„3096 Tage“ – Eine Buchempfehlung

Der Satz, Natascha Kampusch hat ein Buch geschrieben, wäre fast gelogen. Kampusch wurde gezwungen, dieses Buch zu schreiben. Hinlänglich bekannt sind die Ressentiments und Phantasien, die sich an ihrer Person entzündeten. Der Entschluß, einen öffentlichen Beruf als Moderatorin einer Fernsehsendung auszuüben, wirkt weiterhin magnetisch auf jene vom unverhohlenen Neid Getriebenen. Solche Menschen agieren stereotyp in ihren immer gleichen Fixierungen auf eine gigantische Verschwörung hinter dem offensichtlich Entsetzlichen, in dem das Opfer zum Mitverschwörer wird und sie, die kleinen Leute hinter ihren Bildschirmen die Opfer der Opfer sind.

Doch auch die kleinen, journalistischen Spitzen sind bezeichnend. Rolf Leonhard titelte seine Rezension in der taz ganz unverschämt: „Eine ungleiche Zweierbeziehung.“ Im Artikel phantasiert er: „Immer wieder bekommt man den Eindruck, dass Kampusch, die sich im Laufe der Jahre zur stärkeren Partnerin in dieser ungleichen Zweierbeziehung entwickelte, für ihren Entführer Mitleid empfand.“

Mitleid, und das sagt Kampusch mehrfach ganz explizit, ist ein ganz zentrales Moment ihrer Strategie und ihres Reflexionsprozesses:

Es fiel mir in den folgenden Wochen und Monaten leichter, mit ihm umzugehen, wenn ich ihn mir als armes ungeliebtes Kind vorstellte. (Kapmusch, 123)

Mir tat dieser Mann, der mich über acht Jahre lang gequält hatte, in diesen Momenten unendlich leid. Ich wollte ihn nicht verletzen und gönnte ihm die rosige Zukunft, die er sich so sehr wünschte: er wirkte dann so verzweifelt und allein mit sich und seinem Verbrechen, dass ich manchmal fast vergaß, dass ich sein Opfer war – und nicht zuständig für sein Glück. (Kampusch, S. 257)

Es bedarf schon einiger Ignoranz, von solchen expliziten Stellen „den Eindruck“ zu bekommen. Schlichtweg frech ist es, die Folter als „Zweierbeziehung“ zu bezeichnen und darin auch noch Kampusch als „stärkere Partnerin“ zu halluzinieren, als gebe es die eingeschobenen akribischen Tagebuchaufzeichnungen nicht. Die sperren sich dem Zitat. Zitiert werden können allein Kampuschs nachträgliche Reflexionen in der Vergangenheitsform:

Mein Körper zeigte deutliche Spuren des Essens- und Lichtentzugs. Ich war nur noch Haut und Knochen, auf den Waden zeichneten sich schwarz-blaue Flecken auf meiner weißen Haut ab. Ich weiß nicht, ob sie vom Hunger oder von den langen Zeiten ohne Licht kamen – doch sie sahen beunruhigend aus, wie Leichenflecken. (Kampusch, S. 206)

Kampusch wurde von Priklopil durch ein ausgefeiltes System aus Isolationsfolter, Hungerfolter, Kontrollfolter und brutaler Quälerei unterworfen. Dass sie sich nicht brechen ließ, auch Erfolge gegen ihren Peiniger errang, macht sie noch lange nicht zur „stärkeren Partnerin“. Schlichtweg falsch ist auch Leonhards Behauptung:

„Sie erklärt das sogenannte Stockholm-Syndrom, das Opfer dazu bringt, sich mit ihren Peinigern zu solidarisieren.“

Kampusch erklärt nicht, sie kritisiert diesen Begriff vehement. Nach einer Silvesterfeier, bei der Geschenke mit Priklopil ausgetauscht wurden, reflektiert sie:

Wenn ich davon spreche, kann ich in den Gesichtern mancher Außenstehender Irritation und Ablehnung sehen. Die eben noch empathische Teilnahme an meinem Schicksal friert ein und wandelt sich in Abwehr. Menschen, die keinerlei Einblick in das Innere der Gefangenschaft haben, sprechen mir mit einem einzigen Wort die Urteilskraft über meine eigenen Erlebnisse ab: Stockholm-Syndrom. […] Eine kategorisierende Diagnose, die ich entschieden ablehne. Denn so mitleidsvoll die Blicke auch sein mögen, mit denen dieser Begriff aus dem Handgelenk geschüttelt wird, der Effekt ist grausam. Er macht das Opfer ein zweites Mal zum Opfer, indem er ihm die Interpretationshoheit über die eigene Geschichte nimmt – und die wichtigsten Erlebnisse darin zum Auswuchs eines Syndroms macht. Er rückt genau jenes Verhalten, das maßgeblich zum Überleben beiträgt, in die Nähe des Anrüchigen. Das Annähern an den Täter ist keine Krankheit. Sich im Rahmen eines Verbrechens einen Kokon aus Normalität zu schaffen ist kein Syndrom. Im Gegenteil. Es ist eine Strategie des Überlebens in einer ausweglosen Situation – und realitätsgetreuer als jene platte Kategorisierung von Tätern als blutrünstige Bestien und Opfern als hilflose Länner, bei der die Gesellschaft gerne stehen bleibt. (Kampusch, S. 176)

Und später vergleicht sie die ambivalente Gefühlslage „normaler“ Kinder mit jenem „Stockholm-Syndrom“:

Ich beobachte heute manchmal die Reaktion kleiner Kinder, wie sie sich auf ihre Eltern freuen, die sie den ganzen Tag nicht zu Gesicht bekommen haben und dann nur unfreundliche Worte, manchmal sogar Schläge für sie übrig haben. Man könnte jedem dieser Kinder ein Stockholm-Syndrom unterstellen. Sie lieben die Menschen, mit denen sie leben und von denen sie abhängig sind, auch wenn sie nicht gut von ihnen behandelt werden. (Kampusch, S. 193)

An einer weiteren Stelle wird die aggressive Patina solcher herumgeschleuderten Begriffe weiter bloßgelegt:

Wer anonym in Internetpostings reagieren kann, lädt seinen Hass direkt auf mir ab. Es ist der Selbsthass einer Gesellschaft, die auf sich selbst zurückgeworfen wird und sich fragen lassen muss, warum sie so etwas zulässt. Warum Menschen mitten unter uns so entgleiten können, ohne dass es jemand merkt. Über acht Jahre lang .Jene, die mir bei Interviews und Veranstaltungen gegenüberstehen, gehen subtiler vor: sie machen mich – der [sic] einzigen Person, die die Gefangenschaft erlebt hat  – mit einem kleinen Wort zum zweiten Mal zum Opfer. Sie sagen nur „Stockholm-Syndrom.“ (Kampusch, S. 194f)

In diesen Passagen tritt Kampusch – und an dieser Stelle ist es egal, ob sie selbst dies schreibt oder ihre Ghostwriterin –  als  avancierte Kritikerin eines entleerten Allgemeinbegriffes auf, die philosophisch gelesen werden will – was ihr die Journalisten in ihren Naivisierungen verweigern. Die FAZ reinigt das Werk von seiner gesellschaftskritischen Gewalt und fokussiert ausschließlich auf das Verhältnis zwischen Täter und Opfer. Kampusch leistet viel mehr als eine von der FAZ kolportierte „analytische Beschreibung des Lebens und der Nöte eines jungen Mädchens, das mit Unvorstellbarem konfrontiert wird.“ Ihre Analyse ist schon Gesellschaftskritik eines intellektuell reifen Individuums – von der will man in der FAZ naturgemäß nichts hören. Zu vieles ist Kampusch an der reaktionären Gesellschaft nicht geheuer. Merkwürdiges, allgemein übliches Gebaren mit Kindern sowie die autoritären Gesten der Züchtigung, die erst kürzlich gesellschaftliche Ächtung erfahren haben, werden ihr schon an ihren Eltern verdächtig .

Er [KampuschsVater] war ein jovialer Mann, der den großen Auftritt liebte, seine kleine Tochter in ihrem frisch gebügelten Kleidchen war ein perfektes Accessoire. (Kampusch, S. 22)

Es war diese fatale Mischung aus verbaler Unterdrückung und „klassischen“ Ohrfeigen, die mir zeigte, dass ich als Kind die Schwächere war. […] Im Hof konnte ich immer wieder Mütter beobachten, die ihre Kinder anbrüllten, zu Boden stießen und auf sie einprügelten. Das hätte meine Mutter nie getan, und ihre Art, mich nebenbei zu ohrfeigen, stießt nirgends auf Unverständnis. Selbst wenn sie mir in der Öffentlichkeit ins Gesicht schlug, mischte sich nie jemand ein. (Kampusch, S. 30)

Das später erlittene Verbrechen baut Kampusch bewusst als ins Riesenhafte gesteigerte Version dessen auf, was sich im Kleinen im österreichischen Alltag findet:

Sogar Kindern zumindest vorübergehend die Freiheit zu nehmen war nichts, was mir außerhalb des Denkbaren erschien. Auch wenn ich es selbst nicht erlebt hatte: Es war damals in manchen Familien noch eine gängige Erziehungsmethode, Kinder, die nicht gehorchten, in den dunklen Keller zu sperren. Und alte Frauen beschimpften in der Straßenbahn Mütter von lauten Kindern mit dem Satz: „Also wenn das meines wäre, würde ich es einsperren.(Kampusch, S. 89).

Kampusch sieht die Rezeption des an ihr begangenen Verbrechens in einem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang:

Diese Gesellschaft braucht Täter wie Wolfgang Priklopil, um dem Bösen, das in ihr wohnt, ein Gesicht zu geben und es von sich selbst abzuspalten. Sie benötigt die Bilder von Kellerverliesen, um nicht auf die vielen Wohnungen und Vorgärten sehen zu müssen, in denen die Gewalt ihr spießiges, bürgerliches Antlitz zeigt. Sie benutzt die Opfer spektakulärer Fälle wie mich, um sich der Verantwortung für die vielen namenlosen Opfer der alltäglichen Verbrechen zu entledigen, denen man nicht hilft – selbst wenn sie um Hilfe bitten.

Gar nicht zufällig ist daher ihr Engagement gegen Rassismus. Diese in den Ohren der FAZ sicherlich enervierend sirrende Kritik geht weiter in ihrer verächtlichen Denunziation Strasshofs als „gesichtsloser Ort ohne Geschichte. […] Am Wochenende surren die Rasenmäher, die Autos werden poliert, und die gute Stube bleibt hinter zugezogenen Stores und Jalousien im Halbdunkel versteckt. Hier zählt die Fassade, nicht der Blick dahinter. Ein perfekter Ort, um ein Doppelleben zu führen. Ein perfekter Ort für ein Verbrechen.“ (Kampusch, S. 154)

Es ist die faschistoide Struktur Deutschlands und seines Seelenverwandten Österreichs, das einen in der Beschreibung des Täters wie der Umgebung Kampuschs immer wieder anspringt.

Das Wohnzimmer schien mir wie die perfekte Spiegelung der „anderen“ Seite des Täters. Spießig und angepasst an der Oberfläche, die dunkle Ebene darunter nur dürftig überdeckend. (Kampusch, S. 156)

Lediglich die Frankfurter Rundschau erwähnt beiläufig, dass man „nebenher“ erfahre, Priklopil sei ein „Anhänger Hitlers und Haiders“. Kein Wort zuviel lässt die Presse zu, es scheint, als wäre die sich an vielen weiteren Stellen aufdrängende Verwandtschaft zwischen dem an Kampusch begangenen Verbrechen und der  nationalsozialistischen Gesinnung Priklopils der deutsch-österreichischen Gesellschaft zu peinlich, um sie zumindest für ebenso bemerkenswert zu finden wie Kampusch:

Eines der Bücher im Regal im Wohnzimmer, auf das der Täter besonderen Wert legte, war „Mein Kampf“ von Adolf Hitler. Er sprach oft und mit Bewunderung von Hitler und meinte: „Der hatte recht mit der Judenvergasung.“ Sein politisches Idol der Gegenwart war Jörg Haider […]. Priklopil zog gerne über Ausländer vom Leder, die er im Slang der Donaustadt „Tschibesen“ nannte – ein Wort, das mir von den rassistischen Tiraden der Kunden in den Geschäften meiner Mutter vertraut war. Als am 11. September 2001 die Flugzeuge in das World Trade Center flogen, freute er sich diebisch: Er sah „die amerikanische Ostküste“ und „das Weltjudentum“ getroffen. Auch wenn ich ihm die nationalsozialistische Einstellung nie ganz abnahm – sie wirkte aufgesetzt, wie nachgeplapperte Parolen -, gab es etwas, das er ganz tief verinnerlicht hatte. […] Er fühlte sich als Herrenmensch. Ich war der Mensch zweiter Klasse.(Kampusch, S. 167)

Ihre Analyse des Täters baut auf dieser Voraussetzung auf. Erst im folgenden Kapitel erwähnt sie seine überfürsorgliche Mutter, (Kampusch 178f) die Priklopil offensichtlich in seiner Misogynie kontrollieren wollte, indem er ein Mädchen einkerkerte und folterte, sich selbst in einer versorgenden Mutterrolle gefiel und zugleich bereits dem Mädchen Aufgaben zuwies, die wohl ansonsten seiner Mutter vorbehalten waren. Priklopil hatte offenen Größenwahn und die dem beigesellte Paranoia: Er fürchtete Abhörgeräte und hielt sich für einen ägyptischen Gott, wollte Maestro oder Gebieter genannt werden, was ihm Kampusch verweigerte. Dieser Einbruch der feudalistischen Herrschaft in das bürgerliche Abhängigkeitsverhältnis von weiblicher Reproduktion und männlicher Repräsentation ist kein zufälliger, sondern eine Steigerung, an deren grotesker, pathologischer Drastik sich viel über die vielen „normalen“ Formen häuslicher und männlicher Gewalt ablesen lässt.

Kampusch ist mit ihrer Autobiographie ein philosophisches Werk gelungen, dessen gesellschaftskritische Tiefe den dunklen Abgrund der bürgerlichen Gesellschaft auszuloten vermag.

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Nachsatz:

Ein früherer Artikel, den ich schrieb, trug den Titel „Natascha“ – heute weiß ich, dass Natascha Kampusch es zutiefst verabscheute, wenn sie in der Presse trotz ihrer Volljährigkeit als Kind wahrgenommen und bezeichnet wurde.  Ich entschuldige mich für den Titel. Vom Inhalt des Artikels ist wenig veraltet.

Quellen:

Kampusch, Natascha: „3096 Tage“. Berlin, List Verlag. 284 Seiten. 19,95 Euro.

http://www.natascha-kampusch.at/

FAZ: „3096 Tage im Kerker: Natascha Kampusch veröffentlicht Biographie.“

Faz.net: „Heile Welt, ist doch nichts passiert.“

Zeit: „Natascha Kampusch: Übersehene Qualen.“

FR: „Ich bleib‘ zum Trotz ich.“

Taz: „Eine ungleiche Zweierbeziehung.“