Die Abwehr des Genießens in der H&M-Werbung und der Hartz IV-Debatte

„Ein glückliches Zeitalter ist deshalb gar nicht möglich, weil die Menschen es nur wünschen wollen, aber nicht haben wollen, und jeder einzelne, wenn ihm gute Tage kommen, förmlich um Unruhe und Elend beten lernt. Das Schicksal der Menschen ist auf glückliche Augenblicke eingerichtet – jedes Leben hat solche –, aber nicht auf glückliche Zeiten.“ (Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches, § 471)

Gesellschaftliche Tendenzen bergen für den misstrauischen und erst recht für den paranoiden Charakter den Geruch der Verschwörung, der Manipulation. Die Vermitteltheit dieser Trends mit dem individuellen Unbewussten geht durch diese Wahrnehmung verloren. Die Tendenz, im öffentlichen Raum offensichtlich am Rande des Verhungerns stehende und von Heroinkonsum gezeichnete Menschen in massentaugliche Modewaren zu stecken und in grotesken Verrenkungen zu inszenieren ist mitnichten nur das Werk einzelner sadistischer Modepäpste. Deren Fehlbild vom Menschen ist ein durch kollektiven Druck geformtes, es hätte keine Gewalt ohne das Bedürfnis.

Ein zweites Phänomen: Nach den Urteilen zur Verfassungswidrigkeit der Sozialhilfesätze springt ausgerechnet der Vertreter der liberalen Partei, Westerwelle, in die Bresche und erklärt Sozialhilfeempfänger zu dekadenten, das Leben in vollen Zügen genießenden Menschen, die auf diese Weise einen „Untergang“ wie jenen Roms verursachen könnten. Sein kaum unter Parteikomplizenverdacht stehender Gesinnungsgenosse erklärt wenige Wochen später seine Philosophie zum angemessenen Leben ohne Einkommen: „Kalt duschen ist doch eh viel gesünder. Ein Warmduscher ist noch nie weit gekommen im Leben.“

Die offene Homophobie in diesem – gesinnungsgleichen – Angriff auf den homosexuellen Außenminister bleibt in den Kritiken unbesprochen. Sie ist ebenso massentauglich wie das Ressentiment beider. Und sie verläuft synchron zum Modetrend.
Das „obszöne Genießen“, das Žižek mit Lacan als ödipale Zuschreibung an den Vater schildert, hat der Gesellschaft Hass eingeflößt. Lust, die nicht schon mit dafür erlittenem Elend verrechnet werden kann, wird auf unerträgliche Weise zur Schuld. Daher die kollektiv-individuelle Lust beim Anblick derer, die eine vermeintlich glückliche Welt vertreten und als Zeichen dafür das symbolische Elend in ihre Körper skulptieren. Wo der durch und durch berechnete Wiederholungszwang der Mode kaum noch ästhetische oder künstlerische Kriterien oder gar Originalität aufwarten muss, tritt eine andere Botschaft in den Fokus: Nicht wird durch das Produkt Glück versprochen, sondern durch die Entsagung, mit der das Produkt erkauft wird. Das Produkt wird zum Attribut der Entsagung, nicht zum Zweck. Meine Entsagung betone, ja unterstreiche ich mit den entsprechenden Größen, in denen jene Kleider ausschließlich erhältlich sind. Sie ist zum Ziel der Mode geworden, nicht umgekehrt. Die Orgien der Stars sind „Privilegien, an denen keiner rechten Spaß hat und mit denen die Privilegierten sich nur darüber betrügen, wie sehr es im glücklosen Ganzen auch ihnen an der Möglichkeit von Freude mangelt“ (Adorno, MM 360). Mehr noch, sie zelebrieren für alle, dass jenes Glück keines ist. Nicht die glücklichen Stars sind Role Models, die unglücklichen sind es. Der Drogenrausch der 1970-er versuchte mit Genuß die erlittene Kastration zu bezahlen. Dieses Genießen ist ein „von Beginn an Verlorenes“ wie Žižek sagt. Seine extreme Steigerung belegt nur seine völlige Abwesenheit ebenso wie heute. Der Luxus wird um Leere errichtet, die edlen Tuche flattern um Gerippe.

Ebenso konsequent richten sich Westerwelle und Sarrazin zu. Der bombastische Reichtum, den Deutsche noch kultivieren, darf um keinen Preis als Genießen erscheinen. Reiche und Arbeitslose sollen gleichermaßen keine Lust am Leben haben. Wo Zeichen des Genusses erscheinen, droht der Untergang durch Dekadenz, sei es durch den Zusammenbruch des Staates oder durch die Klimakatastrophe. Nicht aus purer Feindschaft gegen den Genuss sondern aus der Verzweiflung über dessen Unmöglichkeit speist sich die Bösartigkeit, mit der Westerwelle und Sarrazin ihre Projektionsflächen attackieren. Das richtet noch jene Lust zugrunde, die an ihrem Versprechen selbst aufflackert, die also Vorfreude auf echte Freude sein könnte. Die Deutschen, als kulturelle Kategorie verstanden, haben sich mit der Kastration identifiziert – weil Lust unmöglich ist, wird sie selbst zum Feind erklärt. Der Garten Eden wird zum drohenden Symbol der Kastration, wenn man ihn nicht haben kann, so ist er schlecht, spätrömisch und dem Untergang geweiht. Die jüdische Religion hat eben aus der Unmöglichkeit von Lust nach der Vertreibung aus dem Paradies die Forderung nach allem, was an diese Lust erinnert institutionalisiert. Der alkoholische Exzess ist Bestandteil des Ritus, die sexuelle Lust der Frau in der Ehe ein verbrieftes Recht, eine Mizwa.

In Deutschland behütet der Staat die Individuen vor ihrer eigenen Lust gerade dort, wo er verspricht, sie zu ermöglichen. Die letzte Lust der Deutschen bleibt die, jene der anderen zu verunmöglichen. Aus lauter Genugtuung über die sichtbare Selbstkasteiung der Plakatgespenster kaufen sie die Symbole dessen, die Kleider die sie tragen. Es ist nicht mehr der Kaiser, der nackt durch die Straße läuft – es sind die Kleider.

Slavoj Žižek: Liebe dein Symptom wie dich selbst. Zitate S. 108.

Theodor W. Adorno: Minima Moralia.

1.3.2010, Süddeutsche: Sarrazin: „Warmduscher sind nie weit gekommen.“ http://www.sueddeutsche.de/politik/438/504648/text/

Friedrich Nietzsche: Werke. Menschliches und Allzumenschliches.

Existenzsicherung a lá Deutschland

132 Euro sind natürlich für die Existenzsicherung noch viel zu hoch veranschlagt. Um das herauszufinden braucht man keine Promotion, sondern lediglich etwas Erfindungsreichtum. Löwenzahn wächst ganzjährig im Garten – d.h. Gemüse und Vitamine müssen nicht einmal bei Lidl gekauft werden. Aus diversen Rinden kann man auch gut Rindenmehl machen, die Leute aus dem Krieg oder Einwanderer aus China wissen das vielleicht noch. Im Wald Eicheln sammeln und in der Klospülung entbittern spart schonmal die Kartoffeln. Als Schuhe reichen Flip-Flops, die man sich aus Weidenholz oder Autoreifen schnitzen kann, Mahatma Ghandi wurde damit zum Weltstar. Wasser kommt aus der Leitung. Kleider kann man gut bei Altkleiders aus den Containern fuddeln. Pilze züchtet man in der Badewanne oder gleich an der Wand. Bleiben als Zukauf 500 Gramm Mehl und 200 Gramm Reis pro Tag und wenn man das als Palette im Großhandel kauft oder bei Nachbars schnorrt, kommt meine Studie abschließend auf 32 Euro Monatsbedarf zum Leben plus 6,50 Euro Strom. Die Suche nach Lebensmitteln und das anschließende Verarbeiten hält gesund. Sexualität verbrennt nur Energie und gehört damit nicht zum gesunden Lebensstil, daher sind in dieser Studie keine Kosten für Verhütungsmittel enthalten. Wenn es am Monatsende knapp wird, kann man auf Geheimtips der Anorexie-Blogs zurückgreifen: viel trinken und schlafen, Watte essen, das stopft. Wer gibt mir jetzt Geld dafür? W3 wäre schon das Minimum.

Im Ernst. Thießen und Kollegen sind selbstverständlich nur notwendiger Ausdruck einer allgemeinen Tradition in Deutschland, wo Existenz von je als hirnloses Sein gedacht wird: den Müßiggängern und Schwarzarbeitern, die sich laut Müntefering auf Kosten der Ehrlichen den lieben langen Tag ins Fäustchen lachen, will man ihren sunny afternoon mal kräftig heimleuchten. Wo in einem der produktivsten Länder der Welt mit fruchtbarsten Böden und einer gewaltigen Agrarindustrie tatsächlich die Angst vor Armut die Charts der unguten Gefühle anführt, ist es kein Wunder, dass Leute dafür bezahlt werden, diese Angst zu nehmen und umzuwandeln in ein Gefühl des „Es-könnte-noch-schlimmer-kommen“. Darauf baut die Hartz-IV-Ideologie, die den Fallmanagern aus den Ohren trieft, wenn sie zur Rechtfertigung ihrer Tätigkeit auf schlimmere Maßnahmen oder das Sozialsystem in Brasilien verweisen. Dass man von 320 Euro im Monat aufgrund hochsubventionierter Lebensmittel noch recht gut überleben kann, fiecht zuallererst jene Betriebe an, die Löhne von 5 Euro die Stunde zahlen und damit bei 160 Arbeitsstunden pro Monat auch wieder nur ein Nettoeinkommen auf ALG-II Niveau bieten. Zugleich fällt bei diesen immer gleichen Debatten unter den Tisch, was Hartz-4 tatsächlich ist: Kein System zur Existenzsicherung der Arbeitslosen, sondern zur krisenfesten Mobilmachung Deutschlands, zur „Arbeitsmarktreform“, zur Aufbesserung der Statistik.

Reichsarbeitsdienst reloaded – Arbeitslose in die Pflege

Der Vorschlag von Ulla Schmidt, Arbeitslose doch in Pflegeberufen unterstützend einzusetzen, ist nur die logische Fortsetzung eines nach unten offenen Verfalls demokratischer Prinzipien. Auffällig ist nicht der Vorschlag an sich, sondern seine verquaste Rechtfertigung: Arbeitslose, und hier vor allem Frauen, sollen so „zurück in ihren Beruf“ finden. Offensichtlich wirkt aber ein anderer Zusammenhang: Weil Pflegeberufe skandalös unterbezahlt und durch Intensivierung mit Belastungen jenseits aller Grenzen verbunden sind, entstanden 10 000 Leerstellen. Gleichzeitig wurde und wird Pflegepersonal entlassen, das die Intensivierung nicht verkraftet. Im Rahmen der Zivildienste wurde eine ähnliche Debatte erschöpfend geführt: Die „Unterstützung“ durch Zivildienstleistende hat zu einer Absenkung des Lohnniveaus in Pflegeberufen geführt und mitnichten eine bessere Pflege garantiert. Anstatt das Notwendige professionellen ArbeiterInnen bei halbwegs gewahrtem Äquivalententausch anzuvertrauen, setzt man an neuralgischen Punkten ein unerfahrenes, desorganisiertes Lumpenproletariat ein, das stark zwischen den Stellen frequentiert und so zum Widerstand nicht in der Lage ist. Doch die modernen Streikbrecher werden nicht mehr mit Prämien geködert, ihnen selbst ist das Streiken gegens Streikbrechen untersagt: Wer sich widersetzt, bekommt im Falle des Zivildienstleistenden strafrechtliche Konsequenzen zu spüren, im Falle des Arbeitslosen wird ihm die Stütze entzogen.

Hätte Ulla Schmidt Sorge um die Qualität der Pflege, so stünden ihr als zuständige Ministerin ausreichende Mittel zur Verfügung, diese selbstverursachten Missstände aufzuheben. Die Verlockung, die Reservearmee des Proletariats auf niedrigstem Niveau auszubeuten, geht weniger aus ökonomischen Zwängen hervor, als aus der Vorstellung, diese Reservearmee hätte nichts besseres zu tun, sei ein abrufbarer Klonkrieger im Kälteschlaf oder in der Phantasie der Werktätigen: ein ewiger Florida-Rolf. „Freiwillig“ könne man sich um die Stellen „bewerben“, es sei also doch nichts Falsches daran, man erhalte „Berufserfahrung“. Wer mit den Kreisjobcentern und Arbeitsagenturen zugange ist, weiß, wie eine solche Freiwilligkeit aussieht. Da erklärt einem der Job-Akademie-Betreuer, man habe die Maßnahme doch angefragt und einen Antrag gestellt, warum man denn so unwillig sei. Tatsächlich ist man als „Antragsteller“ im Vertrag aufgeführt, die Freiwilligkeit besteht darin, zwischen Streichung von Geldern und Unterschrift unter den „Antrag“ zu wählen. Ähnlich perfide wird die Freiwilligkeit bei den „Bewerbungen“ geartet sein. Wer sich nicht auf eine solche „Stelle“ bewirbt, wird eben als „nicht arbeitssuchend“ bewertet und erhält keine Leistungen mehr. Wo man sich in den Feullietons und auf Seiten einiger FDP-Politiker Sorgen um die Qualität der Pflege macht, sollte man sich viel eher Sorgen machen um die Verfasstheit einer Gesellschaft, die den Abstieg in die offene Sklaverei – von der noch ein weniges an unmittelbarer Gewaltanwendung trennt, (soviel Marx muss sein) die Richtung ist indes eingeschlagen – noch mit Termini wie Freiwilligkeit verbrämt. So frech, den Sklaven zu unterstellen, sie wären freiwillig auf den Plantagen, waren noch nicht einmal die nord- und südamerikanischen Sklaventreiber. „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ – gerade auf dem bislang unerreichten Höhepunkt der Produktivität dringt dieser faschistische Lehrsatz aus jeder Pore der deutschen Ideologie.

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Der Euphemismus – Instrument der Herrschaftsausübung