:

Wenn nun das Licht in dir Finsternis ist, wie groß muss dann die Finsternis sein!

Workshop „Kritisch-Theoretische Filmanalyse“ in Marburg, 4./5.5.

Institut für Soziologie, Seminarraum 1 (00.003), Ketzerbach 11, Marburg
Der hypnotische Charakter des Filmes, seine sedierende Wirkung, haben zuerst seine treuesten Konsumenten, die Filmwissenschaften, erfasst: Sie idealisieren ihren Forschungsgegenstand häufiger als sie ihn in Frage stellen und in ihren Analysen ist es ganz demodée, das gesellschaftliche Verhältnis dieses Mediums als Ganzes kritisch zu erfassen und zu betrachten. Stets ist von neuen subversiven Schöpfungen die Rede, mit denen der Film endgültig gerettet werden soll zur Avantgarde, zur basisdemokratischen offenen Form, zur Kritik – und stets kommt nichts aus der Kritik heraus, als die selbsterteilte Erlaubnis an den Intellektuellen, dem Film zu Forschungszwecken zu frönen. Nerdtum offeriert dabei noch den Anschein eines sicheren Bodens, von dem aus sich über Filme reden ließe: Die positivistische Anhäufung von offensichtlichen oder irrelevanten Fakten. „Hermeneutische“ filmanalytische Verfahren streichen hingegen gerade die im positivistischen Moment noch aufscheinende gesellschaftliche Gebrochenheit durch und behaupten ein zuallermeist positives Sinnganzes des Films, dem sich dann durch Introspektion auf die Schliche kommen ließe. Filme werden zu harmlosen, jeweils vereinzelten „Erzählungen“. Und selbst die Psychoanalyse weiß heute häufig nichts Besseres mehr anzurichten, als die von Psychoanalytikern extra für Psychoanalytiker ausgestreuten Konflikte und Rätsel noch einmal nachzuerzählen und dem Film oder dem Filmheld die Diagnose als Arztbrief auszustellen. Da aber an der Beliebtheit des Filmes nichts zu rütteln ist, wird keine dieser Veranstaltungen dem Filmpublikum vorhalten, wie und wozu es manipuliert wird.Kritische Theorie stört diese Party und wird daher mit der stärksten Waffe akademischer Zensur bekämpft: Dem Vorwurf des metaphysischen, schlimmer noch: „veralteten“ Elitismus, des Vorurteils. Was Adorno, Kracauer, Benjamin tatsächlich über Film und Kulturindustrie zu sagen hatten, mitunter an verzweifelten Hoffnungen an ihn herantrugen, zergeht in einer selektiven Zitation, in systematischen Missverständnissen und in der hämischen Aufrechnung, dass ja ausgerechnet Theodor W. Adorno mit Gretel Adorno die Tierklinik-Soap „Daktari“ seriell konsumierte oder gar ins Kino ging.

Der Workshop soll gegen diese Tendenzen Film-Konsumenten die Kritische Theorie des Filmes näher bringen, ihnen ermöglichen, spezifische Muster in Frage zu stellen. Wie verlängert sich in Filmen Gesellschaft in die Individuen hinein, was am Medium Film machte es zur dominanten Form von Ideologietransport. Im Allgemeinen bleibt das Besondere des individuellen Films, im weiteren Verlauf die Genres, die jeweilige gesellschaftliche Entfaltung als Genre von erheblicher Relevanz. So stehen einige der neueren und nicht so neuen Phänomene auf dem Prüfstand: Der indigene Film, Trash, Crowdfunding, neuere Kunstfilmkonzepte. So viel Avantgardismus dem spezifischen Produkt auch eingeflößt werden konnte, innerhalb des kulturindustriellen Systems bleiben sie Werbung für den nächsten Film oder für den Film als gesellschaftliche Institution. Anhand einiger ausgewählter Filmanalysen eher fortschrittlicherer Filme werden starre Stile der Stereotypisierung bestimmt, die auch diese Genres immer nur ansatzweise aufgehoben haben: Rassismus, Sexismus, Disziplinierung, Desaster Therapy, Tough Baby, Damsel in Distress, Success Story, Final Girl, Assessment Center, Instrumentelle Psychoanalyse, Antisemitisches Gelächter.Am Samstag den 4.5. und Sonntag den 5.5. treffen wir uns im Seminarraum 1 (00.003) im Institut für Soziologie (Ketzerbach 11) jeweils um Punkt 10 Uhr. PUNKT zehn Uhr. Am Samstag geht es mit Pausen bis 18:00, um 19:00 bieten wir eine gemeinsame Filmlektüre an. Am Sonntag wird die Veranstaltung um 13:00 zum Mittagessen sich auflösen. Veranstaltungsort:

Eigene Referate sind möglich nach Voranmeldung. Wir bitten darum, bis zur Veranstaltung folgende Filme nach Möglichkeit OMU gesehen zu haben:

https://www.facebook.com/events/597624490265622/
– First Blood (aka Rambo I)
– The Green Mile
– Apocalypse Now Redux
– Pans Labyrinth
– Atarnarjuat the Fast Runner (Livestream möglich)
– Top Gun
– The Happening
– I hired a Contract Killer
– Die Entdeckung der Currywurst
– 4 Minuten
– The Master (Nigeria. Gekürzte Version: http://www.youtube.com/watch?v=0KqesD2JU88&wide=1)

Ein PDF-Reader geht den Teilnehmern zu. Die Quellenangaben der OBLIGATORISCHEN TEXTE sind:
– Kulturindustrie. In: Dialektik der Aufklärung, Adorno/Horkheimer. Fischer Verlag.
– Das Spektakel des Anderen. In: Ideologie, Identität, Repräsentation. Ausgewählte Schriften 4: Stuart Hall. Argument Verlag.
– „Dreams are made like this“ – Hortense Powdermaker and the Hollywood Film Industry. Jill B.R. Cherneff. Via JSTOR.
-„Damsel in Distress“: https://www.youtube.com/watch?v=X6p5AZp7r_Q

Weiter empfohlen für die intensive Einarbeitung:

– Alles falsch: Auf verlorenem Posten gegen die Kulturindustrie. Braunstein, Dittmann, Klasen (Hg.) 2012. Verbrecher Verlag
– Adorno. The Culture Industry. Selected Essays on Mass Culture. Bernstein (Hg) 1991. Routledge.

– Part IV: Hollywood. In: Stranger and Friend. The Way of an Anthropologist. Hortense Powdermaker. W.W. Norton & Company.

Eine Veranstaltung der Aktiven Fachschaft Soziologie Marburg
(http://www.fachschaft-soziologie-marburg.de/)

Um an der Veranstaltung teilzunehmen, bitten wir um Anmeldung unter: filmworkshop.fssoziologie@gmail.com

Betrifft: Polemos #5, Prodomo#17 Beschneidungsdebatte

Man kann darüber streiten, wie vergeblich die Mühe ist, Beiträge in Zeitschriften zu kritisieren, die wie ihre Tante „Bahamas“ alles, aber keine Diskussionsforen sind, und die im Zuge dessen auch keineswegs Kritische Theorie machen, sondern Publizistik.

Zur Beschneidungsdebatte, deren politisches Fazit jeden Säkularismus in Deutschland wie auch in den mit Argusaugen auf den Westen blickenden arabischen neuen Staaten auf Jahre hinweg kalt gestellt hat, muss man eigentlich nichts mehr schreiben. Gleich vier Autoren sehen sich trotzdem ein Jahr, nachdem kritische Positionierung relevant und riskant gewesen wäre, dazu gezwungen, irgendwas Äquidistantes, materialistisch angehauchtes über Recht, Staat und Nation zusammenzuzimmern. Das alles kann man selbst nachlesen, wenn man es noch der Bedeutung verdächtigt. Hier geht es nur kurz um das gröbste Missverständnis, das jenseits der Beschneidungsdebatte relevant ist, weil es einen grundfalschen Begriff von Psychoanalyse voraussetzt:

Dies geschah ungeachtet des Umstands, dass der Islam im Verlauf der Diskussion auch von den Beschneidungsgegnern immer wieder dafür gelobt wurde, dass die Beschneidung hier relativ spät vorgenommen wird und man sie vielleicht nur noch ein paar Jährchen weiter zu verschieben bräuchte, damit sie der Forderung genüge trage, die Beschneidung in einem Alter freier Entscheidungsfähigkeit durchzuführen.

Dass allerdings eine bereits entwickelte Reflexionsfähigkeit und gemachte Schmerzerfahrungen eine Beschneidung in höherem Alter verglichen mit einer im Säuglingsalter durchgeführten ungleich angstvoller und damit auch schmerzhafter machen, liegt jedoch auf der Hand (5).

Anders als bei der jüdischen Beschneidung des Säuglings dürfte die Beschneidung nach dem einmal entfachten ödipalen Konflikt ihrerseits direkt durch die dann mit einer Beschneidung unvermeidlich einhergehende Kastrationsdrohung motiviert sein. Bei der Säuglingsbeschneidung müsste die Kastrationsangst allerdings ausbleiben. (Leo Elser, Polemos #5)

In der Fußnote heißt es:

Nicht bestritten ist damit, dass auch Säuglinge Schmerzen empfinden können. Schmerzen sind aber ihrerseits immer auch durch Individualität und Erfahrung vermittelt, weshalb sich die Qualität des Schmerzes nicht rein empirisch (z.B. durch Beobachtungen der Gehirnströme o.ä.) feststellen lässt.

Wir wissen nicht, welche Säuglingsforschung Elser hier einbezieht, und müssen uns wie er auf das Moor der Einfühlung, der Introspektion und Logik wagen. Elsers Herleitung lautet:

Kastrationskomplex plus Beschneidung ist gravierender als Oralität plus Beschneidung. Warum? Weil „mehr Individuum“, „mehr Reflexion“ möglich sei, also „mehr Angst“, bzw. qualitativ anderer Schmerz.

Das beinhaltet eine Verkehrung der psychoanalytischen Befunde, dass alle Erfahrungen auf früheren aufruhen, durch diese hindurch gefiltert werden. Der Säugling ist nicht einfach weniger erfahrungsfähig als das Kleinkind, sondern die Erfahrungen des Säuglings sind essentieller Grundstein der Erfahrungswelt des Kleinkindes, Störungen in der oralen Phase wirken auf das Gelingen beispielsweise der Triangulierung zurück. Wenn ein Säugling am 8. Tag seines Lebens unsägliche Schmerzen erleidet, die ihn in die Schockstarre zwingen, dann hat er nach diesem Tag bereits ein Achtel seines postnatalen Lebens Schmerzen erlitten und kann noch nicht einordnen, ob diese jemals wieder aufhören werden, er muss auch befürchten, diese jederzeit wieder zu erleiden. Erst im Lauf der Zeit lernt der Säugling, Versagungen zu tolerieren und Triebregungen aufzuschieben oder zu sublimieren. Das junge Kind kann bereits symbolisieren, er kann einordnen und er kann auch getröstet werden durch Sublimierungen und die Versicherung, dass es nun eben vorbei sei. Das bedeutet: Die Beschneidung im Säuglingsalter ist keineswegs weniger angsterzeugend als die im Knabenalter.

Noch falscher ist, durch die frühe Beschneidung nicht den Kastrationskomplex aktualisiert zu sehen oder wie Niklaas Machunsky in islamische Beschneidung als Inzestverbot und jüdische Beschneidung als Unterwerfung unter ein Gesetz zu trennen. Würde man diese doch sehr naive Auffassung wirklich zu Ende denken, wäre zuerst einmal der gesamte Kastrationskomplex des Mädchens hinfällig. Das ist bekanntlich gar nicht kastriert, missversteht sich aber genau so und beschuldigt die Mutter für den vermeintlichen Defekt oder vermutet eine Strafe für eine unbekannte Tat.

Der beschnittene Junge wird jedoch darüber hinaus immer ein Bewusstsein davon haben, dass er tatsächlich eine Narbe trägt, dass er in einer grauen Vorzeit für irgendein ihm unbekanntes Vergehen kastriert wurde. Spätestens bei der Beschneidung von Brüdern, Söhnen oder anderen Verwandten wird diese Frage akut. Nicht zu wissen, wer dieser unbekannte Kastrator war, wofür man bestraft wurde, das dürfte dann doch ungleich angsterzeugender sein, als eine Konkretion der Ängste vor sich zu sehen, die man wenigstens Zeit seines Lebens hassen darf. Die Konkretion von Ängsten wurde übrigens in der psychoanalytischen Märchenforschung Bettelheims respektabel, unter der logischen Voraussetzung, dass sie im Märchen auch bleibt.
Auch die jüdische Beschneidung ist gegen den Inzest gerichtete Kastrationsdrohung. Gesetz als psychologische Instanz, als gesellschaftlich sanktioniertes Über-Ich ist gemeinhin in der Psychoanalyse gar nicht denkbar ohne die Internalisierung der kastrierenden Vater-Instanz.

Das Judentum als religiöser Kanon beinhaltet immerhin einige Regelungen, die zumindest nahelegen, die aggressiven Aspekte des Rituals weitgehend in den Schein der Zärtlichkeit, der Integration und der Homoerotik zu kleiden.  Das entspricht der Doppelgestalt aller Beschneidungsinitiationen, wie sie Theodor Reik beschreibt: homoerotische Zärtlichkeit und Aggression/Kastration. Es bleibt aber intendiert als aggressiver Akt, als verstümmelnde Kastration, die sich spätestens dann als Traumatisierung ausweist, wenn sie um jeden Preis am eigenen Kind wiederholt werden muss. Dem wirklich komplizierten Sachverhalt stellen sich alle Autoren nicht oder allenfalls als Illustrationsmaterial elegischer Staatstheorien: Dass die Beschneidung nun einmal archaisch und barbarisch ist, obwohl genau das die Antisemiten den Juden als Wesenszug anlasten – natürlich nur, um im zweiten Atemzug die modernsten Errungenschaften wie gerade den bürgerlichen Rechtsstaat als jüdische Erfindung zu verdammen und sich  mit Tradition und Barbarei zu identifizieren.

Jan Huiskens begründet in der Prodomo mit viel Adorno, Marx und Schmalz,  „warum außerdem die Juden mitsamt ihren Bräuchen gegenüber allen „Kinderschützern“ und sonstigen Staatsfetischisten verteidigt werden müssen.“ Das ist martialischer Heroismus, der hohl klingt, weil er längst mit dem staatlichen Konsens konform geht. Die selbsterklärte Avantgarde der Kritischen Theorie folgt damit den poststrukturalistischen Beschneidungsverharmlosern, sie gibt sich lediglich etwas mehr Mühe, Adorno selektiv zu lesen und Staat raffiniert, aber ganz undialektisch von Gesellschaft zu trennen, was ihnen darauf hinausläuft, im Recht des Kindes gegen das Kollektiv den Volksstaat der Nationalsozialisten zu bestimmen. Das setzt zwar ganz hahnebüchene Relativierungen und Kategorienfehler voraus, weist aber ebensowenig Empathie für jüdische oder muslimische Kinder auf wie die Gesetzgeber.

Jan Gerber hat in seinem eigenwilligen Beitrag leider auch nicht viel Bereicherndes hinzuzufügen, er wiederholt eigentlich das prüde Ressentiment gegen das historisch vermutlich erste, wenngleich reichlich verkrampfte gesellschaftliche Gespräch über die Verwundbarkeit männlicher Genitalien:

Aller Rhetorik vom Wohl der Kinder, den „Lehren aus der Geschichte“ oder dem säkularen Staat zum Trotz war die Beschneidungsdebatte damit vor allem eins: die publizistische Variante eines traditionellen Schwanzvergleichs. (Jan Gerber, Polemos #5)

Man fragt sich, warum er trotz dieser Einsicht daran teilnimmt.

Der ewige Trauma

Der Spiegel ließ in der Ausgabe 8/2013 eine tendenziöse Rezension der israelischen Dokumentation „The Gatekeepers“ mit einem Zitat eines ehemaligen israelischen Shin-Bet-Chefs einleiten: „Wir sind ein grausames Volk geworden.“ Das klingt in Deutschland, dem Land der Ritualmordlegenden, gleich doppelt fetzig: ein Kronzeugenzitat mit israelischem Persilschein und allem Geheimdienst-Pipapo.

Fürs neue Cover (13/2013) genierte dann wirklich nichts mehr. „Das ewige Trauma – Der Krieg und die Deutschen“. Ein mitleidserweckend zersauster Soldat blickt uns klagend an, hinter ihm ein Flüchtlingsstrom und, Kitsch komm raus, das Brandenburger Tor, um wirklich sicherzustellen, dass hier Deutsche nach Deutschland fliehen und nicht etwa Juden nach Shanghai. In der unteren Bildhälfte dann Farbe: Ein Foto, das aus der Ferne betrachtet vormarschierende GI-s zeigen könnte, ein Blick ins Heft legt aber nahe, dass es Bundeswehrsoldaten in Afghanistan sind. „Verwundete Nation“ titelt ein Beitrag im Heft: „Immer wieder arbeiten die Deutschen das Trauma der NS- und Kriegszeit neu auf – und bleiben eine verwundete Nation. Der Psychiater Hartmut Radebolt analysiert das „Erschrecken über uns selbst“.“ Dann noch einmal: „Die Wunde der Vergangenheit“ als Schlagzeile.

Was soll aber am Trauma ewig sein in einem Land, dem Franz Josef Strauss 1969 versicherte: „Ein Volk, das diese wirtschaftlichen Leistungen vollbracht hat, hat ein Recht darauf, von Ausschwitz nichts mehr hören zu wollen?“ Zur selben Zeit, in dem der erste und einzige Aufstand gegen die ungebrochene nazistische Hegemonie in der Demokratie von ein paar tausend pubertierenden StudentInnen organisiert werden musste? Ein aktueller FAZ-Leserbrief beklagt, dass vor allem Deutsche Opfer der Nazis gewesen seien, eine Verwandte sei als Krankenschwester an die Front versetzt worden, weil sie gegen Euthanasie war. Wenn das so massenhaft so war, dann wundert doch die friedliche Stille und Eintracht sehr, in der Deutschland über 20 Jahre lang wieder aufgebaut wurde. Nota bene, damals waren weite Teile beispielsweise des hessischen Landtags in der NSDAP gewesen, inklusive Justizministerium, weite Teile der Bürokratie wurden niemals entnazifiziert, Grundstein für den späteren Erfolg der nationalsozialistischen Terrorwelle. Paradox war: Schuld im eigentlichen psychologischen Sinn empfanden fast ausschließlich Opfer und jene, die gescheitert waren in ihren mal verzweifelten, mal dilletantischen Versuchen des Widerstandes. Hätte Strauss gewonnen und wären die pubertierenden Studierenden nicht irgendwann doch erwachsen und mitunter erschreckend kompromissbereit geworden, man könnte noch viel ungestörter die traditionelle deutsche Wundversorgung betreiben: Kriegerehrenmäler, Kameradentreffen, SS-Vereinsabende.

Überlebende Altnazis und Opfer heute wissen genau, was sie mit dem „ewigen Trauma“ assoziieren sollen: den NS-Propagandafilm „Der ewige Jude“. Und genau auf diese den meisten wohl eher unbewusste Assoziation baut der Spiegel-Titel: Das „ewige“, weil narzisstische Trauma ist den Deutschen „der ewige Jude“, jene Juden, die als Überlebende und Nachkommen an die Verbrechen, zumindest aber an Feigheit, Mitmachen, Zusehen erinnern.

Im Spiegel heißt es auch nicht „Die Deutschen und der Krieg“. Das würde Kriegsschuld suggerieren. „Der Krieg“ ist vorangestellt, um die Suggestion von etwas äußerlichem, abstrakten zu bewahren, das unter anderem eben auch über die Deutschen gekommen sei und von dem sie sich immer noch nicht erholt hätten. Die beschworene Wunde erscheint nun nicht bedrohlich, weil sie die paradoxesten Reaktionen inklusive für alle möglichen Minderheiten bedrohlichen Wiederholungszwang zeitigt, sondern weil sie angeblich heute die gebotene Effizienz der Bundeswehr blockiert, die ausnahmsweise Demokratie und Freiheit verteidigen sollen. Dieser Effizienzverlust durch nationales Trauma schadet also wiederum nur: den Deutschen.

Das neueste Cover ist sicher kein Testballon und keine Aberration. Der Spiegel ist spätestens seit der Augstein-Affäre auf Trotz-Kurs und muss sich in jeder Ausgabe seiner neuen, selbsterteilten Definitionsmacht über den Antisemitismus vergewissern. Das Cover ist Ausdruck eines kühlen, marktorientierten Opportunismus, der mit viel bewährtem Schmalz und ins Detail berechneter und erprobter Manipulation die bestehende Popularität einer Fernsehserie ausbeutet. Die explizite Botschaft, dass man sich offenbar für gar nichts mehr schämen muss und damit ökonomisch (und militärisch) Erfolg haben wird, das vereint Spiegel und Strauss. Verwandt ist das allemal mit der Auslöschung jedweden rationalen und irrationalen moralischen Bedenkens durch den berüchtigten nationalsozialistischen „Anstand“: Dass man wie Himmler die Erschießungsgräben besichtigt und hinterher meint, „anständig“ geblieben zu sein, was für Himmler bekanntermaßen bedeutete, ein paar Schwindelanfällen wegen der vielen Leichen getrotzt zu haben.

„Ausgerechnet Sex“ – Deutsche Ideologie zum Anfassen

Ein deutscher Film, so lautet das Gesetz, bedarf entweder eines Mörders oder eines Eigenheims, das gegen ökonomische Kalamitäten verteidigt werden muss. In „Ausgerechnet Sex“ darf das Häuschen dann auch mal eine millionenschwere Villa in Münchens Speckgürtel sein. Die gesetzlich vorgeschriebenen zwei Kinder, natürlich gemischgeschlechtlich und mindestens ansehnlich, verlieren tragischerweise den lieben Vater.

Die Mutter sieht sich vor fast unüberwindliche Schwierigkeiten gestellt, um den Kindern die Privatschule und das Designertraum-Schlösschen zu erhalten: Soll sie ein paar edle Vasen, Gemälde und die Dunstabzugshaube verkaufen, um die irrsinnigen Schulden von 84,000 Euro zu bezahlen? Oder überwindet sie ihre Prüderie und führt die Pornofirma des Gatten weiter, der seinen sauren Broterwerb vor ihr verheimlichte? Müssen gar die Kinder ins Elend der öffentlichen bayrischen Schulen abrutschen? Die logischste Alternative, das fürstliche Anwesen zu verkaufen und sich auf einer Karibikinsel zur Ruhe zu setzen, steht natürlich nicht zur Debatte – die arme reiche Frau hat das sich selbst zeugende Kapital zu neuem Elan zu motivieren und muss dafür ihre Verklemmung überwinden.

Die Verklemmung besteht nur oberflächlich in antiquierten Vorstellungen von einer Einheit von Liebe und Sex, die sie daran hindern, entspannt bei Pornoproduktionen zuzusehen. Für den Produktionsprozess ist sie so überflüssig wie sonst nur der europäische Adel. Als Legitimationsplattform für die Herrschaft dient die „Familie“, zu der die Belegschaft mutiert. „In meiner Firma wird niemand ausgebeutet“ protzt die Chefin mit der Luxus-Villa. Sogar die Oma putzt in dem „Familienbetrieb“ und ist ganz versöhnt mit dem Klassenunterschied innerhalb der Familie.

Die Erbin will sich des Produktionsprozesses inklusive Schwiegermutter bemächtigen und träumt von ökologisch korrekten Pornos mit künstlerisch-amourösem Wert, sprich: Mehrwert. Der Geschmack des knallharten Marktes droht sich dann auch nach Fehlschlägen durchzusetzen, würde die Unternehmerin nicht doch ihre einzige Leistung liefern: eine Marktlücke entdecken. Die besteht in den sexuellen Wünschen von anderen, noch reicheren Frauen. Deren angehäuftes Kapital kann gar nicht mehr selbsttätig vershoppt werden, so dass ein eigener Privatporno mit dem galanten „Roy das Rohr“ interessantes Ersatzbedürfnis wird. Die geniale Managerin „erfindet“ den „Freundschaftspreis“ von 1500 Euro für ein komplettes Filmchen. Was da nach den Produktionskosten noch für die Darsteller bleibt, spottet wahrscheinlich noch dem durchschnittlichen Prostituiertenlohn. Immerhin: Bei der ersten Konsumentin ist „alles noch ganz knackig“.

Unter dem sozialen Druck von Moralaposteln (und vor allem aus ästhetischen Skrupeln) wird so aus der Pornofirma, in der vormals Befreundete und verheiratete Schönheiten vor der Kamera Sex hatten, ein Edelbordell, in dem die Darsteller fortan Privatpornos für reiche Scheidungsanwältinnen drehen müssen. Das wird abgefeiert als Rettung der Firma, als moralisch integrer Fortschritt, als Zugeständnis an die Puritaner an der Privatschule und als privatfamiliäre Versöhnung mit der eventuell doch zu freizügigen, renitenten Tochter und dem überkeuschen Sohn.

Natürlich handelt die Leiterin im Interesse der Angestellten. Geldprobleme hat natürlich nicht nur die Unternehmerin, aber sie hat die drastischsten. Das ist Krisenbewältigung a lá Deutschland, mit ein paar halbgezeigten Brüsten und Lederröckchen verziert. Da darf zwangsliberal dann auch der seit neuestem für den deutschen Film obligatorische Transvestit auftreten – wie immer nur, wenn er körperlich schwach ist und beim Joggen ohnmächtig wird. Natürlich gibt es auch einen fahrradbehelmten Spießer, der Pornos verabscheut und seinen Kredit zurückfordert. Und es gibt einen schmierigen Jung-Regisseur, der einem Schneewittchen von 17-Jähriger nachsteigt und die Filmproduzentin ganz abscheulich erpresst – was die darüber furchtbar Empörte natürlich nicht davon abhält, ihre KundInnen gleich Dutzendweise mit den produzierten Privatpornos zu erpressen. Das alles ist so flach wie ein Papier, aber raffinierte Ideologie.

„Ausgerechnet Sex“ ist der nicht mehr ganz neue Versuch, das Adelsdrama zu renovieren. Das hineingeschleuste Marktprojekt ist gar nicht unzeitgemäß: Neben der ganzen deutschen Ideologie wird die reiche Frau als Freierin hoffähig gemacht. Die traditionelle ökonomische Rolle des Mannes, der sein überschüssiges Kapital im Puff ausgeben darf und soll, wird von zwei Seiten in die Zange genommen:

Zuerst wird sichergestellt, dass hier wirklich alles freiwillig und nicht etwa aufgrund ökonomischer Zwänge geschieht, die für weibliche Prostitution wie für jede Lohnarbeit typisch sind. Alle Pornodarsteller und –darstellerinnen arbeiten natürlich aus purem Spaß an der Freude, Arbeit ist Lust oder Show.

Nachdem die neobourgeoisen Frauen ihre vom 50-er-Jahre-Patriarchat angefressene ökonomische Position endlich revolutioniert haben, wird ihnen angeraten, ihre Sexualität zu liberalisieren, nach dem Modell der Männer zu verfahren, und ebenfalls auf die sexuellen Unkosten zu kommen, die der Arbeitsprozess und der Rückstand echter gesellschaftlicher Liberalität mit sich bringt – das alles natürlich ohne den Ludergeruch eines gewöhnlichen Bordells, hier ist pornographischer Sex käuflich, privat und politisch korrekt. Unmoralisch daran ist die perfide Leugnung von Ausbeutung in der Produktion, die hier noch larmoyant zum Leid und Wehe der Firmeneignerin umgelogen wird, mit der dann alle Beteiligten noch sich identifizieren dürfen.

„Verbrennt sie alle!“ – „Hänsel und Gretel: Hexenjäger“ als zynische Exploitation

„“Hansel & Gretel: Witch Hunters“ has a lock on No. 1 at the box office with an expected opening of about $30 million, according to people who have seen pre-release audience surveys.“ (LA-Times)

Das Märchen von Hänsel und Gretel wurde mitsamt einigen anderen von den Alliierten nach dem Krieg verboten. Es stand unter Verdacht, die Fixierung der Deutschen auf die Verbrennung von vermeintlichen Bösewichtern aus der vor allem in Deutschland grassierenden Hexenjagd des 16. und 17. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert hinein konserviert zu haben. In den Öfen von Auschwitz kehre nur zu deutlich das Märchenmotiv wieder, das Faible der Nazis für romatische Märchen war evident. Die temporäte Identifikation mit den Hexen als vermeintliche germanische Urreligion vollzog der Okkultist Himmler, er wollte den Juden die Hexenjagden unterschieben und arbeitete dabei schon selbst am monströsen Autodafé, dem Holocaust. Ob Juden nun zu Hexen oder Hexenjägern oder beidem gleichzeitig erklärt wurden, der Kontext der Hexenjagden ist für den Nationalsozialismus erheblich. Spätestens in den 1950-ern wurde aber schon wieder munter das Volkslied gesungen von Hänsel und Gretel, die die böse Hexe in den Ofen stoßen: „Die Hexe musste braten, die Kinder gehn nach Haus.“ Dazu wird dann oft noch ein Kindergartentheater aufgeführt, in dem die Hexe dann jämmerlich kreischen muss zum Beifall der Kleinen. Wenn Kinder Märchen brauchen, dann sicher nicht dieses.

Der Splatter-Kracher aus dem Hause Paramount Pictures langweilt nicht nur durch flache folienhafte Durchführungen bekannter Genre-Elemente – das ist schon hinreichend dem Trailer zu entnehmen, der als eigenständiger Kurzfilm gelten kann. Dass Splatter auch reflektiert, spannend, ironisch, lustig und politisch sein kann, beweist Tarantino mit „Django unchained“. „Hänsel und Gretel“ aber entbehrt jeden Schuldgefühls, jeder Reflexion auf irgendeine Problematik, jeden Intellekts.  Wenn da Hänsel vom Leder zieht: „Ich aber sage: Verbrennt sie alle!“ dann sollte dieser gezielt installierte pseudoironische Radikalismus Angst erzeugen. Dieser Film meint exakt das, was er sagt. Das Böse wird hier vollständig rein dargestellt, eine Technik, die extremsten unreflektiertesten Sadismus erlaubt und überaus anfällig ist für Rassisierungen. Das Problem ist nun, dass dieses hier im Film vorgestellte Böse nicht auf einer symbolischen Ebene stattfindet.

Hexenjäger in unterschiedlichen Stufen der Grauamkeit sind Realität in weiten Teilen der Erde. Sie werden unter anderem inspiriert von Filmen. Zwar wird zwangsläufig eine Trennung im durchschnittlichen afrikanischen Publikum vollzogen: westlichen Special-effects wird eine andere Botschaft zugeteilt als den afrikanisierten, die als dokumentarisches Abbild der okkulten Vorgänge gelten. Dennoch ist die Wirkung eines solchen Filmes auf ein zutiefst hexengläubiges Publikum abzusehen, wie es ja auch in den pfingstkirchlichen und volkstümlichen Teilen der westlichen Religionsangehörigen millionenfach präsent ist.

In Nordghana berichtete mir eine Frau, wie man ihr eine Nadel längs in den Finger trieb, um von ihr ein Geständnis zu erwirken. Andere wurden mit Dornen oder Lastwagenkeilriemen ausgepeitscht, man zerschmetterte ihre Fußgelenke mit Steinen oder Hämmern. Wenn ein westliches Publikum heute johlend sich über visualisierte Gewalt an „Hexen“ aufreizt und eine gänzlich unreflektierte Werbesprache das auch noch überall als Kurzweil anpreist, dann widert das an in einem unbeschreiblichen Maße.

„Hänsel und Gretel“ ist offensichtlich nicht nur faschistoid in seinen unironischen Rechtfertigungsmustern von Gewalt, den kalten Identifikationen mit Steampunk-Waffentechnik, die schon das nachgeordnete Computerspiel andeuten. Das ohne jeden echten Witz stattfindende Abfeiern der Gewalt gegen ein böses mythologisches Konstrukt ist im Kern ein nationalsozialistisches. Die unbewussten Nazis weltweit werden mindestens beim Konsum des Trailers im Geiste „Hexe“ und „Jude“ gleichsetzen und die Botschaft „Verbrennt sie alle!“ mit nach Hause nehmen. Den besonders eifrigen Exekutoren bietet man schon „Spiele“ an, in denen Kinder vor herbeifliegenden Hexen geschützt werden sollen. Das verkrampfte Understatement, man glaube ja sicher heute nicht mehr an so etwas, und deshalb dürfe man ja wohl noch gerade so etwas mimetisch nachspielen, ist schon die Schlussstrichmentalität des Postnazismus.

Der nette kleine Handala

„Der Palästinenser Naji al Ali gilt als einer der einflussreichsten Künstler des letzten Jahrhunderts und ist für viele eine große Inspiration. Als die wichtigste von ihm geschaffene Figur gilt Handala, die dem Leser immer den Rücken zuwendet. Handala ist barfuß und trägt geflickte Klamotten. Er ist ein kleiner Junge aus einem palästinensischen Flüchtlingslager. Zusammen mit den Lesern betrachtet er die Erlebnisse seines Volkes, die Naji al Ali in stark symbolischen Bilder gezeichnet hat. Der palästinensische Autor Amer Shomali erinnert sich, dass er als Kind in den Bildern von Naji al Ali zum ersten Mal Blut sah. Schwarzes Blut, da al Ali nur in Schwarzweiß malte. Durch diese Bilder lernte auch der jordanische Künstler Mike V. Derderian, dass Comics viel mehr sein können als Unterhaltung.“ (Quelle: Goetheinstitut: 1)

Ein Kind als Comicfigur, wer könnte da Böses vermuten. Kinder sind ein narzisstischer Spiegel von Reinheit, Unschuld, Omnipotenz und Weisheit. Daher eignen sie sich auch perfekt zur Immunisierung von Propaganda gegen Kritik. Handala, das ist die Figur eines ewigen Zehnjährigen, der den Betrachter über seine Schulter blicken lässt. Diese altbekannte Technik adaptiert die Bildsprache der Romantik. Caspar David Friedrichs Gemälde machten die Rückenansicht populär, Sehnsucht und Identifikation als Ausdruck einer im bildlichen Sinne rückwärtsgewandten Epoche.

Was für Szenen halluziniert dieser Junge Handala nun seinen Zuschauern vor? Zum Beispiel folgende: die Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem vor schwarzem Himmel, aus dem Wolken von Fallschirmjägern fallen. Einer tritt bei der Landung einen unbewaffneten jüdischen Soldaten ins Gemächt. Der geht zu Boden, seine Hakennase entsetzt auf das Sturmgewehr des grimmig dreinblickenden Überwältigers gerichtet. (2)

Oder: einem mit enormer Hakennase ausgestatteten Schneckenwesen mit Davidsstern, feist grinsend, geben zwei weitere Schnecken die Hand, sie sollen Palästinenserführer symbolisieren. Denen tippt ein Mann auf den Kopf, seine Faust droht durch den offenen Hosenlatz. Sicher keine Aufforderung zum Dialog. (3)

Einem am Boden liegenden ausgemergelten Mann zeichnet Naji al Ali Operationsnarben auf den Leib, dort, wo vielleicht lebenswichtige Organe waren. Die Narben bilden einen Halbmond und ein Kreuz. Davidssterne erfüllen den Hintergrund. Wohl kein Verweis auf die Organtransplantationen, die Arabern in israelischen Krankenhäusern das Leben retten, eher ein Zitat der gebräuchlichen Modernisierung der Ritualmordlegende zur antisemitischen Organraublegende. (4)

Der Versuch, das islamisch-christliche Bündnis gegen den jüdischen Staat zu installieren findet sich in zahlreichen weiteren Karikaturen. Ein israelischer Jet wirft eine Bombe auf eine weinende Taube mit Ölzweig, wie zufällig ragt ein aus Trümmern herausgebrochenes Holzkreuz aus blutenden Leichen hervor. (5) Jesus himself wirft Steine vom Kreuz herab, (6) schaut neben dem Halbmond auf eine palästinensische Mutter mit weinendem Kind herab, (7) trägt den Schlüssel des Rückkehrrechts um den Hals. (8)

Überhaupt dieser Schlüssel. Er ist das wohl häufigste Symbol auf palästinensischen Karikaturen. Symbolisieren soll er das Rückkehrrecht. Und das ist die codierte Forderung nach der Vernichtung Israels. Dafür steht folgende Karikatur: Einer naiv und gutmütig dreinblickenden Schnecke ragt ein Geweih aus Richtungspfeilen aus dem Kopf. Die richtige Richtung gibt Handala vor: er zeigt auf eine Karte eines von den Karos des Palästinensertuchs ausgefüllten Gesamtisraels. (9) Vernichtungswünsche sind dem Kind offenbar nachgesehen: Mit Steinen wirft Handala auf eine israelische Fahne, die zwischen den Steinen entstehenden Funken entzünden sie. (10)

Mütterchen Palästina und ihre Tochter hingegen haben in der Erde Wurzeln geschlagen. Sie reichen dem kleinen Handala die Steine, mit denen er gegen den Willen von offenbar verweichlichten Nacktschnecken Steine wirft auf einen nackten Juden. (11) Es fehlt auch  nicht das jüdische Spinnennetz (12), das hier die UN-Resolution 242 (Forderung nach Rückzug hinter die Grenzen von 1969) wirkungslos macht. Ebenfalls diese 242 zeichnet eine Tube, auf der Handala herumtrampelt. Heraus kommt eine mit Davidssternen gezeichnete Schlange. (13) Frau Palästina tritt auch gerne mal zu, hier dem israelischen Soldaten in die Genitalien. (14) Oder sie lehnt keusch den ihr von einem lüstern hinter ihr herhumpelnden Juden angetragene freizügigen Badeanzug mit Davidssternen ab. (15) Was dem jüdischen Soldaten gefallen würde, malt ein hier zuletzt zitierter Cartoon aus: Vor seinen Augen tanzt eine Frau im Bikini, als Hut trägt sie den abgeschlagenen Kopf eines Fedajin. (16)

Fassen wir noch einmal die Welt aus der Sicht des kleinen Handala zusammen: Juden sind für ihn feist grinsende, hakennasige, ölhungrige Folterbuben, die palästinensischen Frauen hinterhersteigen, Moscheen zerstören wollen und den lieben Herrn Jesus nicht einen guten Mann sein lassen wollen. Dann gibt es in Handalas Welt palästinensische Nacktschnecken, die nur verhandeln wollen, nicht wissen wo es langgeht und im Zweifelsfall den Widerstand verraten. Für Handala achtbare Autoritäten sind kampfbereite Männer und Kinder, die mit Steinen, Bomben und Patronengürteln den jüdischen Soldaten Angst einflößen. Für den Boden und die Kampfmoral des kleinen Handala zuständig sind palästinensische Frauen und Mädchen.

Jedem, der einmal einen Blick auf Stürmerkarikaturen geworfen hat (17), wird die inhaltliche Nähe der gesamten Symbolik ins Auge springen. Wo Juden zu gering geschätzten Tieren gezeichnet werden, bereitet man schon ihre Vernichtung vor. Die unterstellten ökonomischen Motive, der ihnen eingezeichnete fröhlich-feiste Sadismus, (18) das sind reine Projektionen der Motive der Antisemiten. „Stark symbolisch“ ist das fürwahr, aber nicht schwer zu entschlüsseln. Diese Cartoons zelebrieren die Vernichtung Israels, stacheln die nie aus Israel geflohenen Flüchtlinge ebenso wie ihre aus unterschiedlichen Gründen von dort geflohenen Großeltern dazu auf, ihr primär in den arabischen Staaten verursachtes Elend den Israelis anzurechnen. Eigenverantwortung gibt es nicht in den Bildern, nur ödipale Aggression und Kastrationsängste und – wünsche, abgemischt mit einer guten Portion christlichen Antisemitismus. Nur logisch, dass dieser Junge nicht heranreift – seine infantile Daseinsform steht für die, in der jene palästinensischen Organisationen ihre Klientel halten wollen, die das „Rückkehrrecht“ ernsthaft als Forderung vertreten. Emanzipation wird den Palästinensern in den arabischen Staaten seit je und auf absehbare Zeit vorenthalten, in der antisemitischen Hoffnung, die so Aufgehetzten irgendwann doch siegreich in den jüdischen Staat einfallen zu lassen.

„Blut muss fließen – Undercover unter Nazis“ – Filmkritik

Ein ausverkaufter Cineplex-Saal: Das Interesse ist groß an der investigativen Recherche Thomas Kubans unter der Regie Peter Ohlendorfs. Der unbestritten pädagogisch wertvolle Film wurde für die Verhältnisse passabel durchgeführt, weist aber auch einige unnötige narzisstische Überhöhungen und Ungereimtheiten auf.

Das Projekt wird als einzigartige Pionierleistung vorgestellt. Hier entsteht der Verdacht, ob das nicht als sehr bewusster Affront gegen die Antifas inszeniert wird. Die nämlich wird mit keinem Wort erwähnt, obwohl sie seit Jahrzehnten die einzige gesellschaftliche Kraft darstellt, die nennenswert engagiert brisantes Material zum Neonazismus zusammengetragen hat: unter erheblichem Risiko, nicht nur von Nazis, sondern auch von der Polizei und von Staatsanwälten verfolgt zu werden. Professionelle Antifaschisten werden daher nur ein müdes Lächeln für den behaupteten „Neuigkeitswert“ der Beobachtungen übrig haben. Kuban lässt sich immerhin dazu herab, drei antifaschistische Hacker zu interviewen und ihm ist gerade da die konsequente Anonymisierung in Bild und Ton und Inhalt hoch anzurechnen: das ist selten im medialen Betrieb. Auch ein antifaschistischer Rechtsrock-Plattensammler kommt zu Wort, einige andere Experten. Was es aber bedeutet, in den national befreiten Zonen tatsächlich Antifa-Arbeit zu leisten, das verschweigt der Film in seiner Selbstglorifizierung des vermeintlich notwendigen Undercover-Einsatzes.

Stärke und Inhalt der neonazistischen Bewegung sind seit Jahrzehnten bekannt und beobachtet, sie meldet sich selbst zu Wort in Wort und Bild und brüstet sich online auf allen Foren mit entsprechenden Veranstaltungen, Filmchen von Wehrsportübungen, Happy Slappings und Flash-Mobs. Sie sind längst vom Exotismus des Dokutainments entdeckt worden. Die Konspirativität eines harten Kerns zu durchdringen erfordert zweifellos riskantes und nervenaufreibendes Engagement. Hier stellt sich die Frage, ob Kuban im Verschweigen der krypto-ethnographischen Methodologie nicht Nachahmer mit falschen Erwartungen füttert. Im Film erscheint er problemlos als ewiger Vereinzelter, der weder Konversationen unternehmen muss, noch sich an den kollektiven Hitlergrüßen beteiligt. Anscheinend kann man nach ein paar Hürden recht problemlos ohne je mit Fragen belästigt zu werden auf Rechtsrockkonzerte gehen. Es mag sein, dass das Buch zum Film hier mehr Auskunft gibt.

Gesellschaftliche Entstehungsfaktoren des Nazismus schrumpfen im Film auf Krise und Musik zusammen. Die Krise hätte soziale Institutionen im Osten erodiert und diese Musik würde nun mal jede Botschaft ins Gehirn hämmern können. Dass dieser „Rock“ so sehr zieht dürfte eher umgekehrt erklärbar sein: Solche Musik richtet ihre Radikalität nach den Inhalten und kein Nazi-Metal-Hörer kann behaupten, er hätte bei so einer Musik ein zartes Liebeslied als Inhalt vermutet. Nach kulturindustriell prämanipulierten Bedürfnissen nach konformistischen Revolten fragt der Film aber nicht, lediglich an einer Stelle demontiert er seine Hauptthese, als Nazis zu Discomusik Polonaise tanzen. Der Dub des Nationalsozialismus dröhnt nicht nur im Nazi-Metal, er swingt zu Volksliedchen und den Jamben eines Günther Grass, er kann zu den Klängen der Tagesschau rappen wie auch zu den jazzigen Rhytmen einer Truther-Ska-Band.

Wahlweise wird vom Film auch die Untätigkeit von Polizei und Innenministerium kritisiert – zu Recht, aber zu kurz. Denn auszugehen ist längst nicht mehr nur von Unwissenheit, sondern von Unterwanderung – die Kuban für Norditalien und Ungarn sehr viel deutlicher anspricht. Das Überdauern des Nazismus in deutschen Institutionen ist für Ministerien, für Bundeswehr und Polizei und für den Verfassungsschutz hinlänglich erforscht worden. Was für eine Massenwirkung die Straflosigkeit des grauenvollsten Massenmordes in der Menschheitsgeschichte hat, die fortgesetzte Straflosigkeit seiner Verherrlichung lässt sich schwer darstellen. Zu zahlreich sind die Facetten dieser Straflosigkeit, als dass man sie auf den Hitlergruß reduzieren könnte. Nur eine kleine Faser des Ganzen ist etwa, dass eine rotgrün regierte „Universitätsstadt“ wie Marburg an kriegsverherrlichenden Kriegerdenkmälern jedes Jahr opulente Kränze ablegen lässt.

Krise, so erklärt Ohlendorf am Ende im Publikumsgespräch, sei eben ausgelöst durch Nadelstreifen-Anzugsträger, die Investmentbanker, dafür erhält er dann auch Applaus. An allem schuld sind also die Investmentbanker. Man könnte da einiges über strukturellen Antisemitismus räsonieren, es reicht aber schon darauf zu verweisen, dass Neonazi-Szenen im baden-württembergischen Wohlstandsbauch Europas fett werden. Das erklärt sich nicht aus schlechter Infrastruktur oder Plattenbauten. Hier wie dort sind Altnazis das Standbein, eine beinharte Tradition nationalsozialistischer Gesinnung IN den Institutionen und nicht abseits davon.

Wesentlich relevanter aber dürfte das größte vom Film verschwiegene Moment des modernen Nazismus sein: der Hass auf Israel. In eben den Schulen, die den Film nun zur Aufklärung bestellen, kursieren Schulbücher, in denen Geschichtsfälschungen ein kollektives antisemitisches Grundressentiment gegen Israel unterfüttern, gestützt vom common sense in Tageszeitungen und Fernsehen. Im Film gezeigt wird ein archaischer, noch fast vorchristlicher Antisemitismus der Barbaren, die aus unbestimmten Gründen etwas gegen Juden haben wollen. Dieses genozidale Ressentiment hält sich aber in ideologische Netzen auf, deren Hauptfäden die gesellschaftlich respektierliche antiisraelische Hetze sind, die ewigen dümmlichen Konkretisierungen von vermeintlichen Krisenauslösern, der eklatante Antipsychologismus, die von Tätern bereinigten Filmchen über den Nazismus, die generelle Verdummung im Zeichen kulturindustriellen Massenbetrugs.

Das letzte kritikable Moment: Suggeriert wird eine Überbewertung des Islamismus durch den Verfassungsschutzbericht und durch Journalisten. Gerade hier könnte der Film gründlicher arbeiten und herausstellen, welche Finanzierungsnetzwerke von Neonazis und Islamisten geteilt werden, wo ideologische und personelle Überschneidungen bestehen, wo die Trainingslager geteilt werden – stattdessen entsteht doch der Eindruck des Ausspielens. Das ist insofern Unfug, als Norwegens und Schwedens Juden nicht wegen der dort ansässigen Hardcore-Naziszene das Land weitgehend verlassen haben, sondern wegen dem flächendeckenden Bündnis von sozialdemokratischem und islamischem Antisemitismus.

Wenn insbesondere junge Leute in diesem Film einmal leibhaftige Blood-and-Honor-Nazis sehen, verabscheuen und als Bedrohung erkennen lernen, so ist das schon ein Fortschritt. Leider entsteht im Film doch der Eindruck einer klar begrenzbaren kriminologischen, polizeilichen und zivilgesellschaftlichen Herausforderung. Das suggeriert der Film vor allem am Beispiel Kirtorfs. Dort sei eine nazistische Szene durch die hartnäckige Arbeit einiger weniger Aktivisten ausgetrocknet worden. Das bürgerliche Engagement war unbestritten bemerkenswert. Aber auch hier wird geschwiegen von der Antifa-Arbeit, die öffentlich Druck machte, die 2004 noch vor dem Eingreifen von Polizei und Bürgern in Kirtorf, Gladenbach und Marburg Demonstrationen organisierte – von denen eine in Kirtorf verboten wurde.