Zur Absetzung des Panels „Moderne Hexenjagden“ auf dem Freiburger Filmforum 2023

Auf dem Freiburger Filmforum 2023 sollte der Film „Ordalies“ aus Brazzaville gezeigt werden. Der sehenswerte Film folgt einer Gruppe von selbsternannten Friedensrichtern, die Hexereianklagen verhandeln, um diese friedlich zu verregeln.
Der Organisator des Panels lud mich ein, mit zwei weiteren Personen auf einem eigens für den Film geschaffenen Panel „Moderne Hexenjagden“ zu sprechen. Eingeladen wurde ebenfalls David Signer, der ein Buch über Hexereivorstellungen in Westafrika geschrieben hat. Auch wenn ich mit David Signer an wesentlichen Punkten nicht einig bin, konnte ich mir eine Diskussion vorstellen. Der Organisator versuchte in mehreren Anläufen, entweder Betroffene oder schwarze Aktivist*innen für das Panel zu gewinnen. Ich konnte ihm den Kontakt mit Leo Igwe, einem der renommiertesten Aktivisten für Hexenjagdopfer, vermitteln und er sagte eine Teilnahme per Online-Panel zu. Das Budget und der begrenzte Zeitumfang begrenzten die Zahl der Referent*innen.

Eine Woche vor der Veranstaltung wurde das Panel nach einer Diskussion im Team abgesagt. Die genauen Gründe sind mir nicht bekannt, es ist jedoch klar, dass das Thema Hexenjagden in Afrika ein Problem war und der Wunsch im Raum stand, das Thema nur von Menschen aus Afrika besprechen zu lassen. Im Gegensatz zum Statement, Leo Igwe sei ein akzeptabler Referent gegen den im Team nichts spreche, wurde auch er ausgeladen.

Ich wurde kurze Zeit später von der NZZ angesprochen, ob ich Fragen zum Vorgang beantworten könne. Die Neue Züricher Zeitung ist durchaus eine Qualitätszeitung, jedoch mit eindeutig rechtspopulistischer Agenda und klarer Ausrichtung auf ein rechtsliberales FDP-Publikum mit klaren Übergängen zur AFD. Es ist, kurzum, eine Zeitung, die ich boykottiere. Ich war jedoch damit konfrontiert, dass die Zeitung ohnehin den Vorgang ausschlachten kann und habe mich nach reiflicher Überlegung entschlossen, wie folgt ausführlich zu antworten. Diese Antwort möchte ich öffentlich machen, um einer erwartbaren Verkürzung entgegenzutreten.

„Ich bedaure die kurzfristige Entscheidung des Teams des Freiburger Filmforums, da die Veranstaltung die Möglichkeit geboten hätte, ein globales Problem und dessen Opfer sichtbar zu machen und qualifiziert mit Fachleuten zu diskutieren. Ich habe vollstes Verständnis dafür, dass das Thema Hexenjagden einige Studierende erstmal überfordert. Es ist eine komplexe Aufgabe, das Phänomen in einer extrem konservativen, von rechter Propaganda durchseuchten Gesellschaft zu thematisieren. Hexereivorstellungen lassen sich nur mit erheblichem Lektüreaufwand und entsprechendem Rüstzeug aus empirischem Wissen, Psychoanalyse und Kritischer Theorie angemessen bearbeiten. Während meiner Forschung habe ich auch von bürgerlichen Professor*innen genug Ressentiments und Widerstände gegen das Thema erlebt. Daher hatte ich auch keine Chance, das Thema an Universitäten weiter zu beforschen. Das ist nichts Persönliches: Es gibt bundesweit keine einzige dauerhafte Stelle für moderne Hexenjagdforschung. Deshalb ist der Ausschluss auch nichts Neues für mich.
Das letzte, was die christkonservative Gesellschaft hören will, ist, dass kein intellektueller oder moralischer Unterschied besteht zwischen einem Jesus, der übers Wasser läuft und einer Hexe, die durch die Luft fliegt. Oder zwischen einer armen Gesellschaft, die Menschen als Hexen lyncht und einer immens reichen Gesellschaft, die Ertrinkende zurück ins Mittelmeer schubst.
Und auf Seiten des linken Kulturalismus vertritt man die Ansicht, dass sich die Religion der „Anderen“ nicht kritisieren lässt, solange vor der eigenen Tür genug Dreck liegt. Der entscheidende Unterschied zwischen linken und rechten Kulturalisten ist dabei, das es den linken wenigstens nicht um die bornierte Verteidigung der eigenen Religion und Kultur vor Kritik geht.  
Nicht zuletzt liefern die Institute der Ethnologie den Studierenden nicht das notwendige theoretische Rüstzeug, komplexe Konflikte in anderen Gesellschaften zu bearbeiten. Der Trend geht ganz im Sinne des Konservativismus zu konfliktfreien Gefälligkeitsthemen, die niemanden verschrecken: Esskultur, Tattoos, Filme oder Tourismus. Mit Praxis und Interventionen will man nichts zu tun haben. In diesem bräsigen Klima überreagieren manche Menschen dann eben aus Überforderung heraus oder sie sind noch etwas ungelenk in ihrer Kritik und treffen daneben. Die sind mir oft lieber als die Mitmacher und ich sehe es als „friendly fire“, wenn es mich trifft.
Die Leute im Team konnten sich offenbar aus der schlechten Erfahrung an Universitäten heraus gar nicht vorstellen, dass die drei Eingeladenen sachlich diskutieren und den Horizont der Anwesenden erweitern. Ich hätte mir natürlich gewünscht, dass man Erwartungen und Ängste vorab mit mir diskutiert. Es wäre sicher hilfreich gewesen, wenn man Experten und Aktivist*innen aus Indien oder Papua-Neuguinea mitsamt Übersetzern hätte hinzuziehen können. Es gab Versuche dazu und ich habe erfolgreich den Kontakt zu Dr. Leo Igwe aus Nigeria vermittelt. Für mehr fehlten der Moderation des Panels aber schlichtweg die Mittel und die Zeit.“

Boris Palmer und das N-Wort – eine differenzierte Verurteilung

Boris Palmer fiel auf der Konferenz „Migration steuern“ zweimal auf: Einmal vor der Veranstaltung, einmal auf der Bühne. Vor der Veranstaltung meinte er, man würde ihm den „Judenstern anheften“, wenn man ihn als Nazi bezeichne. Eine klassische Täter-Opfer-Verkehrung. Wer als Nazi bezeichnet wird, kann nicht nur gerichtlich wegen „Beleidigung“ dagegen vorgehen und hat häufig Erfolg, er kann auch z.B. Innenminister oder Abgeordneter bleiben oder eben Oberbürgermeister von Tübingen. In keinem Fall muss man befürchten, in ein KZ verbracht und zu Tode gehungert oder anderweitig ermordet zu werden.
Palmer hat sich hier auf Kosten von jüdischen Opfer als Opfer inszeniert und die antisemitische Verfolgung trivialisiert.

Auf der Veranstaltung verteidigte er sein „Recht“, das Wort „Neger“ im Zitat zu verwenden und in der Folge sprach er es fünfmal in kurzer Zeit aus. Seine Rechtfertigung: Es sei wichtig, ob man es „im Kontext“ verwende, also etwa in einer Diskussion darum, ob man „Südseekönig“ oder „Negerkönig“ schreibe. Er gesteht zu, dass das Wort einer Person gegenüber eine Beleidigung sei.

Die wissenschaftliche Zitation ist kein Recht, sondern eine Pflicht. Wer in historischen Quellen ein „N-Wort“ einfügt, verändert die Quelle. Das ist nur in Ausnahmefällen zulässig. Wer sich mit Propaganda und zumal rassistischer Propaganda befasst, wird auf zahllose verletzende Begriffe und aggressive Sprache stoßen. Von „Kakerlaken“ und „Maggots“, über „Youn“, „Untermensch“ oder „chink“ hin zu „Judensau“ und „Judenschweine“. „Hohe Bäume“ war das Codewort für die Opfergruppe der Tutsi in Rwanda und würde heute ein Radiobeitrag dazu auffordern, die „hohen Bäume“ zu fällen, würde dies unmissverständlich als Aufforderung zum Genozid gelten. Für Opfer von Diskriminierung und Verfolgung kann die Nennung solcher Begriffe retraumatisierend wirken.

Propagandaforschung aber muss rassistische Sprache im Rohzustand zitieren, gerade weil sie verletzend ist, und ihre Charakteristik und Strategie im Detail erforschen. Hier können wir nicht oder nur in Ausnahmefällen auf die individuelle Traumatisierung Rücksicht nehmen, weil es einen erheblichen Unterschied macht, welches spezifische Wort verwendet wurde.

So existieren zwei Begriffe, die mit „N“ beginnen, nämlich der von Beginn an rassistische Begriff „Nigger“ und das zur gleichen Zeit als politisch korrekt eingeforderte Wort „Negro“ oder auf deutsch: „Neger“. In der Quellenarbeit und Quellendiskussion ist unabdingbar, diese Differenzierung im Zitat kenntlich zu machen. Ein Beispiel dafür ist Karl Marx, der sich sowohl politisch gegen die Sklaverei engagierte und in seinen Publikationen das von ihm in seiner Zeit als politisch korrekt erkannte Wort „Neger“ verwendete, dann aber in Briefen Lasalle als „jüdischen Nigger“ beschimpfte, sein ganzes Aussehen hätte „etwas niggerhaftes“. Er selbst wurde wiederum aufgrund seiner tiefschwarzen Haare als „Mohr“ bezeichnet. Alle diese Begriffe sind heute Beleidigungen und von der Hautfarbe ist prinzipiell als Merkmal abzusehen. Wo sie tatsächlich, z.B. in der Hautmedizin bei der Vorsorge gegen Hautkrebs oder Vitamin-D-Mangel, relevant ist, hat sich der Begriff „schwarz“ eingebürgert.

Auch innerhalb des schwarzen, amerikanischen Slangs wurde diese Unterscheidung getroffen, auch wenn der Begriff „Nigger“ dort als Selbstbezeichnung in vermeintlich emanzipatorischer Praxis verwendet wird. Wer sich die konkrete Verwendung ansieht, wird unschwer erkennen, dass es mit der „emanzipatorischen Aneignung“ nicht weit her ist, und dass seine Verwendung innerhalb schwarzen communities von kollektiver Abwertung und internalisiertem Rassismus durchdrungen ist. „Black“ ist auch dort zum akzeptierten Begriff geworden, wohl wissend, dass er nicht die reale Hautfarbe beschreibt, sondern politisch bleibt.

Boris Palmer ist aber gewiss kein Propagandaforscher. Er schrieb 2016 in einem Beitrag „Mohrenkopf“ ohne Anführungszeichen, weil er einforderte, dass die Süßspeise so heißen dürfen muss. Er zitiert auch Astrid Lindgren nicht, um die Umschreibung des Buchs zu fordern, die Herausnahme von Begriffen, sondern weil er möchte, dass da weiter Begriffe stehen, die bereits bei Astrid Lindgren in einem rassistischen Kontext stehen, den ich an anderer Stelle ausführlich erläutert habe. So ist die Imagination eines weißen Königs, der einer schwarzen Inselgesellschaft „Ordnung“ beibringt, rassistisch, ob er jetzt Südseekönig oder „Negerkönig“ genannt wird und ebenso verletzend ist Pippi Langstrumpfs Wunsch, von einem „eigenen“ schwarzen Diener von oben bis unten mit Schuhcreme eingerieben zu werden. Weder mit solchen Fantasien noch mit rassistischen Begriffen sollten schwarze Kinder beim Vorlesen vergnüglicher Abenteuer konfrontiert werden, und weiße Kinder sollten tunlichst nicht daran gewöhnt werden.

Kurz: Eine Zitation, die eindeutig der Abschaffung der alltäglichen Verwendung der Begriffe dient, ist nicht nur zulässig, sondern als wissenschaftliche vorgeschrieben. Wer wie Boris Palmer zitiert, um möglichst oft diese Begriffe „legal“ zu verwenden oder wer sich wie Boris Palmer für ihre Weiterverwendung im populären Diskurs einsetzt, ist eben Rassist. Er hat völlig recht, dass es auf den „Kontext“ ankommt. Sein „Kontext“ ist aber aufgrund seines bisherigen „Engagements“ ein rassistischer.

Umso bedenklicher ist, dass er von Prof. Dr. Susanne Schröter eingeladen wurde. Schröter hatte zuvor für die rechte Denkfabrik R21 bereits die Konferenz „Wokes Deutschland – Identitätspolitik als Bedrohung“ durchgeführt. Nicht nur war die Wahl der Sprecher*innen klar rechtslastig und nicht an wissenschaftlicher Qualifikation orientiert. Die Referentin Kristina Schröder verstieg sich dort zu der Behauptung: „Ich glaube, dass die woke Bewegung gerade die größte Gefahr für unsere Gesellschaft darstellt.“ Auch dies ist eine eklatante Täter-Opfer-Verkehrung, die den täglichen Terror durch Rechtsextremisten verharmlost. Das Engagement gegen „woke Sprechverbote“ musste von Menschen wie Palmer eindeutig als Aufforderung gelesen werden, auch mal zu schwätzen, wie einem der rassistische Schnabel gewachsen ist, mitsamt „Mohrenkopf“ und „Negerkönig“. Dass sich Schröter nun selbst als „woke“ präsentiert, indem sie sich von Palmer für dessen Auftritt distanziert, ist nicht nur unglaubwürdig, es hat vielmehr den Anschein, als wäre es vorab einstudiertes Programm.




Der islamische Geschichtsmythos – Antiisraelische Geschichtsklitterung in der taz

2019 stieg Susanne Knaul 2019 aus Altersgründen aus der Nahostkorrespondenz der tageszeitung aus und meldete sich seitdem immer seltener. Moshe Zuckermann hatte sich bereits 2015 zurückgezogen, und auch Micha Brumlick schreibt seit einiger Zeit keine „postzionistischen“ Stellungnahmen mehr. Es gab begründete Hoffnungen, dass die harte antiisraelische Propaganda abebben könnte, die die taz für viele Antifaschist*innen unlesbar machte.

Die Nachfolge von Susanne Knaul übernahm Judith Poppe. Sie schreibt seit 2015 für die taz und mittlerweile fast wöchentlich über Israel. Poppe bemüht sich auf den ersten Blick durchaus glaubwürdig, Differenzierung durch Porträts und Zitate zu erreichen. Allerdings nennt sie den arabisch-islamischen Geschichtsmythos nicht im Ansatz als Konfliktursache. Bei ihr setzt die Geschichte des Staates Israel immer wieder 1948 ein, als hätte es davor keinen Konflikt gegeben, keine Jüdinnen und Juden in Israel. Durch den Ausfall kritischer Fragen stützt sie immer wieder das arabische, antisemitische Narrativ.

Im Interview „Die Nakba ist lebendige Gegenwart“ mit Bashir Bashir lässt sie diesen unwidersprochen den arabischen Geschichtsmythos wiederholen: Der jüdisch-israelische „Siedlerkolonialismus“ sei ein assymetrischer Konflikt zwischen „Besatzern und Unterdrückten“. In Wirklichkeit ist die Assymetrie genau anders herum gelagert, weil die islamischen Staaten ein Vielfaches an Armeen, Ressourcen und ein vielhundertfaches an Landmasse verfügen und dabei die nichtjüdischen Araber*innen in Westjordanland und Gaza stets als Brückenkopf verstanden haben. Ebensowenig interessiert der Konflikt mit den hochgerüsteten Armeen der Hisbollah und der Hamas, deren Terror sich primär gegen die Zivilbevölkerung richtet und auf eine Vertreibung von Jüd*innen nach dem Vorbild von Gaza abzielt.

Die militärische Rationalität der Siedlungen wird vollständig unterschlagen. Die jüdischen Städte und Dörfer in Judäa und Samaria (Westbank/Westjordanland) sind primär Erben der zionistischen Wehrdörfer. Sie sichern heute den winzigen, extrem verwundbaren israelischen Staat gegen Raketenterror von den Höhen der Berglandes, vor Kampfjets und gegen Militärfahrzeuge im Jordantal. „Verteidigbare Grenzen“ und „Strategische Tiefe“ sind für die israelische Gesellschaft ein unverbrüchlicher Teil des Existenzrechts inmitten eines extrem volatilen, unberechenbaren Umfeldes zwischen einem autoritär regierten Ägypten mit starker Muslimbruderschaft im Westen, dem Islamischen Staat und Al-Qaida im Sinai und als Zellen in allen Nachbargesellschaften, einer krisenhaften islamistisch regierten Türkei am anderen Mittelmeerufer, der Hisbollah im Norden, Al-Qaida und Assad im Nordosten und der Fatah, dem Islamischen Jihad und der PFLP im Osten. Israel muss seine Verteidigung gegen genozidale Exkursionen islamistischer Abenteurer auch in die mittlere und ferne Zukunft planen.

Der islamische Mythos Bashirs radiert die jüdische Geschichte des Landes ebenso aus wie die antisemitische Geschichte der islamischen Gesellschaften.

„Die jüdische Frage ist ursprünglich keine palästinensische Frage, keine östliche oder muslimische. Die jüdischen Siedler*innen, die nach Palästina eingewandert sind, waren europäische Bürger*innen und Opfer des Rassismus. Das christliche Europa ist aufgrund seines Antisemitismus daran gescheitert, diese Bürger*innen zu integrieren und zu schützen.“

Seriöser, informierter Journalismus müsste diesen Mythos sofort hinterfragen, weil er eine Täter-Opfer-Verkehrung beinhaltet und den Konflikt im Interesse des islamischen Chauvinismus auf ein westlich-koloniales Problem reduziert. Etwa eine Million Jüdinnen und Juden wurde aus der islamischen Welt vertrieben. Sie bilden die Schicht der Mizrachim, der „arabischen“ Jüdinnen und Juden, die sich selten als solche bezeichnen, sondern häufiger als irakische, tunesische oder persische. Sie sind der Grund, warum es falsch ist, von einem „Konflikt zwischen Juden und Arabern“ zu sprechen. Es ist ein Konflikt zwischen nichtjüdischen Araber*innen (atheistische, christliche, islamische uswusf.) und Jüdinnen und Juden (atheistische, orthodoxe, säkulare, christliche, arabische, portugiesische, chinesische, äthiopische, amerikanische uswusf.).

Es ist der islamische Chauvinismus, der keine emanzipierten Juden dulden konnte, von Jüdinnen gar nicht zu reden. Der islamische Chauvinismus diskriminierte die jüdische Bevölkerung seit der Vernichtung der jüdischen Stämme durch Mohammed, die nach den Massakern im Koran mit einer „jüdischen Verschwörung“ gegen ihn legitimiert wird, und im Zuge der folgenden Eroberung der arabischen Halbinsel. Sie sollten Synagogen nicht renovieren, diese durften offiziell nicht höher als die Häuser der Muslime sein, sie mussten einen gelben Fleck tragen, nur auf Eseln reiten, durften keine Waffen tragen und mussten hohe Schutzsteuern zahlen, die schließlich noch im späten osmanischen Reich als Instrument verwendet wurden, um die jüdische Bevölkerung in Palästina zu vergraulen. Pogrome waren auch im Mittelalter bekannte Erscheinung in der islamischen Welt, und mit dem Aufstieg der Nazis nahmen sie an Zahl zu. 1941 ermordete ein antisemitischer Mob im Farhuk, dem großen Pogrom von Bagdad, bis zu 600 Jüdinnen und Juden. Hauptverantwortlich für die Ausschreitungen: der Mufti von Jerusalem.

Das Jordantal und die benachbarten Anhöhen waren über Jahrtausende kontinuierlich von Jüdinnen und Juden besiedelt. Aus dem, was heute „Westbank“ genannt wird, wurden Jüdinnen und Juden erst durch arabische Pogrome, z.B. aus Hebron 1929 vertrieben. Es war der islamische Antisemitismus, der einen jüdischen Staat mit einer islamischen Minderheit nicht akzeptieren konnte und seitdem jedes Friedensabkommen sabotierte. Das zu wissen und entsprechend Geschichtsmythen kritisch zu hinterfragen sollte Aufgabe einer informierten Nahostkorrespondenz sein.

In anderen Artikeln schaffte es Poppe nicht einmal, eine klare Ablehnung von antisemitischen Propagandabegriffen wie „Apartheid“ zu formulieren. Im Artikel „Streit um Israel“ wird die reale Apartheid in Südafrika mit ihrer strikten Trennung der Hautfarben in „Rassen“ und ihrer dezidiert rassistischen Ideologie auf Sicherheitspolitik und Diskriminierungserfahrungen reduziert und verharmlost.

„Ist das alles Apartheid? Die Debatte darum wird in westlichen Ländern und unter der jüdischen Bevölkerung Is­raels erhitzt geführt. Doch die meisten Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen in Dschisr az-Zarqa, Hebron und Jaffa interessiert vor allem eines: Dass ihre Situation, wie auch immer die internationale Gemeinschaft sie bezeichnen möge, in der Welt bekannt wird.“

So kann man sich enthalten und doch Stellung beziehen. In einem anderen Artikel, „Glaubwürdigkeit verspielt„, differenziert sie das dann so:

„Der Begriff Apartheid kann auf die Lebensbedingungen im Westjordanland angewandt werden, ohne dass es abwegig scheint: die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen leben dort seit 1967 unter israelischer Militärherrschaft. Jedoch zu behaupten, dass die Pa­läs­ti­nen­se­r*in­nen in Israel unter einem Apartheidsregime leben, ist absurd – auch wenn auch sie ohne Frage unter Diskriminierung leiden.“

Apartheidvorwurf ja, aber nur in der Westbank – das ist die Botschaft Poppes. Die Militärherrschaft mag unangenehm sein, sie ist aber nicht das Produkt rassistischer Ideologie wie in Südafrika und dementsprechend sind Mischehen legal, Soldat*innen schützen auch nichtjüdische Araber*innen vor Terror und Ehrenmorden, und in der israelischen Armee dienen auch Muslime und Araber*innen. Es ist nicht nur verharmlosend, es ist eine Täter-Opfer-Verkehrung, hier einen jüdischen Apartheidstaat am Werk zu wähnen. Schließlich gibt es Konfliktparteien, die tatsächlich seit Jahrzehnten die Ausrottung der Gegenseite propagieren: Der Islamische Jihad, die Hamas, die Fatah und auch die PFLP, die sich mit Selbstmordattentaten ebenso brüstet wie mit Raketenterror gegen Schulkinder. Wenn ein Jude sich in autonome Teile der Westbank wagt, etwa um das Josefsgrab zu besuchen, riskiert er, gelyncht zu werden.

Poppes Narrative und ihre Weglassungen und Verkürzungen sind nicht außergewöhnlich, sondern nach wie vor Standard des deutschen Journalismus und der Universitäten. Die völkerrechtlich verbrieften Ansprüch Israels auf den Stand der Balfour-Deklaration auch nur hypothetisch zu vertreten, gilt als extremistisch, den uralten, im Koran verankerten islamischen Antisemitismus als hauptsächliche Konfliktursache zu benennen als anrüchig, wo die Importthese (vor der Damaskus-Affäre habe es keinen islamischen Antisemitismus gegeben) und die Golden-Age-Fantasie (der jüdischen Minderheit sei es unter islamischer Herrschaft immer gut gegangen) immer noch von Professor*innen vertreten werden – was in Sachen fachlicher Inkompetenz vergleichbar wäre mit der Behauptung eines Historikers, Hexenjagden hätten nur im Mittelalter stattgefunden oder Frankreich würde von Wikingern regiert.

Die taz bietet nach wie vor keine faktenbasierten Einblicke in die Realität des Konfliktes und seiner Ursachen. Dass sie damit nicht alleine ist, macht es nicht besser.








Der identifikatorische Sog des Stalinismus

Als die Hongkong-Proteste 2020 gipfelten, ließ sich in Köln ein seltsames Schauspiel antreffen: Eine Gruppe von chinesischen „Aktivist*innen“ hatte ein Zelt aufgebaut und gab Brötchen und Tee aus, während an Reisende Flugblätter und CD’s zu den Protesten in Hongkong verteilt wurden. Was von außen aussah wie eine Solidaritätsaktion entpuppte sich bei Lektüre des Materials als eine Denunziation der Proteste als Terrorismus und wurde mit großer Wahrscheinlichkeit von der chinesischen Botschaft finanziert. Als wäre das nicht genug, ertönten Schallmeien und ein Zug von etwa 100 Menschen allen Alters betrat den Bahnhofsplatz vor dem Dom, Plakate der sozialistischen „Helden“ von Lenin über Stalin bis Mao hochhaltend. In der Bahnhofsbuchhandlung wurde unterdessen die von Jörg Kronauer auf die prorussische Position getrimmte Zeitschrift „konkret“ neben dem ebenso russlandtreuen Magazin Compact verkauft.

Differenzen faschistischer und linker Propaganda

Über ein Jahrhundert hinweg konnten sowjetische und maoistische Propaganda Narrative erproben und testen. Die flexible Anwendbarkeit dieser Narrative macht viel des Wiederholungscharakters innerlinker Debatten und Konflikte aus. Linke Ideologie ist ein Problem nicht weil sie links ist und ihr Versprechen umzusetzen droht, sondern weil sie Propaganda aufsitzt und so ihr eigenes, selbsterklärtes Versprechen sabotiert. Wo der Faschismus den Sog zur kollektiven Identifikation mit dem Aggressor anfacht, verlegte sich die rote Propaganda darauf, die Identifikation konformistischer Rebellen mit Opfern zu manipulieren und kanalisieren. Das Ideal des Faschismus ist der „unschuldige Verfolger“, der den „imaginary foe“ bekämpft und den „Notstand“ anerkennt, unter dem die Sklaverei und Massenmord eingeführt werden „dürfen“ und „müssen“. Dafür inszeniert der Faschismus künstliche Krisen wie „Umvolkung“, „Reinheit des Blutes“, „Verlust der Männlichkeit“. Die „kommunistische“ Propaganda wählt hingegen meist einen realen Gegner und richtet sich an reale Opfer. Sie wurde und wird seriell Betrug an den Opfern, weil sie ein echtes und berechtigtes Interesse an einem Aufstand für ihre zynische Machtpolitik instrumentalisiert und langfristig die Idee eines Aufstandes verdirbt, korrumpiert und sabotiert.
Zerstört die faschistische Propaganda effektiv die empathische Solidarität, die sie in aggressive, mitleidslose Volksgemeinschaft verwandelt, so zerstört die „kommunistische“ Propaganda effektiv die Idee des Kommunismus als Sache von Wahrheit, Freiheit und Gerechtigkeit. Sie ist im Wesentlichen keine Propaganda für die „dummen Kerls“, kein Agitprop mit Schalmeien zur Hebung der allgemeinen Stimmung, wie ihn die Sowjetunion und später Russland auch produzierte, sondern Pseudowissenschaft für gebildetere Menschen. Dabei arbeitet sie auf das punktuelle Unterlaufen von Vernunft hin. Es wird nicht, wie im Antisemitismus, ein vollständig wirres Wahnbild präsentiert, sondern ein bestimmtes Element in einem Set von raffiniert drapierten Fakten versteckt.

Das psychologische Angebot von Propaganda an die deutsche Linke ist Entlastung von Schuld. Für die Sowjetunion und heute Putin nützlich war der Pazifismus, der sich von Kriegsgelüsten freisprach, und diese auf das Verteidigungsbündis NATO projizierte und so von Sowjetrussland ablenkte.
Die Sehnsucht nach starken Kollektiven, Waffen, Sieg und Ruhm ist aber unter Linken und da vor allem bei den Männern tendenziell ebenso ansprechbar. Das weiß Putins Propagandapparat und daher war für Putin nichts einfacher, als die Kolonisierung der Ukraine als antifaschistischen Krieg in der Tradition des „Großen Vaterländischen Krieges“ zu präsentieren, bei dem man die richtige Seite zu wählen habe. Die realen faschistischen Tendenzen in der Ukraine wurden ins Riesenhafte gesteigert, kollektiviert, die eigenen faschistischen Tendenzen dahinter versteckt und die Aggression als Präventivkrieg verkleidet.

Weil aber nur die „dummen Kerls“ der AFD sich mit Putin als starkem Mann identifizieren, ist es für linke Narrative obligatorisch, Putin zwar zu kritisieren, die Kriegsschuld jedoch rigoros auf die NATO zu projizieren. Dieser linke Revisionismus erfuhr einen berechenbaren Höhepunkt mit den Feiern zum 8. Mai, dem sogenannten „Tag der Befreiung“. Warum ich das rituelle (Ab-)Feiern dieses Tages ablehne, habe ich auf diesem Blog in den Beiträgen „Antideutsche Regressionen“ und „Der Krieg schlummert nur“ begründet. Putins Ankündigung, ihn wie 1945 zu feiern und gleichzeitig mit einem Weltkrieg zu drohen, unterstreicht erneut die Bedeutung dieses Feiertags für den russischen Nationalismus.

Die Autorin der Novaya Gazeta, Julia Latynina, schrieb dazu den Artikel „Vom Kult des Sieges zum Kult des Krieges„, der in der deutschen tageszeitung beigelegt war. Die Autorin ist, wie ein anderer Artikel der tageszeitung kritisiert, rechtsliberale Klimaleugnerin, Antifeministin und sympathisiert kurioserweise mit Kadyrow. Im Artikel benennt sie zunächst korrekt die offensichtliche Mimese Putins an Stalin. Dann jedoch schreibt sie:

„Amerikanische Politiker, Zeitungen und Filme gaben sich alle Mühe, ihre Verbündeten in einem möglichst günstigen Licht erscheinen zu lassen und Hitler als einzigen Schuldigen am Krieg zu entlarven. Dabei wurde sogar vergessen, dass Stalin in den beiden ersten Jahren des Krieges ein Verbündeter Hitlers gewesen und dieser Krieg eine Woche nach der Unterzeichnung des Molotow-Ribbentrop-Paktes ausgebrochen war.

Die tatsächliche Geschichte des Zweiten Weltkrieges ist, dass Stalin diesen Krieg geplant hatte, der die ganze Welt erfassen und erst enden sollte, wenn auch noch die letzte argentinische Sowjetrepublik ein Teil der UdSSR geworden sein würde. Er hatte diesen Krieg geplant – lange bevor Hitler an die Macht kam.“

Damit folgt sie offenbarg einer These Viktor Suvorovs, der mit seinem Buch „Icebreaker“ die „Offensivplankontroverse“ auslöste. Seiner These zufolge bereitete Stalin von langer Hand einen Angriff auf Deutschland vor. Auch wenn diese These vor allem in Russland und Osteuropa durchaus diskutiert und mehrheitlich dann verworfen wurde, bot sie einen Nährboden für rechten Revisionismus und seine Schuldentlastungsstrategie, die sich in der Verbrämung des Unternehmen Barbarossa als „Präventivschlag“ artikuliert. Latynina bedient diesen Revisionismus mit der Rhetorik vom zweiten „Schuldigen“. Kurioserweise folgt sie jedoch implizit auch den bei weiten nicht nur unter Linken verbreiteten Mythen über den Stalinismus als funktionierender Modernisierungsdiktatur, die das Sowjetreich „fit“ gegen Hitler gemacht hätte.

Der leninistische Mythos

Dass Rechtsradikale und Konservative im Revisionismus und der Überzeichnung der sowjetischen Terrorherrschaft und Bedrohung Schuldentlastung suchen, schafft nicht das Problem des Stalinismus aus der Welt. Die Sowjetunion war unter den Bolschewiki zu exakt dem Gefängnis geworden, das Rosa Luxemburg 1904 in der Zentralismusdebatte vorhersagte. Die konterrevolutionären Bewegungen wurden mit rotem Terrorismus und den im Spartakusbund heftig kritisierten „Geißelerschießungen“ bekämpft. Von der Gründungsphase der Sowjetunion an wurde die blutige Tradition des Zarismus mit seinen Gefängnislagern nicht ausgelöscht, sondern weiter kultiviert und fortgeführt. Es gab keinen Bruch mit politischer Gewalt, der Zarismus ging in die „jakobinisch-blanqistische“ Tradition über, die Luxemburg Lenin vorwarf. Die Bereitschaft, das Leben von Millionen zu dirigieren, organisieren und letztlich dann auch Millionen zugrunde zu richten, war fester Bestandteil des Leninismus.

Hier bietet ein linkes Narrativ Entlastung: Erst unter dem permanenten Druck der Konterrevolution, der „Weißen“, seien „die Roten“ zwangsweise autoritär geworden, der rote Terror bedauerlich, aber unvermeidlich und nach Todesopfern weniger mörderisch als der weiße Terror gewesen. Ebenso werden die wirtschaftlichen Folgen bagatellisiert und „in den historischen Kontext“ gestellt. Lenin wird vom Verrat am kommunistischen Glücks- und Freiheitsversprechen freigesprochen, um dem identitären Sog eines mächtigen, historisch realisierten kommunistischen Kollektivs nachzugeben. Es gab sie eben doch, die glorreiche kommunistische Revolution.
Putin reaktiviert diesen leninistischen Geschichtsrevisionismus der Linken: unter dem Druck der NATO mit ihren verbündeten „Kosaken“ und „Nazis“ müsse Russland harte Hand walten lassen. Er kann sich darauf verlassen, dass von zumindest signifikanten Teilen der Linken der Ukrainekrieg als Wiederholung des Bürgerkriegs in der Sowjetunion gelesen wird. Die NATO, ein desorganisiertes Verteidigungsbündnis ohne die rechtliche Möglichkeit, Land zu annektieren, und ohne die militärische Kompetenz, ein Land wie Afghanistan zu halten, erscheint als Wiederkehr westlicher Staaten, als Unterstützer der „Weißen“, als konterrevolutionärer Marodeur am neuen Russland.

Der stalinistische Mythos

Der stalinistische Geschichtsrevisionismus ist indes komplexer, weil Stalin unverblümter noch als Lenin den Staatsterrorismus kultivierte. Die Kollektivierung bedeutete längst nicht mehr Befreiung von Leibeigenen und Umverteilung von Land, sondern den Schritt in die offene Sklaverei des Gulag-Systems. Die Gewalt der „Großen Säuberung“ mit bis zu 1000 Morden täglich und die Moskauer Schauprozesse von 1936-1938 machten allen aufrechten Marxist*innen klar, dass sie in Sowjetrussland unter Stalin nur der Tod erwartete. Konsequent flohen alle Vertreter der Kritischen Theorie in die USA, sofern sie es schafften.

Der linke Revisionismus setzt hier darauf, die Gewalt nicht, wie es anstünde, in ein Verhältnis zu setzen, sondern unter Verweis auf den Holocaust und das Wüten der Wehrmacht insbesondere in Russland vollständig verschwinden zu lassen. Die Entwicklungen unter Stalin in den Blick zu nehmen, wird selbst als „revisionistisch“, als antikommunistisch denunziert – als wäre es historisch nicht zuallererst Angelegenheit der Linken gewesen, Stalin zu kritisieren. Es wird suggeriert, es gebe nur die Wahl zwischen der roten Armee und der Wehrmacht, eine Wahl, die nach dem Krieg besonders leicht fällt, weil sie nur aus Identifikation besteht.
In einem zweiten Schritt wird die Gewalt dort, wo sie sich nicht leugnen lässt, zur Entwicklungsdiktatur erklärt: Stalin habe ein Entwicklungsland zu einem Industrieland gemacht. Die wirtschaftliche Entwicklung gibt jedoch kein klares Bild her. Das Wirtschaftswachstum bleibt jedenfalls weit hinter vergleichbaren Staaten wie Japan zurück und ein Vorsprung des Stalinismus gegenüber einer Fortführung der NEP oder zaristischer Wirtschaftsweise lässt sich in Modellrechnungen nicht erkennen.

Sah Marx in der ursprünglichen Akkumulation die Gewalt des Feudalismus als Schlüsselmoment für die Schaffung eines mittellosen Industrieproletariats aus früheren Bauern, so wiederholte Stalin die feudale Gewalt, um Industriearbeiter vom Land in die Städte zu zwingen. Dabei war Zahllose Bauernaufstände waren die Folge. Die Verachtung für das Leben der Bäuer*innen war gerade in den Arbeiter- und Bauernstaaten, später im Maoismus besonders ausgeprägt. 1921 sagte Lenin auf dem X. Parteitag der KPdSU:


„Der Bauer muss ein wenig Hunger leiden, um dadurch die Fabriken und die Städte vor dem Verhungern zu bewahren. Im gesamtstaatlichen Maßstab ist das eine durchaus verständliche Sache; dass sie aber der zersplittert lebende verarmte Landwirt begreift – darauf rechnen wir nicht. Und wir wissen, dass man hier ohne Zwang nicht auskommen wird – ohne Zwang, auf den die verelendete Bauernschaft sehr heftig reagiert.“

2-5 Millionen Menschen starben 1921-24 in der Sowjetunion an Hunger. Dass die Ursachen mindestens zu einem großen Teil politische waren, gestand Lenin immerhin in der Änderung der Wirtschaftspolitik ein. Auch wenn die Industrialisierung und Elektrifizierung in der Sowjetunion wie auch global voranschritt, lässt sich in der konkreten Politik kein Merkmal einer Entwicklungsdiktatur finden – im Gegensatz dazu aber zahllose extrem kontraproduktive Maßnahmen. Kasachstan verlor in den großen Hungersnöten unter Stalin 1930-1934 ein Drittel seiner Bevölkerung, die Ukraine im Holodomor zwischen drei bis sieben Millionen Menschen. Hungersnöte zeichnen auch die Überlebenden teilweise lebenslang. Die den Hungernden für den Export geraubten Getreidemengen konnten nicht einmal den Anspruch erheben, zur Industrialisierung nennenswert beizutragen. Sie waren Ausdruck der Verrohung des stalinistischen Regimes und die Rationalisierung der Hungersnöte zu „notwendigen Kriegsvorbereitungen“ oder die Verharmlosung zu „multifaktoriellen Katastrophen“ heute trägt die gleichen Züge der Verrohung.

Es ist ex post nicht belegbar, dass die Sowjetunion ohne Stalin besser für den Krieg gegen Deutschland gerüstet gewesen wäre. Die Ermordung der gesamten militärischen Elite im Zuge des „Großen Terrors“ gilt jedoch gemeinhin als entscheidender Faktor für die militärische Schwäche der Sowjetunion, die gewaltigen Verluste und die rasche Eroberung Westrusslands durch die Wehrmacht. Der militärtechnologische Rückstand in den Bereichen der selbstladenden Gewehre und Maschinenpistolen wurde erst im Winterkrieg gegen Finnland und während der Konfrontationen mit der Wehrmacht erkannt und führte zur Entwicklung des erst Jahre nach dem Krieg fertig gestellten, glorifizierten AK-47.
Ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und militärisch als irrational zu bewerten war auch die vom NKVD gemeinsam mit der Gestapo betriebene Zerschlagung des polnischen Widerstandes sowie die Unterdrückung von ethnischen Minderheiten durch eine demozidale (durch Morde auf Dezimierung bedachte oder diese durch Hunger und Elend in Kauf nehmende) Umsiedelungspolitik.

Stalins Angriffe trafen auch die Wissenschaften als Repräsentanten objektiver Kritik: Astronomie, Statistik, Geschichtswissenschaften wurden dezimiert, zensiert, eingeschüchtert. Kunst, Theater und Journalismus, durchaus für den Krieg relevante Institutionen, wurden durch den wahllosen Terror praktisch stillgelegt. Mit dem von Stalin begünstigten Trofim Denissowitsch Lyssenko erhielt zudem ein notorischer Antiwissenschaftler Zugriff auf die Landwirtschaft Russlands. Als er 1938 zum Präsidenten der Sowjetischen Akademie für Landwirtschaftswissenschaften ernannt wurde, bedeutete das das Ende der wissenschaftlichen Biologie in Russland. Wie sehr der Ausfall der Biologie und insbesondere der Genetik auf den Krieg Einfluss hatte, ist nicht bekannt. Seine in der Nachkriegszeit zur vollen Gewalt kommende Politik erzeugte jedoch Missernten nicht nur in der Sowjetunion, sondern auch in China, wo seine Ideen Einfluß hatten. Und nicht ganz zufällig erlebt Lyssenko im neuen Russland ein Revival, das sich aus der Stalinbegeisterung in Russland und dem Bedürfnis nach russischer „Exzellenz“ speist.

Roter Faschismus

Die militärische Schwäche und der terroristische, personenzentrierte Charakter der stalinistischen Diktatur war maßgeblich der Grund dafür, dass sich die Alliierten von einem Bündnis mit Stalin gegen Hitler wenig versprachen oder darin sogar ein Risiko sahen und daher Bedingungen stellten, die wiederum Stalin als vermessen erschienen. Dass die Alliierten jedoch ernsthaft ein Bündnis gegen Hitler anstrebten, wird an dem Entsetzen deutlich, das der im Geheimen ausgehandelte Ribbentrop-Molotov-Pakt zwischen Hitler und Stalin auslöste. Allen Beteiligten war klar, dass dieser Pakt den Krieg wahrscheinlicher machte und nicht verhinderte. Er ermöglichte Hitler den Zugriff auf die Produktivkraft der Beneluxstaaten und Frankreich, sowie Teile Polens und Osteuropas. Stalin erhielt im Gegenzug Zugriff auf die Produktivkräfte in den von der Sowjetunion annektierten Regionen. Dabei war ihm die Zerschlagung der nationalen Widerstandsbewegungen wichtiger als konkrete Kriegsvorbereitungen zu treffen und sich aus einer Position der Stärke heraus Bündnispartner zu schaffen. Stalin zerstörte vor 1941 noch den letzten Rest dessen, was der Leninismus von der Idee einer kommunistischen Sowjetunion übrig gelassen hatte. Sein Terror hatte kein andere Ratio als den eigenen Machterhalt und seinen sadistischen Lustgewinn am Massenmord und Deportationen. Unter Stalin wurde die Sowjetunion endgültig das, was die bürgerlichen Antikommunisten ihr vorwarfen und was der Faschist Benito Mussolini an Stalin freudig begrüßte: roter Faschismus.

Präsent waren alle Kernelemente des Faschismus: Führerkult, Nationalismus, Zensur, Sklaverei, Militarisierung der Gesellschaft, Mord als politisches Mittel, Glorifizierung des Todes. Noch während des Krieges kündigt sich der Antisemitismus Stalins an. Den 1944 verlautbarten Vorschlag des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, auf der befreiten Krim einen jüdischen Staat zu errichten, entgegnet Stalin laut Chruschtschow:

„Sie versuchten, einen jüdischen Staat auf der Krim zu gründen, um die Krim von der Sowjetunion loszureissen und einen Vorposten des amerikanischen Imperialismus auf unserem Boden zu errichten, der eine unmittelbare Bedrohung der Sicherheit der Sowjetunion darstellen werde. In dieser Richtung ließ Stalin seiner Einbildungskraft wild die Zügel schiessen. Er war von manischer Rachsucht besessen.“

Dass die Sowjetunion von einer einmaligen historischen Chance auf eine freie, gerechte Gesellschaft zur terroristischen Gewaltherrschaft einer kleinen Parteielite wurde, begründet die bis heute fortwirkende Tragödie des Kommunismus.
Das zu konstatieren bedeutet nicht Schuldentlastung, sondern Frustration. Die Opfer des Nationalsozialismus hatten keinen verlässlichen Bündnispartner, sie mussten Israel gründen.
Nicht, dass Stalin einen Krieg gegen Deutschland vorbereitete, ist ihm zur Last zu legen, sondern dass er es nicht hinreichend tat. Stalins Rote Armee war ein Instrument des roten Faschismus, lieferte Widerstandskämpfer den Nazis aus und bekämpfte die Nazis erst dann, als Deutschland die Sowjetunion überfiel.

Weil der Zustand der sowjetischen Armee desaströs und die Verluste gigantisch waren, war Stalin daher auf die kriegsentscheidenden Lend-Lease-Militärhilfen aus den USA angewiesen. Trotz des Ribbentrop-Molotov-Paktes waren die Alliierten bereit, Russland mit massivem Einsatz von Militärmaterial zu unterstützen und praktisch die gesamte Kriegsökonomie bis hin zum Brot zu tragen.
Die USA haben angesichts der Bedrohung durch Deutschland in Kauf genommen, Stalins mörderisches System vor dem vollständigen Zusammenbruch zu retten und seine rote Armee auszustaffieren.

Was den Holocaust angeht: Ex post haben weder Alliierte noch Sowjetunion hinreichend zur Rettung der Jüdinnen und Juden und zur Verhinderung des von Hitler geplanten und mehrfach gegen alle Beteiligten begonnenen Krieges interveniert. Kollaborierte Stalin durch das Rippentrop-Molotov-Abkommen militärisch mit Hitler, so kollaborierten England und die USA sowie alle an der Konferenz von Evian beteiligten Mächte durch die Abweisung von jüdischen Geflüchteten, die in den Holocaust zurück geschickt wurden oder keinen Ausweg z.B. nach Israel erhielten.

Der Putinistismus und die Linke

Die heutigen Feiern zum 8. Mai in Russland zehren vor allem von Geschichtsmythen zum Stalinismus und Leninismus. Russland, die ewig von außen bedrohte Großmacht, die ruhmreich über ihre Feinde siegt. Hauptinstrument ist die Suggestion einer Wahlwiederholung: zwischen roter Armee und Hitler, zwischen Z-War und „NATO-Faschismus“. Putin benötigt dabei nicht einmal mehr den frenetischen Jubel, den Stalin einforderte. Für ihn genügt, wenn seine Unterstützer im Westen ihn in demokratischer Tradition zwar durchaus „kritisch sehen“, womöglich auch den Angriffskrieg verurteilen, aber dann die NATO und ukrainische Faschist*innen dafür verantwortlich machen. Er tritt nicht als Faschist auf, sondern als Antifaschist. Die rechten Parteien Europas stehen ohnehin hinter ihm, lediglich die härtesten Kerne der Neonazis, z.B. der „III. Weg“, haben sich auf die Seite der Ukraine gestellt. Putins Propaganda richtet sich daher explizit an Linke, hier versucht er zu überzeugen und sich zu rechtfertigen, zu spalten und zu verwirren.
In Teilen der Linken konnte die Identifikation mit der Roten Armee überleben, indem man zwar das eine oder andere als bedauernswert und Irrweg bezeichnet, aber insgesamt eine Wahl zwischen Hitler und Roter Armee aufgemacht wird, die sich historisch allein für vom Krieg betroffene Menschen in Osteuropa stellte.
Rechte revisionistische Tendenzen mit ihrem Hautpinteresse der Schuldabwehr werden instrumentell als Popanz einer quasi nicht mehr existenten Kriegsschulddebatte eingeführt, um sich eine echte Kritik des Stalinismus zu ersparen. Diese „echte Kritik“ will man in einem letzten Verteidigungsschritt noch an intensive Literatur auslagern. Man müsse den Stalinismus erst studieren und „verstehen“, um ihn kritisieren zu können.

Dabei sind die Verbrechen Stalins und mittelbar Lenins gegen die Menschlichkeit so offenbar, so offensichtlich, dass eine lebendige, somatische Moral im Sinne Adornos Moralphilosophie Anspruch erheben darf, sich zu distanzieren, in Ekel abzuwenden von den Inszenierungen und Rationalisierungen. Man tut so etwas nicht. Selbst wenn es den Kriegsvorbereitungen gegen die Nazis tatsächlich genützt hätte – was es nicht hat.

Ein Kommunismus, der nicht in Schrecken vor dem Leninismus und dem Stalinismus zurücktritt, ist keiner. Kommunismus, darauf ist zu beharren, bedeutet Freiheit UND Gerechtigkeit, bedeutet die Abschaffung von Folter und Todesstrafe, bedeutet, vor politischem Mord sicher zu sein und nicht, ihn zu exekutieren, zu glorifizieren und zu rationalisieren.







„…das Öl zu erhitzen.“ Antisemitismus unterm linken Tannenbaum.

„Den Kirchen­ober­häuptern in Jerusalem würde ich raten, die Verteidigungsanlagen zu befestigen und das Öl zu erhitzen. Die Barbaren kommen.“

Susanne Knaul übersetzte für die „tageszeitung“ den Text „Dialogisch bis fanatisch“ von Hagai Dagan, der in der Weihnachtsausgabe (24.-26.12.2021) christliche Palästinenser*innen dazu aufruft, „das Öl zu erhitzen“, um die jüdischen „Barbaren“ abzuwehren. Hagai Dagan ist erst seit 2021 Autor der taz, hat in Freiburg und Tel Aviv Philosophie und Theologie studiert und einige Romane mit mystischen Themen geschrieben.

Ist er in „Die Hoffnung der Narren“ noch um eine ausgewogene Kritik religiösen Fanatismus in Gaza und Israel bemüht, verlässt ihn dann im folgenden Text jede Fachkenntnis, wenn er eine bedingungslose Kooperation mit Iran einfordert:

„Es scheint, als führe Israel einen aussichtslosen Kampf, was Experten zu der Frage führt, ob es nicht sinnvoller ist, sich auf den Atomstaat Iran einzustellen, anstatt ihn weiter vergeblich verhindern zu versuchen. Was würde geschehen, wenn Israel den Ton ändert? Was, wenn Außenminister Jair Lapid erklärt, dass Israel einerseits sehr besorgt ist angesichts des iranischen Atomprogramms, gleichzeitig aber die Hand reicht und Versöhnungsverhandlungen ohne Vorbedingungen zur Disposition stellt.“

(„Einfach mal Frieden ausprobieren“, 20.11.21)

Israel kann angesichts der apokalyptischen, messianistischen Ideologie des islamischen Regimes in Iran keine nukleare Bedrohung akzeptieren, sei es durch schmutzige Bomben oder Mittelstreckenraketen. Jegliches Appeasement bedeutet die Aufgabe Israels als bedrohtes, aber insgesamt wehrhaftes, gesichertes Asyl. Dagan mag hier aus unbedachtem Reflex gegen die israelische Rechte argumentieren, aber er muss irgendwo dem parteiübergreifenden Konsens der Sicherheit Rechnung tragen, wenn er nicht in den lunatic fringe abdriften will.

Mit „Dialogisch bis fanatisch“ liefert Dagan nun zu Weihnachten eine üble, sadistische Fantasie. Er nimmt – ob zu Unrecht oder nicht – die Klage der Diözese von Jerusalem über verbale und tätliche Angriffe auf Christen zum Ausgangspunkt einer Kritik an der religiösen Rechten. Die Kirchen sehen darin einen „systematischen Versuch“, die Christen „aus Jerusalem und anderen Teilen des heiligen Landes“ zu vertreiben.
Das ist zunächst ein Verlust an Geschichtsbewusstsein. Schließlich wurde die jüdische Altstadt mit der Besetzung durch Jordanien einer ethnischen Säuberungskampagne ausgesetzt: 58 Synagogen wurden zerstört, Jüdinnen und Juden flohen oder wurden ermordet. Jerusalem war allen geschichtlichen Zeugnissen der letzten Jahrhunderten zufolge stets mehrheitlich von Jüdinnen und Juden bewohnt.
Und christliche Patriarchen und Protagonisten waren in der gesamten Region von der blutigen Eroberung Jerusalems durch die Kreuzfahrer über die „Damaskusaffäre“ bis hin zu neuerer Medienpropaganda intensiv an antisemitischen Kampagnen beteiligt, so dass man von einer Ökumene von islamischem und christlichem Antisemitismus sprechen kann, die unter anderem der Karikaturist Naji al Ali beispielhaft verkörperte: Jesus und die muslimischen Araber werden in seinen Karikaturen Seite an Seite als Opfer der Juden dargestellt.
Wenn heute Nachkommen von vertriebenen Jüdinnen und Juden zu Recht eine Restitution geraubter Immobilien in der jüdischen Altstadt einfordern, wird das derart reflexhaft als „Besetzung“ dargestellt, dass sich eventuell doch einmal berechtigte Kritik von antisemitischer Propaganda mit ihrem Herzstück der Täter-Opfer-Umkehrung kaum noch unterscheiden lässt.

Dagan jedoch überspringt die jüngere Geschichte der antisemitischen Gewalt und ethnischen Säuberung Jerusalems und leitet Restitutionsansprüche ausschließlich aus der jüdischen Theologie ab.

„Diese Texte füllen tausende Seiten, von der Bibel bis hin zu den Rabbinern, die die Banden anführen, die in Jerusalem heutzutage ihr Unwesen treiben. Solange die Juden im Exil lebten und auf das Wohlwollen anderer angewiesen waren, kam diesen Texten keine größere Bedeutung zu. Das änderte sich, als die Juden Herren ihrer selbst wurden. In Israel gibt es eine breite liberale, überwiegend weltliche Öffentlichkeit, die diese Phänomene verabscheut. […] Die Gewalt gegen Palästinenser und die gegen Priester in Jerusalem sind zwei Seiten derselben Medaille. Hier geht es um Menschen, die aufgewachsen sind mit einer giftigen Mischung aus Opferrolle und Gewalt gegen Angehörige anderer Religionen.“

„Dialogisch bis fanatisch„, Hagai Dagan, tageszeitung vom 24.-26.12.2021


Aus dem jüdischen Trauma wird hier eine Bedrohung für Andere, Juden aus „Opfern“ zu Schauspielern einer „Opferrolle“. Es ist diskutabel, ob in Israel nationalistischer Chauvinismus entstanden ist, der in Aggression umschlägt. Ihn ohne die permanente Bedrohung und den Terror der Gegenseite zu erzählen ist das eine, ihn außerhalb Israels trotz seiner global absolut marginalen Rolle für eine linke, deutsche Öffentlichkeit zur Gefahr hochzustilisieren, das andere.
Wo Dagan endgültig den Pfad der Diskursfähigkeit verlässt, ist, wenn er ein „Gemetzel“ fantasiert und dieses im gängigen antisemitischen Motiv „jüdischer Rachsucht“ auf biblische Traditionen zurückführt.

„Ihre Schlussfolgerung aus der jahrtausendelangen Judenverfolgung ist nicht, dass die Juden bessere Menschen sein sollen, sondern, dass sie „offene Rechnungen begleichen“ sollten. Sie lassen sich von den ­biblischen Helden wie Simon oder Pinchas inspirieren, die die Kanaaniter blutig nieder­metzelten.“

„Dialogisch bis fanatisch„, Hagai Dagan, tageszeitung vom 24.-26.12.2021

Spätestens im Schlusssatz hätte eine hinreichend an journalistische Ethik gebundene Redaktion einschreiten müssen. Wer solche Wortwahl an Weihnachten abdruckt, arbeitet in einer jahrhundertealten Tradition des christlichen Antisemitismus, der die Gläubigen an christlichen Feiertagen bis hin zum Pogrom aufreizte.

„Ich wünschte mir eine linke, weltliche und liberale Regierung, die gegen diese religiösen Fanatiker vorgeht. Die Trennung von Staat und Religion und die Beseitigung dieser Wespennester, aus denen diese Halunken hervorgehen. Aber ich mache mir keine Illusionen. Die Mehrheit der israelischen Gesellschaft akzeptiert diese Gewalt halbherzig oder wenigstens passiv. Grund dafür ist die langjährige national-religiöse Indoktrination der verschiedenen Regierungen. Den Kirchen­ober­häuptern in Jerusalem würde ich raten, die Verteidigungsanlagen zu befestigen und das Öl zu erhitzen. Die Barbaren kommen.“

„Dialogisch bis fanatisch„, Hagai Dagan, tageszeitung vom 24.-26.12.2021

Das Bild von jüdischen, gewalttätigen „Wespen“, „Halunken“ und „Barbaren“, und diese dann mit heißem Öl von „Kirchenoberhäuptern“ bekämpft sehen zu wollen – das ist eine Fantasie, die Meinungsäußerung überschreitet und im Stil der Kreuzfahrerei zur sadistischen Gewalt gegen Jüdinnen und Juden mobilisiert. Das mag in einer israelischen Öffentlichkeit als Polemik aus dem lunatic fringe der Linken gelten, in Deutschland an Weihnachten publiziert ist es schwerlich anders denn als Antisemitismus zu lesen.







„Dune – Der Wüstenplanet“ – Vom surrealistischen Kitsch zum reaktionären Machwerk



Die Geschichte vom Wüstenplanet Dune zieht ihre Popularität primär aus dem Bild eines Sandplaneten, dessen karger Boden auf wundersame Weise gigantische Wesen ernähren kann. Diese Sandwürmer sind zugleich kilometerlanger Phallus und alles verschlingende Vagina dentata. Wenig verwunderlich, dass sie – ähnlich der Alien-Figur H.R. Gigers – Generationen faszinieren. Kontrolle und Beherrschung dieser bedrohlichen Geschlechtsteile durch den konformistischen Rebell und künftigen Imperator Paul Atreides liefern den symbolischen Kern der Geschichte. Von sekundärer Bedeutung ist das Erlangen von Transzendenz durch eine Rauschdroge, die von den Würmern produziert wird. Der Rest der Geschichten besteht aus frei wütende Assoziationen über dämonisierte Elternfiguren mit den Hauptthemen Gift, Kontrolle und Verrat.

Konsequent war daher Jodorowskys Versuch, eine surrealistische Transkription zu finden. Nach seinem Scheitern konnte die erste Verfilmung durch David Lynch auch nur misslingen. Zwar bleibt Lynch dem surrealistischen Konzept treu, wo er das Symbolische mit Schleim, Eiter und Organität aufzufangen sucht und architektonisch mit einer Mischung aus Goth, Art Deco und Jugendstil-Design aufwartet. Vor allem im Porträt der Harkonnen erinnert er doch stark an ältere Comic-Bösewichte und rutscht unkontrolliert in die homophobe, im Blutritual auch antisemitische Groteske ab. Bei Lynch ist jedoch die chaotische und komplett übertriebene Ekelhaftigkeit der Harkonnen von der polierten Gelacktheit der Atreides nicht zu trennen, sie sind verdrängte Verwandtschaft eher als Gegner. Und Lynch hatte in seinen ekelhaften Figuren den Mut zur Konfrontation des Publikums mit ungewohnten, verdrängten Bildern, die das Publikum in Frage stellen und nicht seine Ressentiments bestätigen.

Die neue Dune-Verfilmung (2021) durch Dennis Villeneuve fällt hinter alles Bestehende weit zurück. Man hätte an den ersten, gescheiterten Versuch von Alejandro Jodorowsky und H.R. Giger anknüpfen können, oder Lynchs Version vorantreiben. Im neuen „Dune“ wurden aber surrealistische Momente rigoros stillgestellt und die kolonialen und rassisierten Erzählmomente nicht etwa aufgehoben, sondern verstärkt. Villeneuve muss Lynchs Version so sehr gehasst haben, dass er sie vollständig ignoriert. Anstelle einer modernisierten, aufgeklärten Interpretation steht nun ein verkrampfter Kriegsfilm, der die Vorlage tatsächlich ernsthaft auserzählen will: als „Star Wars für Erwachsene“, wie der Regisseur verlautbart. Die Möglichkeiten, die eine surrealistische und antikoloniale Neuverfilmung geboten hätte, wurden nicht nur nicht ausgeschöpft, sondern vollumfänglich verstoßen.

Die Erzählung von „Dune – der Wüstenplanet“ entsteht unweigerlich als Parabel zur geschichtlichen Eroberung des Erdöls. An der Oberfläche genutzt und geschützt von einer nur als „arabisch“ lesbaren indigenen Bevölkerung, den Fremen, lauert unter der Oberfläche die Rache der Natur in Form von Sandwürmern. Damit ist das Grundproblem des Kapitalismus abgesteckt: Enteignung, Gewalt und Raub im Zuge der „primitiven/ursprünglichen Akkumulation“ und Naturbeherrschung ohne Versöhnung. Dune tatsächlich als Kapitalismuskritik zu lesen, zeugt allerdings von tiefen Standards.

Antikolonialistisch war diese Erzählung jedenfalls nie. Lawrence von Arabien, Karl May und andere Produktionen verliehen der westlichen Hinwendung und Bewunderung für arabische „Wüstenmacht“ Ausdruck. Die Strategie des Westens war (vielleicht mit Ausnahme Algeriens) nicht, die arabische Welt zu brechen und zu durchherrschen, sondern die djihadistischen, nationalistischen und demokratischen Bewegungen zu fördern, ihnen eine Befreiung vom osmanischen Reich zu versprechen, und dann Herrschereliten wie die Sauds mit Macht im Tausch für Öl auszustatten. Orientalismus und Arabesken verbrämten und verniedlichten die politische Gewalt des entstandenen Reichtums und des religiösen Fanatismus.

Als Gegenmacht diente aber rasch nicht mehr das osmanische Reich, sondern kurzzeitig der italienische und deutsche Faschismus und dann wesentlich länger und intensiver die Sowjetunion, die Modell für die Harkonnen steht. Alle Seiten umwarben die „Wüstenmächte“ der arabischen Welt und alle tendierten dazu, im Zweifelsfall den jungen Staat Israel den arabischen Mächten auszuliefern. Die Kolonisierung der arabischen Welt ist anders als die des Trikonts von Identifikation mit Klischeebildern geprägt: Haremsdamen mit durchsichtigen Schleiern, wertvolle Gewürze, Aladins Wunderlampe, 1001 Nacht. Diese in der Vorlage schon vorgegebenen Bilder werden von Villeneuve ohne Skrupel bedient: am stärksten in der blauäugigen jungen Frau mit Schleier, die als erotisches Objekt die Träume von Paul Atreides durchwandelt.

Die Erzählung von „Dune“ insbesondere in seiner neuen Ausprägung bietet vor diesem politischen Hintergrund eine Projektionsfolie primär für den westlichen, rassistischen Blick. Spice „hellt“ den Blick auf, macht dunkle Augen „blau“ und letztere werden als Symbol von Weitsicht, Klarsicht und Weisheit eingeführt. Blaue Augen machen dergestalt die freiheitsliebenden „Fremen“ vor allem für ein weißes Publikum zum Identifikionsobjekt. Es hätte einer reflektierten postkolonialen Bearbeitung von Dune offen gestanden, dieses für die Erzählung irrelevante, aber zutiefst der Rassenlehre entspringende Motiv zu ändern.

Dune war bislang ein weißer Traum, der von weißen Darstellern gespielt wurde.  Daran ändert in der Neuverfilmung auch die nunmehr dunkle Hautfarbe einiger Statisten nichts. Der erste schwarze Mensch im Film ist ein Kundschafter, ein Dienstbote eines unsichtbaren Imperators ohne eigene Macht oder Charakter. Er bleibt im Stereotyp der schwarzen Hofdiener, die sich Fürstenhöfe hielten. Die zweite Figur ist die der nunmehr weiblichen „Ökologin“ Liet Kynes, die ebenfalls im Dienst des Imperators steht. Die Kombination von Schwarzsein und Ökologie entspringt der rassistischen Gleichsetzung von schwarzer Haut mit Natur. Auch diese Figur bleibt ein stereotypes Token. Sie stirbt wie für Hollywoodfilme üblich, sehr rasch und erhält keine Chance auf einen komplexeren Charakter.  
Die dritte, sprechende Figur mit schwarzer Hautfarbe ist Teil einer Fremen-Bande. Der „erfahrene Krieger“ fordert den weißen Held und Mahdi zum Kampf und verliert erwartbar. Dieser Schicksalskampf zwischen weißem Held und schwarzem Gegner ist ein austauschbares Element zahlloser kolonialer Erzählungen und nur weniges an Reflexion über rassistische Geschichte hätte genügt, um dieses Bild dem Publikum nicht aufzudrängen. In der filmischen Logik wird das Töten eines Menschen mit dunkler Hautfarbe notwendig, um sich als Mahdi zu beweisen. Aus einem weißen Film wurde ein Film, in dem Weiße Schwarze töten müssen, um heilig gesprochen zu werden.  

Auch die Identifikation mit den indigenen Fremen ist nur scheinbar anti- oder postkolonial. Sie bleiben Statisten mit einer Funktion: sich mit der weißen Erlöserfigur zu identifizieren. Das Haus Atreides verspricht den Fremen zunächst eine Entwicklungsherrschaft: Ausbeutung der natürlichen Ressourcen im Tausch gegen Sicherheit und Wohlstand. Das ist das exakte Selbstbild kolonialer Herrschaft, die sich ja nicht als die zynische Ausbeutung darstellte, die sie war, sondern als Befreiung der Kolonisierten von Sklaverei, Feudalismus und Seuchen. Das Gegenbild der Harkonnen als zynische Ausbeuter dient primär der Aufwertung – wie auch „Tim und Struppi am Kongo“ gegen weiße Räuber kämpfen, um sich von den Schwarzen auf den Thron heben und feiern zu lassen.

Dass die Bene Gesserit als Frauenorden mit Macht ausgestattet scheinen, arbeitet dem Missverständnis einer feministischen Erzählstruktur zu. Der Zweck des Frauenordens besteht aber darin, einen männlichen Messias zu ermöglichen, wie auch die weibliche Hauptfigur als Mutter ihren Lebenszweck auf den Machtgewinn ihres Sohnes ausrichtet. Ihre anfangs überlegene Intellektualität als lehrende Mutter wird auf dem Wüstenplanet sofort verkehrt: Sie wird übertrieben passiv, feminin, hilflos gezeichnet und muss sich von ihrem erstarkenden Sohn Basisbanalitäten wie den Sandmarsch oder das Anlegen des Fremen-Anzuges mansplainen lassen.

An toxischer Männlichkeit ist der neue Film überreich und hier wird der gigantische intellektuelle Unterschied zwischen Lynch und Villeneuve frappant. Im ersten Auftritt prüft der „Hubschrauberpilot“ Duncan Idaho die „Muckis“ von Paul Atreides, um ihn dann wie in tausenden bekannten toxisch männlichen Hollywoodwitzchen als Schwächling zu verhöhnen. Dieses Männlichkeitsideal wird bis zu seinem Tod durchgehalten und glorifiziert: Er ist ein Krieger ohne jedes Drama. Lynch war – trotz aller gebotenen Kritik an seiner Esoterik – Männlichkeit in all seinen Filmen verdächtig. Er konfrontiert sie bewusst mit ihren Urängsten, mit Kastration und Versinken in Schleim, Speichel und Wahnsinn. Villeneuve glorifiziert patriarchale Männlichkeit ohne eine einzige Frage an sie zu stellen.
Die Vorstellung, dass man in 8000 Jahren noch und wieder „Muckis“ sagen und prüfen würde, widerruft jede Idee von Fortschritt, und spricht zugleich Bände über die mangelnde Befähigung der Storyschreiber, eine künftige Gesellschaft zu denken. Diese Welt ist konservativ bis ins Mark gestaltet, als Abbild des WASP-Amerika, und das nicht als Dystopie, als Reaktion auf vergebliche Revolten, sondern so, als hätte es diese nie gegeben, als wären diese in 8000 Jahren nicht denkbar. Die Krieger sind Männer und Männer sind Krieger. Frauen sind Mütter und bestenfalls Hexen. Sie sind Statisten der Apotheose Pauls und der Film damit auf ein reines narzisstisches ödipales Drama reduziert, als Mutter-Kind-Dyade, in der der Sohn eine gewaltige, bezähnte Penisvagina reiten muss, um mit einer dämonischen Vaterfigur in Konflikt treten zu können und ihn, bzw. den idealisierten toten Vater abzulösen.  

Konservativismus spiegelt sich auch in der Ästhetik wieder. Die Berufung auf römische und griechische Mythologie wirkt ebenso altbacken wie die Kostüme, die von 8000 Jahren Fortschritt nichts spüren lassen. Alle Dune-Versionen hatten dieses Problem. Villeneuve kehrt zur orthodoxen Toga zurück, die Uniformen sind die von heutigen Armeen, immer noch schwelgt man in Stier- und Schwertkämpfen, rügt sich in War-Rooms, prahlt in Prätorianergardenromantik und dem Jargon von Marines. Man dient sich faschistischer Ästhetik an wie der Futurismus einst. Das taugt nicht einmal für eine Dystopie, sondern es wirkt einfach ebenso ranzig und angestaubt wie sämtliche Dialoge im Film.

Theatresk, holzig, bemüht und flach bleibt der Modus des Sprechens durchweg. Kein überraschender Satz wird hier gesprochen, kein Soziolekt, die Mimik bleibt unglaubwürdig und dem Klischee verpflichtet.
Jede Choreographie des Kampfes ist hundertmal in anderen Filmen zu sehen gewesen. Was Jackie Chan, zahllose Kung-Fu-Filme, die Matrix-Trilogie sowie neuere chinesische Filme im Gefolge von „Hero“ und „Tiger and Dragon“ jeweils an Originellem ausarbeiteten, wird hier nicht einmal im Ansatz erreicht. Den Kämpfen fehlt alle Dramaturgie, jede Poesie, bis hin zum letzten Schwertstreich ist alles wiederholter und erprobter Effekt.   

Was die Ästhetik der Ökologie von Dune angeht, hat es neben den obligatorischen Wüstenwürmern nur für eine Wüstenspringmaus gereicht, die mit ihren Ohren Wasser aus der Luft filtert. Man darf annehmen, dass der zweite Teil noch einige Wüstenbüsche und Bäume zeigt, womöglich noch eine Schlange. Ausformuliert wirkt lediglich die brutalistische, futuristische Architektur und als Einzelprojekt die den Libellen nachempfundenen Ornithopter.
Was Ambivalenz als Stilmittel angeht, gibt sich die Neuverfilmung keinerlei Mühe: Alles wird erklärt, nichts bleibt offen oder unklar. Die einen sind gut, die anderen böse. Der Verrat ist offensichtlich, der Fortgang unvermeidlich. Klischee folgt Klischee folgt Klischee.  

Erzeugte Lynch noch eine Sphäre des Verklemmten, des zutiefst falschen, widersinnigen in den Gesellschaften, die sich auf vielen symbolischen Ebenen bekriegen, will Villeneuve die Atreides zu Identifikationsfiguren in einem Kampf von Gut gegen Böse aufbauen und die Harkonnen als barbarisches Gegenprinzip. Reflektiert Lynch in seinen Harkonnen wenigstens noch den Abspaltungsprozess, wird er bei Villeneuve ganz unreflektiert unterstützt.

165 Millionen den Arbeiter*innen mittels Manipulation herausgepresster Mehrwert müssen sich moralisch ebenso rechtfertigen wie ein Staatshaushalt. Unterhaltsam sind die Raumschiffe, die wie in jedem neueren Film seit Space Balls und Independence Day monströs zu sein haben. Alles andere ist endlos recycelter Müll aus der Filmretorte. Villeneuve schafft keine Dystopie, er nutzt die spektakuläre Kulisse, um einen hollywoodkonformen Kriegsfilm nach Schema F herunterzuleiern.

Die bigotte Suche nach dem Proletariat in und für Afghanistan

Wieder einmal erleben wir die Berufung auf das weiße Proletariat, die der trump’sche Neofaschismus und die AFD groß gemacht haben. Soldaten seien Proletarier und als solche sollen sie nicht von Bonzen nach Afghanistan geschickt werden, weil sie dort sterben könnten. Eine Variante davon ist die Behauptung, dass ja Schreibtischstrategen, die selbst nicht gedient hätten, nun am liebsten wieder andere Soldaten in den Krieg schicken wollen würden. Aus der Parole „Proletarier ALLER Länder – vereinigt euch“, die einst zur internationalen Solidarität aufrief und ein universales Interesse an Freiheit proklamierte, und unter der sich tatsächlich Freiheitskämpfer*innen aus allen Ländern in Südamerika, auf dem afrikanischen Kontinent und in Südostasien Aufständen und Widerstandsbewegungen anschlossen, wurde isolationistische, ethnopluralistische Hetze: „Proletarier aller Länder – schottet euch ab und verteidigt mit Zähnen und Klauen eure Binneninteressen gegen andere Proletarier aus shithole countries.“ Die Strategie, den bürgerlichen Egoismus in den Arbeiter*innen anzufachen und sie gegen Minderheiten zu hetzen eigentlich alt bekannt: Die faschistischen Bewegungen und allen voran die nationalsozialistische deutsche ARBEITERpartei trachteten danach, die Arbeiter*innen in den Dienst der Interessen der reaktionären Eliten zu stellen.


Der Isolationismus von links korrespondiert daher mit der isolationistischen Propaganda der rechten Mitte, die behauptet, Afghan*innen seien ja nicht bereit für die Freiheit zu kämpfen und daher nicht den Einsatz der westlichen Soldat*innen wert. Den einzigen Unterschied zwischen beiden Positionen macht vorerst, dass die Linke mitunter noch auf der Aufnahme von Geflüchteten beharrt – wenngleich Wagenknecht-Linke auch in dieser Frage systematisch die vermeintlichen Binneninteressen deutscher Arbeiter*innen gegen das ohnehin erodierte Asylrecht aufhetzen.

Beide Strategien haben ihre eigenen propagandistischen Interessen. Sie sollen die Fehler der Intervention in den Hintergrund treten lassen und Schuld projizieren: Nicht der Westen war zur Demokratisierung unfähig, sondern die Menschen in Afghanistan. Nicht Fehlplanung, Korruption, religiöse und bürgerliche Ideologie im Westen standen einer erfolgreichen Emanzipation im Wege, sondern der angebliche Volkscharakter der Afghanen.
Es sind Übungen im Empathieentzug. Die Massaker der Taliban können so als die Sitten anderer Länder oder als die zwingende Folge eines imperialistischen Sündenfalls oder aber in primitivem Ableitungsmarxismus als Rückstand der afghanischen Produktionsverhältnisse rationalisiert werden. Man muss nichts mehr fühlen und vor allem nicht mitfühlen und schon gar nicht solidarisch handeln. Shit happens in shithole countries – dieser bürgerliche Egoismus eint Faschisten und Linksparteiler*innen heute.

Braucht ein freies Afghanistan aber tatsächlich ein Proletariat? Die Diskussion um das revolutionäre Subjekt hat der Faschismus entscheidend geändert: Ihm gelang es durch raffinierteste Propaganda, Arbeiter*innen gegen ihre Interessen zu mobilisieren. Aber auch der serielle Umschlag proletarischer Revolutionen in Terror gegen dieselben Arbeiter*innen hat das Projekt internationaler Solidarität gründlich sabotiert. Wer gesellschaftliche Tendenzen von der Existenz einer Arbeiterklasse und der dazugehörigen Industrie abhängig macht, hat schlicht und ergreifend kein annähernd an Marx gebildetes Geschichtsbewusstsein. Warum etwa die Taliban in Afghanistan, nicht aber im ebenso ländlichen Sambia oder ebenso armen Haiti entstanden sind, kann schlichtweg nicht aus makroökonomischen Prozessen und schon gar nicht aus dem Industrialisierungsgrad erklärt werden. Selbst der Maoismus ist hier weiter: Er stellte sich der Frage nach dem revolutionären Subjekt und schloss Kleinbäuerinnen ein, die von den Ableitungsmarxisten nur Verachtung fanden. Marx arbeitet gerade Landesgeschichten akribisch auf, um Faktoren zu analysieren und Dynamik ihren Raum zu geben. In Südamerika waren es oft Kleinbäuer*innen und Landarbeiter*innen, die Großgrundbesitzer und korrupte Oligarchien stürzten. In vielen Ländern Südostasiens und Afrikas entstanden hybride, pluriethnische Systeme, die zwar keine kommunistischen Utopias sind, die sich aber auch vor den erstarrten „konstitutionellen Monarchien“ Europas nicht verstecken müssen, nur weil sie ärmer sind.


Dass Afghanistan 2021 wieder an die Taliban gefallen ist, bleibt schlicht und einfach den Interessen übermächtiger und destruktiver Nachbarn geschuldet: Pakistan, das die Taliban aufbaute und Afghanistan als proxy gegen Indien nutzt, Iran, das die USA scheitern sehen wollte, Russland aus bekanntem politischen Interesse, China aus opportunistischen geostrategischen Interessen. Dagegen konnten 20 Jahre schlecht und unmotiviert geplanter Besetzung nichts ausrichten und wer behauptet, in 20 Jahren könne aus einem Bürgerkriegsland mit einer Million Toten und fünf Millionen Geflüchteten eine funktionierende wehrhafte Demokratie entstanden sein, hat erstens nicht die deutsche Geschichte studiert, in der nach fünfzehn Jahren Weimarer Republik schon wieder der Faschismus durchmarschierte und zweitens nicht die amerikanische Geschichte, in der selbst nach 230 Jahren (unvollständiger) Demokratie ein Faschist Präsident werden konnte. Afghanistan brauchte Zeit und glaubhaftes Engagement, und vor allem Letzteres war der Westen nicht bereit zu geben. Am wenigsten die Linkspartei, die von Beginn an die Forderung erhob: „NATO raus aus Afghanistan!“ Ausgerechnet mit dem Debakel des Abzugs sieht sich die Linkspartei nun bestätigt, als hätte nicht gerade der Siegeszug der Taliban ihre krude, ethnopluralistische und isolationistische Ideologie ad absurdum geführt.

Das Argument von den proletarischen Soldaten im Westen ist fachlich einfach falsch. Zum einen nämlich sind derzeit dieselben Soldaten, die in Afghanistan gekämpft haben, die, die am stärksten Entsetzen und Solidarität mit ihren Kameraden in Afghanistan ausdrücken. Es ist kurios, dass man heute von Kadetten selbst einer Erwin-Rommel-Kaserne mehr internationale Solidarität und Klassenbewusstsein erwarten darf, als von isolationistischen Linksparteilern. Und das zieht sich über Ländergrenzen. In den USA, in Großbritannien ist der skandalöse Abzug der NATO und die erneute Machtergreifung der Taliban für Soldat*innen vor allem eines: Ein Schlag ins Gesicht derer, die in Afghanistan gefallen sind, eine Entwertung jedes individuellen Opfers.
Zum Anderen sind Soldaten im Westen zwar mehrheitlich keine Eigner von Produktionsmitteln, aber dennoch relativ gut bezahlt (in den USA 62.00 USD p.A.) mit üppigen Vergünstigungen und Karrieremöglichkeiten. Dass Soldat*innen grundsätzlich Proletarier*innen seien, ist falsche Klassenanalyse, weil es in fast allen westlichen Staaten eben keine Volksarmeen mehr sind, sondern Berufssoldaten unterschiedlichster Abkunft und Berufe. Sie stammen auch aus eher bourgeoisen Elternhäusern, in denen der Militärdienst als patriotische Pflicht gilt.


Und in gut organisierten und ausgerüsteten Elitetruppen ist das Sterberisiko bei Luftunterstützung, Satellitenüberwachung und Infrarotkameras sehr gering. Sie kommen heute vor allem in assymetrischen Konflikten als Militärpolizei zum Einsatz. Bei keinem NATO-Einsatz wurden Soldat*innen in Materialschlachten verheizt wie im ersten Weltkrieg. Das Bild ist obsolet, geschichtsfern, wenn nicht geschichtsfeindliche, bewusste Fälschung. Westliche Soldat*innen haben in diesen Ländern in etwa dasselbe Sterberisiko wie Feminist*innen, Journalist*innen oder Umweltschützer*innen. Paradoxerweise aber will man statt gut ausgerüsteter Soldat*innen nun meist extrem schlecht bezahlte Entwicklungshelfer*innen zu den Taliban schicken, die bestenfalls von privaten Sicherheitsdiensten geschützt werden. Das scheint das übergreifende Konzept zu sein und den Fehler daran bemerken Linksparteiler*innen ebensowenig wie die Faschisten*innen – weil sie gerade diesen Fehler erst produzieren und internationale Solidarität sabotieren.

Disco Elysium – ein Fall für den Kommunismus?

Die linksliberale Euphorie über das Spiel „Disco Elysium“ ist vor allem Ausdruck einer Misere im Low-Tech-Spielesektor. Ideenlose Jump and Runs, Tower-Defense-Games, RPG mit immer gleichen, konservativen Inhalten: Damsel in Distress, muskulöser Held, Skillen, Grinden, Juwelensammeln, Upgraden, stumpfsinnige Besorgungen für NPC erledigen, kurz: repetitive Tristesse für zu Tode gelangweilte Menschen. Da kann ein Spiel beeindrucken, das ausnahmsweise von Intellektuellen mit einem ordentlichen Skript versehen wurde, das nicht auf eine Verschwörung eines Gentechnikkonzerns oder bösen Zauberers hinausläuft.
Technisch ist Disco Elysium allerdings auf einem Stand vor 25 Jahren: Ein Point-and-Click-Adventure mit Dreiviertelaufsicht und statischen Kulissen. Dass das Spiel dennoch 2GB Grafikspeicher als Mindeststandard angibt, verblüfft daher, und ist zudem unwahr: Mit den meisten besseren Onboard-Grafiken wird sich das Spiel problemlos begehen lassen. Ressourcen frisst es aber an den unmöglichsten Stellen. So sind banale Türen nur mit teilweise 30-60 Sekunden Ladezeit zu öffnen. Weil man aber ebenso hin- und hergeschickt wird wie bei anderen Spielen des Genres, muss man im Laufe des Spiels mindestens 200mal eine Tür öffnen. Hinzu kommt, dass mit dem letzten Update „Final-Cut“ eine Reihe von Bugs eingeschleppt wurden, die Questreihen sabotieren und Fast Travel ab Tag 4 verunmöglichen. So läuft man immer wieder die gleichen Stellen ab, was lediglich dadurch spannender wird, als man mit fortschreitenden Fähigkeiten mehr verborgene Hinweise erhält.

Die Stärke des Spiels liegt in seiner Ästhetik: Akustische Reize, Musik und Kulissen im Stil von Edward Hoppers „Nighthawks“ erzeugen eine tiefe Schwermut, die teilweise an die Grenzen des Erträglichen drängt. Ausgerechnet die harmloseste Figur im Spiel, eine Würfelmacherin, reizt die Schmerzgrenzen aus. In einer industrieromantischen Ruine sitzt sie vor einem Fabrikfenster wie eine Spitzweg-Karikatur eines Kleinbürgers, vollständig auf ihre sinnentleerte Arbeit fokussiert, abgeschottet von einer Welt, die den Bach hinuntergegangen ist und nun wie ein verlorener Würfel in ein tiefes Loch zu fallen droht.

Inhaltlich arbeitet das Spiel mit (sehr leisen) Anspielungen auf Terry Pratchett, die auch schon beim spieltechnisch himmelweit überlegenen „Planescape Torment“ vorhanden waren. Eine weitere literarische Quelle dürfte Douglas Adams Detektivreihe „Dirk Gently“ und dessen „holistische Detektei“ sein: Alles ist mit allem vernetzt und Absurdes ist möglich. Das erzeugt Suspense beim ersten Durchlauf. Leider hält vor allem diese Suspense das Spiel am laufen. Die Figuren sind sämtlich Klischees, reine Stereotype. Da gibt es DEN bad cop, DIE Disco-Königin, DIE Buchhändlerin, DEN rassistischen Trucker, DEN machistischen Arbeiter und leider auch rassistische Stereotype wie den opportunistischen Händler Sileng. Alles ist wenig überraschend und an einer Stelle gesteht das Spiel sich auch das Amusement über die Stereotypisierung ein:

Ist möglicherweise ein Bild von Text „EUGENE "Hell, you both look like you could use some feminine company right now." now. KIM KITSURAGI "Thank you for your advice, Eugene. And you too, Alain.I do always appreciate a good use of the expression milkers'." RHETORIC amuses him themselves. Itsincerely how hard these guys typecast“


Das Motiv des Desaster Tourism wird ebenso offen eingestanden in einer Szene, in der ein Fischerdorf mehrfach als „pornographically poor“ bezeichnet wird. Eine echte moralische Wahl gibt es im Spiel kaum: zwar kann man sich zwischen Faschismus, Rassismus, Kommunismus und Zentrismus entscheiden, die zentralen Handlungsstränge werden aber an wenigen Stellen so eng zusammengeführt, dass ein zielgerichteter, linearer Spielverlauf vorgegeben ist. Das moralische Gewissen des Spiels und zugleich eine der sympathischsten Figuren im Spiel, Kim Kitsuragi, ein aus Vorsicht überkorrekter Homosexueller, gibt mit ständigen Bewertungen eine zentristische Richtung als im Spiel vernünftige Wahl vor. Verschiedene Spiel-Enden werden nicht wie bei Fallout auch erzählt, lediglich Dialogoptionen erwähnen die „guten Taten“ am Ende. Das macht die moralische Freiheit zur Farce.

Bemerkenswert ist die Referenz auf den Kommunismus als Scheitern: eine zerbombte ehemalige Kommunardenfestung weckt bewusst Assoziationen an die Pariser Commune oder den indonesischen Politizid an der PKI. Das in einer surrealen, destruktiven Welt aufzuheben, die sich ähnlich wie Alzheimer oder Demenz in einem Zerfallsprozess zu befinden scheint und vor allem das Vergessen als Gegenspieler von Zivilisation aufbaut, ist im Spielesektor zweifellos progressiv. Das Publikum, das die ironischen Seitenhiebe auf Kritische Theorie („Inframaterialismus“) versteht, dürfte extrem klein sein. Die Karikaturen des Kommunismus dienen aber nicht nur der Selbstreflexion, der fraglos ehrlich gemeinten Anweisung zu erneuten Versuchen, sondern auch zur Belustigung von Antikommunisten und Zentristen. Mit dem fiktiven Kommunistenführer Kraz Mazov wird der Name Karl Marx mit Masochismus assoziiert: Kern des Kommunismus sei schließlich das Scheitern. Der „kommunistische“ Spielweg erlaubt leider auch kein reflektiertes Vorgehen, sondern ist weitgehend in Parteipatriotismus und hohlen Gesten gefangen: So erhält der Avatar die Option, einer Büste von Kraz Mazov zu salutieren. Agitation, also die Möglichkeit NPC tatsächlich zum Kommunismus zu bekehren und ein anderes Spielende zu erreichen, gibt es praktisch nicht. Lediglich einer Figur lassen sich (sinnbefreite) Jubelrufe auf den Kommunismus entlocken. Aber man kann mit einer russischen Fellmütze mit rotem Stern umherlaufen und so doppelt so viele Erfahrungspunkte in Dialogen mit linken Charakteren ernten. Das ist ein bisschen wenig für das, was möglich gewesen wäre. Dass der letzte Kommunarde dann ein sexualfeindlicher, homophober Parteisoldat ist, bleibt ebenso im Bereich des bourgeoisen Witzes über den Kommunismus gefangen wie der fettleibige Gewerkschaftsführer, der als „Nacktschnecke“ und „Blutegel“ bezeichnet wird. Er und seine Gewerkschaftstruppe entsprechen dem Bild von Gewerkschaft als Mafia, das zwar seine Realität in einem spezifischen, historischen US-amerikanischen Kontext auch hatte, das aber von der Bourgeoisie auch in eigenem Interesse sattsam zum Klischee überdreht wurde. In diesen Karikaturenkabinett bleibt Disco Elysium demnach weit hinter den Möglichkeiten zurück, die die ursprünglichen Ideen einmal boten. Es wirkt am Ende alles halb fertig, unvollendet, und doch zu starr, um mit Absicht so zu sein. Was passiert mit dem ab- oder angeschalteten Eisbären? Was wird mit dem schwerreichen Unternehmer geschehen? Und wer zum Teufel ist Abigail? Zu viele Entscheidungen haben keinerlei echte Konsequenzen auf den Spielverlauf oder das Ende.
Dem Spieleentwickler ZA/UM ist nicht aufgrund des Ergebnisses, sondern aufgrund des eröffneten Potentials beim nächsten Spiel mehr Erfolg und Mut zu wünschen.

Ist möglicherweise ein Cartoon von 1 Person und Text

The vampire paradox of zombies


We all know that zombies in folklore were simply dead workforce for witches. You find a person, kill it in a certain way involving rituals or you revive a dead person and there you have your robot or slave executing tasks without minding anything else. Zombies were the exact opposite of a socialist worker with ADHD: hyper-focused, effective, loyal. Social Anthropology has produced a lot of facts and fiction on the „reality“ of zombies and toxines from Haiti to South-Africa.
But films transplanted the „vampire“-aspect into zombies and that drastically transformed the traditional logic of zombies.

It is common sense today, that Zombies reproduce through biting living persons (or animals). The infection creates a rapid decay of a person’s consciousness, leaving a massive urge to bite driving forward a body ruined or decorated by flesh-wounds. But hordes of zombies should dismantle a body within seconds, even if we exclude digestion and therefore incorporation of flesh ripped of a living body. Many Zombie-jokes even refer to a nutritional focus on „brains“. It is equally common sense, that Zombies only die from headshots or severe damage to their skulls. Which means, a pride of zombies following their natural hunting behaviour will almost never produce offspring, as victims of zombie-attacks will end up with severe damage to their brains and little muscles left to move their bodies or teeth inside a skull to bite other bodies.
IF zombies bite, they can’t produce walking (and biting) zombies on a large scale. That is the vampire-paradox of zombies.
We can conclude: In Nature, wild zombies should almost never have intact bodies with noses, jaws, legs or arms. Or more precise: zombies, as depicted in movies, shouldn’t exist at all. They are – other than traditional zombies and vampires – a contradiction.
But maybe Zombies simply aren’t zombies. The original zombie-myth was deeply rooted in African mythology. (Frankenstein was more of a bornagain cyborg-jesus. He was alone, had feelings and was mobbed for being different. We can ignore Frankenstein. He is definitely not a zombie. Not at all.)
Voodoo-Zombies were too African for white culture industry. Despite branding it as „superstition“ whites were afraid of „African witchcraft“ because whites were afraid of anything even hinting at black power. „Night of the living dead“ introduced an armed black hero slapping a white woman: an outrage for white people at that time. But in the end he dies from bullets of white racists mistaking him for a zombie – or for the „dangerous“ black man he is.
With „Night of the living dead“ all further zombies became vampires. Vampires thrive on christian projections of drinking blood in churches, ressurection, visiting beautiful girls and boys at night, being creepy jesuses. They have their logic, but only for Christians – and teenagers. (By the way: African vampires don’t feed on blood: They sell it to white people or sacrifice it to the gods or witches.) Zombies on the other hand mutated into ugly vampires. They bite. That’s all you need. No food, no brains, just bites. And as with vampires, biting creates offspring and therefore simply is: sex.
The moral of zombie-films is prudish: Sex is rape. Attraction is dangerous. Those who go out will be gangraped. You need a penis (and/or heavy guns) to defeat zombies. Kill zombies – kill the sex-drive – save mankind. Zombies then are logical again, but also very boring.





The Undoing – wie man den Hammer loswird

Ein Film über eine Psychoanalytikerin macht sich verdächtig, seine Bilder bewusst einzusetzen und ist für seine Inhalte in besonderem Maße verantwortlich zu machen. Die Story ist ein platter whodunnit: ein Arzt „betrügt“ seine Ehefrau, eine Paartherapeutin, mit einer Künstlerin und bringt diese um. Über fünf Folgen werden nun Andeutungen gestreut, die auch den Vater der Ehefrau, diese selbst oder ihren Sohn ins Visier nehmen. Aber es war dann trotz aller Finten und Maskeraden eben doch der angeklagte Ehemann der Paartherapeutin, was wir auch schon wissen, denn bereits zu Beginn hören wir mehrfach Frauen resolut urteilen: „Es ist immer der Ehemann!“
Die Message-to-go von The Undoing ist demnach erstaunlich simpel: Ehebruch ist ein Verbrechen.
Die Staranwältin verrät das am deutlichsten. Sie präsentiert ein Jurymitglied mit den Worten: „Er hat selbst Ehebruch begangen. Er weiß, dass Ehebrecher nicht auch Mörder sind.“ Der Rest des Filmes dreht sich darum, diesen Satz als Lüge zu entlarven, die die Anwältin selbst nicht glaubt. Beim Schuldspruch bricht ihre Kontrolle zusammen und sie giftet ihren Mandanten an: „Verdammt, Sie hätten einfach nur den Hammer vernichten müssen! Wie blöd kann man sein!“
Den Hammer vernichten. Man muss kein großer Psychoanalytiker sein, um den Doppelsinn zu verstehen.
Nicole Kidman wird als überwältigend schöne und perfekte Ehefrau aufgebaut. Sie hat keine Makel und ist am Ende das reine, betrogene Opfer. Wer hier – im oridinären Modus des Films gesprochen – seinen Hammer nicht loswird und treu bleibt, muss blöd sein. Oder ein „Arschloch“, wie der Pflichtverteidiger den Ehemann beurteilt. Er heilt krebskranke Kinder – und „bricht“ seine Ehe mit der Mutter eines Patienten.
Sie hingegen ist Therapeutin und „heilt“ Ehen: Einem homosexuellen Paar empfiehlt sie ganz in der Tradition konservativer Psychoanalyse in den USA, den Akt des Fremdgehens als Resultat einer Störung zu verstehen. Therapie führt nicht in freiere Sexualität, in Versöhnung mit dem Trieb, sondern dazu, dass freie Sexualität nicht stattfindet: Dass es nie wieder vorkommt und man sich „vertraut“.
Ihr Vater gesteht ihr gegen Ende des Films, dass er Zeit seines Lebens untreu war. Nicht Versöhnung, sondern ewige Selbstverachtung gibt der Film ihm zur Strafe mit. Der Film sanktifiziert die Straflust des Vaters, einem selbstbezeichneten „Hurensohn“, der zur Verteidigung der Familie mafiösen Druck ausübt. Das Überich ist zwar selbst bigott, aber weil es sich selbst verachtet, darf es regieren. Am Ende fliegt dieser Vater an der Seite seiner Tochter und seines Enkels im Hubschrauber davon, während unten der Ehemann verhaftet wird.

Am deutlichsten wird diese Identifikation mit einem sadistisch strafenden Überich in der Behandlung des Mordopfers. Die verführerische Künstlerin dringt in die intakte Familie ein und als sie ihr Kind, das Produkt der Affäre, im Haushalt der Reichen und Schönen unterbringen will, wird sie dafür vom Ehemann erst mit dem Kopf an die Wand geschmettert, und als sie ihm voll Wut mit dem Hammer nachläuft, von diesem entwaffnet und getötet. So kann der Film von der Figur des männlichen Ehebrechers beides haben: Schuld und Strafinstanz gleichzeitig. Der Mörder ist verachtenswert, schlimmer noch: bemitleidenswert. Aber er straft die wahrhaft Schuldige, den „homewrecker“, eine bekannte Figur im konservativen amerikanischen Film. Das ist der Grund, warum der Film hier, und nur an dieser Stelle, die Sehgewohnheiten verletzt und das Mordopfer wie in einem schlechten Splatterfilm mit zermatschtem Kopf zeigt. Wieder, und immer wieder.
Die derart aggressiv zerstörte Verführerin ist die Trophäe des Films. Für sie riskiert er eine Abwertung in der Altersfreigabe. Hier sagt der Film: So soll es allen Ehebrecherinnen gehen, die ihre Grenzen nicht kennen.
Daher ist „The undoing“ nur als Stück reaktionärer Ideologie zu lesen, als konformistische Revolte im Bündnis mit einem sadistischen Überich und gegen den Trieb.