Die Deckerinnerung RAF – Wie man am Mord an Walter Lübcke das Fortleben des Naziterrorismus zu verdrängen sucht.



„Der Mordfall Lübcke erinnert an die RAF“ titelt die Leipziger Volkszeitung.
Der Untertitel:“ Sollte sich bewahrheiten, dass der Regierungspräsident von Kassel von einem Rechtsextremisten erschossen worden ist, hätten wir eine neue Lage. Es wäre ein kaltblütiger rechtsextremistischer Terrorakt.“

Das könnte man noch auf die Titelei schieben, aber auch der Text schließt nach einer Erinnerung an den NSU wieder mit der Klammer RAF:
„Eine Kugel auf einen wehrlosen Mann in dessen eigenem Haus – das erinnert an die Rote Armee Fraktion und dürfte auch die vom Bundesinnenministerium geführten Sicherheitsbehörden in einen anderen Aggregatzustand versetzen. Wenn sich der schreckliche Verdacht erhärtet. “

Falsch ist daran alles. Zunächst die Behauptung einer „neuen Lage“.
Bis 1990 wurden bei Pogromen und Bombenanschlägen mindestens 43 Menschen plus eine hohe Dunkelziffer durch Nazis getötet. Seit 1990 kamen laut Zeit-Online und Tagesspiegel 169, laut Antonio-Amadeu-Stiftung 188 plus 12 Verdachtsfälle (Antonio-Amadeu-Stiftung) hinzu. (Wikipedia)
Daniel Köhler kommt seit 1971 auf 12 Entführungen, 174 bewaffnete Überfälle, 123 Sprengstoffanschläge, 2.173 Brandanschläge und 229 Morde mit rechtsextremen Motiven in Deutschland. (Deutschlandfunk)
Die Opfer der Attentate fallen in drei Gruppen: Wehrlose Individuen aus Minderheiten (Ausländer, Juden, Homosexuelle und Obdachlose), in Ungnade gefallene andere Nazis (Aussteiger, Homosexuelle) und zufällige Passanten.

Falsch ist deshalb auch, dass der Mord an Lübcke, einem politisch insgesamt unbedeutenden Regierungspräsidenten des Regierungspräsidiums Kassel, an die RAF erinnern würde.
Die RAF hatte maximal 33 Personen ermordet oder getötet, einige der darin enthaltenen Attentate bleiben ungeklärt. Ihre Opfer sind US-Soldaten, Polizisten (insb. bei Festnahmeversuchen), Fahrer und andere Unbeteiligte, Großunternehmer, Altnazis. Mehrheitlich wurden Menschen getötet oder ermordet, die selbst eine Waffe trugen oder zur Elite gehörten.

Lübcke zog sich allein Hass von Rechts zu mit seiner Rede zur Eröffnung einer Erstaufnahmeunterkunft, in der er die Pflicht zur Hilfe verteidigte:
„Wer diese Werte nicht vertritt, kann dieses Land jederzeit verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“

Natürlich meinte er damit nicht seine Parteigenossen aus CDU/CSU, die dafür sorgten, dass nicht Deutsche, sondern Geflüchtete aus Afghanistan das Land verließen und zahllose Geflüchtete aus Nigeria, Mali, Burkina Faso, Eritrea, Sudan, Syrien, Irak und der zentralafrikanischen Republik Deutschland gar nicht erreichen konnten. Es reichte aber für einen Shitstorm von Nazis, die mit der Möglichkeit des Kosmopolitismus als Privileg eines deutschen Passes konfrontiert wurden.

Was die bisherigen Spuren offenbar nahe legen, ist das Fortleben von rechtsterroristischer Aktivität. Das ist auch kein Wunder, da Nazis ihrer Definition nach auf Terrorismus abzielen. Und da selbst der NSU für seine Morde belohnt wurde, weil die rechtsextremen Parteien europaweit auf dem Vormarsch sind, weil ihre politische Forderung nach der Abschottung Europas längst durch die Mehrheitsparteien umgesetzt wurde, verwundert es nicht, dass andere Nazis der Strategie des NSU folgen, der bereits selbst nur die Strategie von anderen Nazis verfolgte.

Ihre Erfolgschancen konnten Nazis stets am Jargon der Presse ablesen. Ein Beispiel: die Umbenennung einer Studie über den Extremismus der Mitte in „Asylstudie“ durch die Springer-Medien.
„Gabriel kritisiert Asyl-Studie von SPD-naher Stiftung sehr deutlich.“ (Welt)
„ZDF-Kleber entlarvt Asyl-Studie.“ (Bild)
Und natürlich greift die Junge Freiheit die Steilvorlage auf:
„Gabriel attackiert Asyl-Studie von SPD-naher Stiftung.“ (Junge Freiheit)

Das Negative, der Extremismus der Mitte, wurde durch eine Plombe ersetzt: Asyl. Eine Täter-Opfer-Umkehr in Reinform. All das Negative der Bereitschaft zum Tätertum in der Mitte, das die Studie kritisch offenlegt, heftet sich nun an das Positive und Angegriffene, nämlich Asyl. Deutsche CDU/CSU-Politik seit 1990 zielte darauf ab, das Recht auf Asyl zu vernichten. Diese stete Steigbügelhalterpolitik für die Neonazis auf der Straße ist wesentlich daran schuld, dass Nazis, die vorerst wahrscheinlichsten Täter im Mordfall Lübcke, das als Motivation nahmen, jemanden, der selbst als CDU-Mann noch das Recht auf Asyl verteidigte, zu vernichten. Sie können aller historischer Erfahrung nach erwarten, dafür belohnt zu werden. Vorerst damit, dass über die RAF anstatt über den NSU gesprochen wird. In eben der gleichen Manier hat die CDU/CSU selbst stets den Linksextremismus als Gegner überzeichnet, um darüber den Nazismus zu verniedlichen und zu vergessen. Dieser Vorgang hängt mit der Tat wesentlich zusammen und der Mörder kann sich darauf verlassen, dass sich daran nichts ändern wird, sondern dass stattdessen Angst die letzten kläglichen Reste von moralischem Empfinden und christlicher Ethik in der CDU/CSU abtöten wird. Die Springerpresse wird derweil den Mord an Lübcke aller historischen Erfahrung nach als „Asyl-Mord“ bezeichnen.


Der Baader-Meinhof-Komplex – Dokutainment und Halbbildung

Der Aufstieg der RAF zum großen Filmevent ließ über dreißig Jahre auf sich warten. Ein solcher „cultural lag“, die Nachträglichkeit des Überbaus, wie ihn Adorno in einer Antizipation von Bordieus „Trägheit des Habitus“ definierte, ist typisch für gesellschaftliche Rituale, an denen neben der Filmproduktion der Wissenschaftsbetrieb im Besonderen teilhat. Geschichtliche Ereignisse erscheinen aus der Distanz rund erklärbar, können leichter rationalisiert werden und fügen sich als abgeschlossene Großversuche in die Schubladen von Positivisten ein.

Weil die Wahrheit der Ereignisse immer unnahbarer sich verbirgt, wird das Geschehen zur willkommenen Projektionsfläche. Und die Projektoren wummern in der Regel im Kino am lautesten. Die grenzdebile Lehrerschar kann diesmal anders als beim „Untergang“ aufgrund des vielen Blutes nicht wirklich nach der Einführung des „Baader-Meinhof-Komplexes“ als Unterrichtsstoff rufen. Dem sperrt sich auch der durchaus ernstzunehmende Ansatz des Filmes, Widersprüche eher aufzubewahren als sie zur Synthese zu zwängen.

Der Hooliganismus der RAF entsprang schließlich nicht einigen gestörten Individualpsychen, sondern tatsächlich an den Verwerfungslinien ideologischer Kontinentalplatten und gesellschaftlicher Umbrüche. Die Aggression gegen die Studenten, sowohl von Seiten der Jubelperser als auch der der diese unterstützenden Polizei, trug eindeutig faschistische Schriftzüge. Der Polizeistaat Deutschland war durch und durch mit jenen Elementen durchsetzt, deren Weiterleben mit der Demokratie Adorno als tendenziell gefährlicher als die offen antidemokratischen Bewegungen bezeichnete. Die brüchige Intransingenz und Gewaltbereitschaft, die später die RAF prägten, war auf Seiten der Gegner schon traditionell fest gefügtes Element politischer Gesinnung. Wer meint, gegen die RAF mit ihren historischen Gegnern sympathisieren zu müssen, erhebt den deutschen Nachkriegsstaat zum Ideal. Der Konflikt zwischen nazistischer Kontinuität und seinen autoritären Bewältigungsversuchen zwischen totschweigen und totschießen lebt fort – und daraus erklärt sich die Provokation und das gewaltige Medienecho des Bader-Meinhof-Komplexes. Das deutsche Menetekel ist der bewaffnete Widerstand. Dieser blieb aus, wo er am nötigsten war. Die RAF ist immer noch ein Finger in dieser auch ihr eigenen Wunde.

Die RAF war nicht nur eine Terrorgruppe, ein pöbelnder Lautsprecher des modernen Antisemitismus. Die Stärke der RAF war die Schwäche der bürgerlichen Gesellschaft. Die Terrorgruppe ging unter – die Krise der bürgerlichen Gesellschaft besteht fort und damit die Frage nach Bedingungen und Voraussetzungen für gewaltsamen Widerstand, die von der RAF stets schon beantwortet war, bevor man sie gegen sie zu stellen wagte. Dem Problem des Antisemitismus stellt sich der Film allerdings nicht. So steht das Plädoyer Ensslins gegen Zionismus und Faschismus gänzlich unwidersprochen im Raum. Horst Herold sinniert über die Landfrage der Palästinenser in der Absicht, dem Wahn eine merkwürdige Realität abzugraben. Und die Palästinenser wiederum werden zwar in ihrer sexuellen Prüderie verspottet, ihr Antisemitismus steht aber kaum zur Debatte. Bruno Ganz hängt zudem die Hitler-Rolle nach. Für die als versöhnende Vermittlung gedachte Figur des Herold hätte man sich vielleicht einen Charakter gewünscht, dessen Gesicht nicht sofort mit „Führerbunker“ verknüpft wird.