Eine Studie über angebliche Intoleranz der Linken mit dem reißerischen Titel „Is Free Speech in Danger on University Campus? Some Preliminary Evidence from a Most Likely Case“ hat es über einen FAZ-Artikel und ein share der Professorin Dr. Susanne Schröter in den Diskurs geschafft. Das Fazit gibt eine eindeutige Richtung vor, die exakt in das Interesse der neuen Rechten an Diskursverschiebungen und Täter-Opfer-Umkehr passt.
„Linksgerichtete Studierende sind weniger bereit, umstrittene Standpunkte zu Themen wie Gender, Einwanderung oder sexuelle und ethnische Minderheiten zu tolerieren. Studierende rechts der Mitte neigen eher dazu, sich selbst zu zensieren.“
Die Buzzwords „Toleranz“ und „Selbstzensur“ machen aus rechtsradikalen Studierenden sensible Opfer, die sich introvertiert zurückhalten, wo sie doch nur gern ihre Meinung sagen würden. Was aber wurde abgefragt? Ob eine Person an der Universität lehren dürfe, wenn sie die folgenden Spezifika aufweise:
“A person who is against all forms of immigration to this country”
Soll jemand, der gegen alle Formen der Einwanderung in dieses Land ist, an Universitäten lehren? Eine Haltung, die man ohne zu Zögern den gehärtetsten und isolationistischsten Neonazis zuschlagen darf, wird zur Messlatte von Toleranz gemacht. Wer Nazis nicht toleriert ist selber Nazi – auf diesem Niveau bewegt sich Wissenschaft, die dafür tatsächlich Aufmerksamkeit erhält. Leider nicht weil sie so unterirdisch schlecht und eindeutig tendenziös designed wurde, sondern weil ihr angebliches Ergebnis so gut ins Bild der neuen Rechten passt. Dabei ist das Ergebnis wirklich bedrückend: 69% einer angeblich vorwiegend linken Studierendenschaft fände es richtig, wenn Neonazis in diesem Sinne an Universitäten vortragen dürfen und 23% fänden es in Ordnung, wenn so eine Person sogar dauerhaft lehren darf. Und immer noch ganze 44% wären gelassen im Umgang mit Referent*innen, die Homosexualität für „Sünde“ halten.
Die Studie ist sich ihres gar nicht mehr als „bias“ zu fassenden Fehldesigns völlig bewusst und unterstreicht daher noch einmal ihre ausschließlich normative Absicht:
„Third, it is important to understand that we are not saying that extreme right-wing views are illegitimately shut down on university campus. Although the acceptance of extremist views on university campus is an important debate in itself, we are concerned with the silencing of legitimate political views that simply deviate from leftist orthodoxy on issues such as gender, immigration, and sexual or ethnic minorities. It is students who place themselves right-of-center, who identify as conservative, classical liberal, libertarian, or who vote for parties such as the CDU or FDP who are reluctant to speak openly about these political issues.“
Einer der beiden Studienautoren macht diesen Standpunkt auf Twitter noch einmal deutlich:
Hier wird eindeutig festgelegt, dass es NICHT eine rechtsextreme Einstellung ist, gegen alle Formen der Einwanderung zu sein, sondern nur eine „moderate“, „deviante Position“, die von der „“linken Orthodoxie“ abweiche.
Die konkreten Fragen interessieren die Studie nicht: wieso eine progressive und liberale Bewegung in den USA und Großbritannien, die von essentieller Bedeutung für die Überwindung des Rassismus wäre, so vollständig an den Antisemitismus gegen Israel gefallen ist und warum sich relativ viele Linke mit einer Religionskritik des Islam so schwer tun. Darunter leiden aber in der Regel nicht rechte Sprecherinnen und Sprecher, sondern Linke und Liberale, die sich nicht auf Seilschaften in Burschenschaften oder rechte Thinktanks zurückziehen können.
Tatsächlich sollte man die Frage weitertreiben: Wie kann jemand (1, 2), der derart schlechte und tendenziöse Studien für einen berechenbaren Zweck entwirft und publiziert, im akademischen Betrieb erfolgreich sein? Die Studie gibt daher ungewollt Auskunft über den Zustand von Universitäten und sogenannter quantitativer Forschung heute.
Man stelle sich einen Film über 11-jährige Jungen vor, die heimlich rauchen, Pornos auf dem Handy schauen und „voll eklig“ finden, sich in Männerrollen üben, erste Muskeln heranzüchten, gegenseitig in Laserdromes beschießen und für die Aufmerksamkeit von Mädchen zu Klassenkaspern werden. Es wäre vermutlich kein Skandalfilm. Flösse die eine oder andere Träne oder entdeckte einer der Jungen schüchtern seine aufkeimenden homosexuellen Regungen und die Onanie, würde ein solcher Film vermutlich gefeiert als Einblick in das „wiedersprüchliche Gefühlsleben“ von präpubertären Jungen.
„Mignonnes“ hingegen erregte Entrüstung und eine Form von Ekel und Abscheu, die man auch in den Verteidigungen des Films noch als Inszenierung erkennt. Die einen zeigten Netflix wegen „Kinderpornografie“ an oder werteten den Film in organisierten Onlinevotings ab. Die Regisseurin wird auf youtube und anderen Portalen regelrecht gemobbt.
Das Fazit der wohlmeinenden Kritiken hingegen ist oft nicht viel besser, wenn es im Film ausschließlich eine „schonungslose“ Kritik der „Hypersexualisierung“ junger Mädchen sieht. Eine solche reduktionistische Interpretation spricht Bände über das Rollenbild und die damit einhergehenden Zwänge, die der Sexualität präpubertärer Mädchen auferlegt werden. Der Film kritisiert Übersteigerungen und narzisstische Angebote, er leistet aber auch eine ernsthafte analytische Perspektive auf die Sexualität von Elfjährigen.
Die Geschichte ist rasch erzählt: In ihrem verzweifelten Protest gegen die zweite Heirat des tendenziell abwesenden, nur durch Geschenke präsenten Vaters in die Bigamie rebelliert Amy. Sie schließt sich einer jungen Gang von Elfjährigen an, die sich durch rebellischen Konformismus und bauchnabelfreie Mode definiert. Anerkennung suchen sie als Tänzerinnen zu erlangen. Und weil die jungen Tänzerinnen ihr Handwerk ernst nehmen, studieren sie auch Montagen weiblicher Verführungsmasken und -gesten ein, die beispielsweise Shakiras Bauchtanz oder Christina Aguileras „dirrty“ entnommen sind. Die Entdeckung der rotierenden Hüfte markiert den Schritt in die Eskalation: Twerken, Spagat und schließlich Tabledance-Elemente. Die Kamera folgt den Reizimpulsen beharrlich, stellt die Körperlichkeit der Elfjährigen in bauchnabelfreien Tops und Fetischmode wie wetlook-Leggins dar. Die Kameraführung analysiert nüchtern und kühl den Effekt, wie es auch die dargestellten Elfjährigen untereinander tun.
Dieser darstellende Blick wurde als Dienst an männlichen „Prädatoren“ interpretiert und Doucouré angelastet. Darin artikuliert sich nichts als das alte Stereotyp, dass Kleidung Vergewaltigung provoziert, dass die männlichen Prädatoren Verführte seien, dass Mädchen und Frauen ständig aufpassen müssten, diese nicht zu reizen. Die ganze Last, Missbrauch zu vermeiden, wird Mädchen auferlegt, die in Büchern und Filmen beständig mit sexueller Gewalt bedroht werden, wo sie experimentieren. Doucouré zeigt auch die begehrlichen Blicke einiger Männer, aber sie denunziert darin nicht das präpubertäre Spiel mit Erwachsenenrollen. Als die Mädchen während einer Tanzshow von Frauen ausgebuht werden, ist darin weniger reifes Schutzbedürfnis zu erkennen, als vielmehr der Neid auf eine unschlagbare Konkurrenz. Dieser Neid der Mutter auf das Kind, das sexuelle Gewalt vom Vater erfährt, ist Bestandteil vieler Biografien von Opfern.
Im inszenierten Ekel vor den sexualisierten Gesten der jungen Mädchen äußert sich auch Ekel über junge Mädchen. Deren ambivalente Gefühlswelt zwischen Regression und Härte stellt Doucouré ins Zentrum.
Doucouré hat sich dem Thema im besten Sinne vorurteilsfrei und ethnologisch angenähert und hunderte Interviews mit jungen Mädchen geführt. Sie möchte mit ihrem Film Kritik leisten, sieht ihn als feministischen Beitrag an. Das ist ihr gelungen. Der Film hat für junge Mädchen eine eindeutige Botschaft: Traue dich, zu weinen und zur Mutter zu gehen, Menstruation ist keine Schande und am Ende lautet das erlösende Fazit des Films: „du musst nicht mit zur Hochzeit“, du darfst Kind sein und Seilspringen, egal wie groß du schon bist und wie rasch du wächst.
Der Film verweigert den Schritt ins stereotype Sozialdrama, das für ein junges Mädchen senegalesischer Abkunft die Rolle reserviert, zum Beispiel vor Zwangsehe und FGM in die Emanzipation zu fliehen. Doucourés Geschichte ist komplexer angelegt und kränkt dadurch westliche Sehgewohnheiten. Sie zeigt, dass Emanzipation in Widerstand gegen Tradition als auch gegen peer-group-pressure und Marktgehorsam, gegen Eltern und doch auch auf Grundlage der Erfahrungen der eigenen Mütter und Großmütter geleistet werden muss. Oder anders: dass Emanzipation auch aus der Erfahrung mit scheiternden Experimenten entsteht und stets ein unabgeschlossener Prozess ist.
Als Amy dem Cousin ihren Körper zum Tausch gegen dessen Smartphone anbietet, das ihr die Welt zu einem anderen Kollektiv außerhalb der Familienzwänge öffnet und bedeutet, stößt sie auf dessen entsetzten Widerstand, aber auch auf kopfschüttelnde Toleranz: Sie spinne ja. Ihr Körper wird verschmäht, es kommt eben nicht zur sexuellen Gewalt, wie sie die Sehgewohnheiten des westliche Kinopublikums nun erwarten, das solche kindlichen Experimente sofort mit der Vergewaltigung bestraft. Auch Männern wird Reife zugestanden. Sinnbild dessen ist der Mallam, der keine Geistbesessenheit in Amy erkennen will und den Konflikt richtig als übertragenen Mutterkonflikt analysiert. Er empfiehlt ihrer Mutter die Scheidung vom bigamen Ehemann. Nach dieser Intervention erfährt Amy schließlich Akzeptanz für ihr Psychodrama: Sie müssse nicht mit zur Hochzeit des Vaters. Sie geht auf die Straße zum Seilspringen mit anderen Kindern.
Auf symbolischer Ebene erklärt sich dieser kathartische Moment so: Ehe ist Erwachsenensache. Sie ist durch die Befreiung von der Hochzeitsfeier vom unbewussten Zwang befreit, selbst die zweite Ehefrau des Vaters zu werden und mit der Mutter zu konkurrieren. In deren Akzeptanz des Scheiterns des monogamen narzisstischen Versprechens, die einzige und schönste zu sein, endet auch für Amy der Zwang zur ständigen narzisstischen Selbstaufwertung.
Der Film ist mehr als ein individuelles Psychodrama. Er gesteht jungen Mädchen zu, einen Körper zu haben und zu spüren. Die gezeigte Preteen-Mode weckt Entrüstung – dabei sinkt das Alter der Geschlechtsreife im Westen kontinuierlich und manche Elfjährige haben mitunter einvernehmlichen Sex innerhalb ihrer Alterskohorte und damit ein Recht auf Verführungsakte. Der Film lässt Mädchen twerken. Dagegen meldet sich das viktorianische Erbe Europas mit seiner Verpflichtung zum versteiften Unterleib an. Den Spagat dürfen Mädchen schließlich nur in Gymnastikgruppen auf blauen, nach Kautschuk und Schweiß riechenden Matten erlernen und zeigen – nicht aber in Lackhosen in der Öffentlichkeit. Mit sieben im Tutu Ballett vorzutanzen ist legitim – twerken nicht. In allen Schwimmbädern werden bereits Kleinkinder durch rutschenden Bikinioberteilen gehemmt, die sie lediglich tragen, weil die Eltern sich für Brustwarzen ihrer Töchter schämen und das Kind in die Scham über seine Brustwarzen nötigen. Elfjährige in Wetlook-Leggins hingegen erzeugen einen Skandal. Auch die Angst vor pädo- und ephebosexuellen Prädatoren erzeugen Anpassungsdruck auf Mädchen, auf Opfer. Als Amy in einem Akt der verzweifelten Rebellion mit dem Smartphone des Cousins ihre Vagina fotografiert und das Foto ins Netz stellt, wird sie selbst von ihrer peer-group ausgegrenzt und im Klassenzimmer von einem Mitschüler mit einem Schlag auf den Po belästigt – sie sei ja ohnehin eine „Schlampe“. Das westliche Modell des Schutzes vor sexueller Gewalt läuft auf solches victim-blaming hinaus: Weil Gesellschaft nicht in der Lage ist, Kinder vor sexueller Gewalt zu schützen, sollen Teenager ihre Geschlechtsteile nicht online und öffentlich diskutieren, sondern beschämt verbergen. Kommuniziert wird dadurch, dass der Anblick von Vaginas Gewalt erzeuge, dass sie tatsächlich „die Scham“ sind. Ein wesentlicher Bestandteil des Feminismus aber ist, die gesellschaftliche Perspektive auf das tabuierte „Loch“, mit einem Etwas, der Vagina, zu füllen und Mädchen dadurch selbstbewusste Körperlichkeit zu geben. Es ist eben kein bedrohliches, blutendes Nichts, kein bezähnter Höllenschlund, der Penes verschlingt, sondern ein eigener Körperteil, dessen Anblick Amy trotz der erfahrenen Ausgrenzung letztlich das Selbstbewusstsein vermittelt, aus dem Anerkennungszyklus auszubrechen. Die linkischen erotischen Gesten der Präbuertierenden sind auch Suche nach Macht, Identifikation mit mächtigen Müttern und Suche nach Ersatz. Mehr noch: Sie können als Satire, als Kritik des weiblichen Charakters in Kulturindustrie, als Kritik an der Reduktion auf Kauf und Repräsentation eingesetzt werden. Die Travestie der Elfjährigen verspottet schließlich männliches Begehren und weibliche Anpassung daran.
Es ist das Verdienst der Regisseurin Maïmouna Doucouré und ihren hervorragenden Schaupielerinnen, ein Gegenmodell zum aufgeregten und ängstlichen Umgang mit bedrohlich sexuellen Mädchen zu entwerfen: Das der Mutter, die das Kind in seinen präpubertären Rollenspielen letztlich verstehen lernt, akzeptiert und liebt.
„Die vielfach als besonders realitätsnah und detailgetreu gelobte Darstellung der Ureinwohner basiert auf umfangreichen Recherchen, historischen Untersuchungen und der Zusammenarbeit mit Ethnologen.“
Dass Arte.tv im Jahr 2020 den Film „Black Robe“ von 1991 unkritisch zeigt, erlaubt einen Einblick in die Fixiertheit des öffentlichen Bewusstseins von Rassismus und christlichem Chauvinismus.
Einige weiße Priester einer Jesuitenmission in Kanada werden als Identifikationsobjekte eingeführt. Einer von ihnen, LaForgue, will mit dem jungen Adepten Daniel eine entfernte Missionsstation bei den Huronen aufsuchen. Dafür erhält er eine Eskorte an indigenen Trägern und Scouts. Diese werden von Beginn an negativ dargestellt. Die Kinder haben permanent dreckverschmierte Gesichter, die Weißen hingegen strahlen vor Sauberkeit.
Die erste Szene der gemeinsamen Reise: der Protagonist LaForgue nimmt einem Kind (später noch einmal einem Erwachsenen) milde lächelnd eine Flöte aus der Hand nimmt, nachdem es vergeblich hineinpusten durfte. Kaum geht es ans Nachtlager, legen sich die indigenen Männer ungefragt zu den befremdet dreinblickenden Weißen unter die Decke – und furzen. Nichts spricht dagegen, Menschen als Menschen zu zeigen. Im Film jedoch furzt ein einziger Mensch und dieser furzt repräsentativ für alle Menschen aus Nordamerika: Die Botschaft: die Weißen furzen nicht. Das Publikum soll hier den Ekel der Priester teilen lernen, nicht den Mythos vom edlen Wilden hinterfragen. Die homosexuelle Konnotation der Szene wird auf eine anale Betätigung reduziert und damit zusätzlich Homophobie mobilisiert.
Die Zuschauer sollen auch nicht den Tauschzwang, den die Missionare in die neue Welt brachten, kritisieren lernen: dieser wird auf die Indigenen projiziert. So reklamiert einer der Scouts den eigentlich zum Tauschen mit den Huronen vorgesehenen Tabak als Lohn fürs Paddeln und wird von LaForgue dafür angeherrscht, die „Indianer“ sollten lernen, zu planen und nicht nur in den Tag hinein leben. Das kann von einem gebildeten Publikum als Projektion gelesen werden – der Film kokettiert aber auch deutlich mit einer affirmativen Lesart, zumal die „tückischen“ Scouts intrigieren und den Priester später unehrenhaft im Stich lassen. Den begehrten Tabak, so die Botschaft, bringen die handelsbereiten Weißen den Indigenen und nicht umgekehrt. Der Tabak wird dann doch herausgerückt – und symbolisch gegen Sex getauscht. Der junge und in seinem Glauben schwankende Adept Daniel erhält den Auftrag, den Tabak an die Scouts auszuzahlen und noch bevor er das tun kann, fällt die junge Squaw und Häuptlingstochter Annuka nach drei Sätzen Dialog über den jungen Priester her und küsst ihn ab.
Gespielt wird Annuka von der Sinokanadierin Sandrine Ho in ihrer ersten großen Rolle – später wird Sandrine Ho ihren Namen in Sandrine Holt ändern, um nicht ständig für „ethnische“ Rollen gecastet zu werden. Als sie in „Rapa Nui“ und „Whale Rider“ spielte, ist das weniger dem Umstand geschuldet, dass sie „indigen“ genug aussieht für diese Rollen, als vielmehr, dass sie noch weiß genug ist, um einem weißen Publikum als „schöne Indianerin“ zu gefallen, zuallererst Kevin Costner und Kevin Reynolds, den Regisseuren, die sie in diese Filme holten.
In Black Robe spielt Sandrine Holt die Pocahontas-Rolle der schönen Kulturvermittlerin. Vermitteln muss sie aber primär in ihrer eigenen Kultur: Rassismus wird vollständig auf die indigenen Schauspieler projiziert; deren chauvinistische Urteile werden, wie das Publikum weiß, von der Geschichte blutig gestraft.
Dasselbe weiße Publikum soll sich dann wieder eifrig für seine Erfindungen von den Indigenen bestaunen lassen: Ihr Häuptling sei eine Uhr, die ihnen sage, was sie zu tun hätten, die Bücher Zauberei, Schiffe Inseln aus Holz – die Indianerliteratur ist voll mit diesem Staunen, das für die Stabilisierung der weißen narzisstischen Psyche enorme Bedeutung hat. Daher werden in „Black Robe“ auch medizinische Kenntnisse anachronistisch zurückprojiziert. Der Priester inspiziert eine Pfeilwunde und weiß er sofort: Der Pfeil darf nicht herausgezogen werden, der Häuptling würde sonst verbluten. Ausgerechnet der Weiße weiß das, der mit Pfeilen vermutlich nie zu tun hatte, der „Indianer“ jedoch weiß es nicht.
Der Puritanismus der Weißen wird durch eine freizügige Sexualität nicht in Frage gestellt wie etwa in „Dancing with Wolves“, sondern erhält ein Gegenmodell, das dem Publikum eine Art Mittelmaß anrät. Im Paradies gibt es weder Tabak noch Frauen? Die „Indianer“ wenden sich mürrisch ab. Und als Annuka einen Irokesenkrieger zum Sex vor den anderen Gefangenen verführt, um ihn dann mit einer Keule während dem Akt bewusstlos zu schlagen, soll das Publikum lernen, dass die Sexualität der „Indianer“ schon auch kontrolliert gehört.
Völlig projektiv ist der Umgang mit indigener Religion. Diese wird auf Hexenglauben reduziert – während zeitgleich, zwischen 1630 und 1660 die europäischen Hexenjagden noch einmal einen Höhepunkt erreichten. Im Film aber sind die „Indianer“ ständig auf Hexenjagd. Auf einen bloßen Traum hin soll der Priester LaForgue getötet werden. Besonders übel ist die Rolle des Schamanen. Er wird von einem Kleinwüchsigen gespielt, der sofort auf den Weißen losgeht und ihn als Dämon beschuldigt. Darin erschöpft sich seine Rolle: Ein permanent mit heruntergezogenen Mundwinkeln grimmig herumtanzender bemalter Fiesling, der ständig „Hexerei“ ruft und noch den Mann, der ihn herumträgt, mit Püffen antreibt.
Kleinwüchsige erhalten in Filmen selten nichtstereotype Rollen: Hier trifft Stereotypie der Kleinwüchsigkeit auf eine aus Comics sattsam bekannte Karikatur von Schamanen und indigenen Priestern. Diese werden klein gezeichnet, um sie in ihren magischen Drohgebärden schwach und lächerlich zu machen. Ums Lächerlichmachen geht es auch mit dieser üblen Karikatur. Als der Schamane fortfährt, den Priester als Dämon und Hexe zu titulieren, spritzt ihn der Weiße souverän lächelnd mit dem Paddel nass. Ein Lacher für ein weißes Publikum.
Natürlich braucht ein Film 1991 auch ein paar „reflexive“ Dramen: So lernt der Priester am Ende, dass er seine Religion auch „vermitteln“ muss und den „Wilden“ nicht aufzwingen darf. Eventuell ist man auch in der Prüderie zu unflexibel ausgelegt. Deutlich unterstrichen wird aber der generelle Überlegenheitsanspruch der weißen „Zivilisation“.
Der Häuptling der Irokesen tritt auf dem Höhepunkt des Films als Bösewicht schlechthin auf. Ihn interessiert an den Gefangenen nur das Gewehr und sofort geht es zur Folter: Fingerabschneiden mit Muscheln. Mit christlichen Gesängen stärken sich die Gefolterten und um sie zum Schweigen zu bringen, schneidet der Häutling vor ihren Augen einem gefangenen Kind die Kehle durch.
Kriegerische Auseinandersetzungen und Gewalt waren Bestandteil der Geschichte der Indigenen Nordamerikas – jedoch wird hier Geschichte darauf reduziert, um die weiße Kolonisierung sinngebend zu verbrämen. Der Vater Annukas zweifelt daher an seinen gewalttätigen „Brüdern“, den Irokesen, die wie alle Indigenen „keine Menschen“ seien.
Halb zum Christentum bekehrt stirbt er an einer Pfeilwunde im Schnee und zu schalem Kirchengebimmel erscheint ihm noch im Sterben eine Indianermaria. Symbolisch für alle „Indianer“ stirb er, der Häuptling, während seine Tochter aus der sexuellen Gewalt der anderen Indigenen gerettet wird. Daniel, vom Priestertum abgefallen, bleibt bei ihr, mit dem Segen LaForgues: Die Frau müsse ja versorgt werden. Als bräuchte nicht Daniel ihre Hilfe mehr als sie. Am Ende bietet der Priester Christentum nicht als Medizin, sondern als Glauben. Kaum tauft er jemanden, zeigt sich ein erlöstes Lächeln. So wird auch Daniels kulturrelativistischer Zweifel am christlichen Paradies widerrufen: Es ist eben doch das Christentum, das erlöst.
Der Film zeigt nicht Rassismus, sondern er zeigt rassistisch. Er zeigt nicht einen Austausch von und über Kultur, zwischen Individuen mit Biographien, sondern er bestätigt in seiner Eintönigkeit und in seiner Fülle von Ressentiments nichts anderes als eine weiße Kultur chauvinistischer Darstellungen indigener Gesellschaften: Ein weißer Heros tritt einem Kollektiv aus Karikaturen gegenüber, lernt dieses oder jenes dazu, behält aber im Kern recht.
Neoliberale Ideologie verkleidet sich gern als Klassenkampf von unten. So war es eine Zeitlang schick, Studiengebühren für sozial zu erklären, weil die Reichen von kostenfreier Bildung am meisten profitieren würden. Diese Ideologie abzuwehren, hat zehntausende streikende Studierende mehrere Semester gekostet.
Aktuell wollen ausgerechnet Stimmen aus SPD und von links kostenpflichtige Corona-Tests für Urlauber aus Risikogebieten. Peter Tschentscher findet es vertretbar, „wenn es die bezahlen, die ganz bewusst diese Reisen in Risikogebiete machen. Man kann auch woanders Urlaub machen.“ Lars Klingbeil sieht ein „Gerechtigkeitsproblem damit, dass man in die Risikogebiete fährt und dann auch noch den Test vom Staat bezahlt bekommt.“
Die einfache Gleichung, dass Tests eine Ausbreitung von Herden verhindern, und daher vor allen politischen Debatten von Staats wegen durchzuführen sind, ist offenbar nicht ins Bewusstsein gerückt. Hier wird ganz bewusst ein verquerer klassenkämpferischer Impuls auf eine kleine Gruppe kanalisiert, dadurch vermutlich domestiziert und dann aber auch noch in den Dienst neoliberaler Ideologie gestellt mit ihrem Mantra: Gesundheitssystem, Bildung und andere lästigen Staatsleistungen wie Sozialhilfe seien ungerecht, weil sie die einfachen arbeitenden Leute benachteiligen.
Eine einzige Frage stellt sich bei den Coronatests: Ist es eine notwendige Aufgabe des Gesundheitssystems Pandemien zu verhindern oder einzudämmen? Ja, natürlich ist sie das, Seuchenbekämpfung ist sogar die historisch vermutlich allererste Aufgabe eines Staates, und leider diskutieren wir in Deutschland im Monat acht der Pandemie noch immer über die Finanzierbarkeit von Tests!
Fordern, dass irgendeine Leistung des Gesundheitssystems privatisiert werden solle, also Rückkehrer zahlen müssten, ist zunächst einmal kein Klassenkampf, sondern die Forderung nach privatisierter Medizin. Die Reichen können zahlen – gemeint ist: der Staat soll nicht dafür zuständig sein, Gesundheitsvorsorge zu tragen.
Es mischt sich aber noch ein üblerer Ton hinein. Tatsächlich machen die meisten Besucher der Risikogebiete nicht aus purem Spaß dort Urlaub. Rückkehrere kommen derzeit vor allem aus Rumänien, Bulgarien, dem Kosovo und aus der Türkei. Sie kehren von Saisonarbeit in Deutschland zurück, besuchen sterbende oder alte Verwandte, nutzen ihren Urlaub, um den Olivenhain in Schuss zu bringen, feiern Familienfeiern, Hochzeiten, Taufen, leider auch Beschneidungen und verhalten sich aber insgesamt eher wie familiensolidarische, kosmopolitische Proletarier*innen denn als elitäre Kreuzfahrer oder Luxusurlauber, die sich Isolation leisten können. Es sind, kurzum, Albaner*innen, Roma, Türk*innen, die Diskussionen um kostenpflichtige Rückkehrertests treffen werden.
Es ist eigentlich Regierungsversagen, dass noch keine Massentests durchgeführt werden und dass tatsächlich inmitten des Wiederanschwellens der Infektionsraten erneut um Basisbanalitäten wie ordentlich ausgestattete Gesundheitsämter und die Verfügbarkeit von Tests diskutiert wird und nicht darüber, wie man Ländern in Afrika oder Südamerika helfen kann. Tunlichst gebotene Reichensteuern konnten lange genug unabhängig von Corona verhandelt werden. Dass auch diese nicht längst da sind, dass die Einkommensschere immer weiter auseinanderklafft, dass die oberen 10 % in Deutschland weiter in unglaublichem Tempo Reichtum und Macht akkumulieren, Corona hin oder her, dass bald halb Deutschland SUV fährt, während die Wälder im August schon aussehen wie im Herbst, das ist ebenfalls Ausdruck des allgemeinen Staatsversagens, das bürgerliche Ideologie letztlich im Sinn hat: Das Auseinanderdriften des wie auch immer widersprüchlichen ideellen Gesamtkapitalisten unter dem ideologischen Druck der konkreten bürgerlich egoistischen Einzelkapitalien. Das Gesundheitssystem hat diese Tendenz für die ganze Gesellschaft vorgezeigt. Privatisierung führt in konkurrierende Konzerne, die Arbeit an Subunternehmer auslagern, intensivieren, rationalisieren, Kosten vergesellschaften und Gewinne privatisieren. Wer darunter leiden wird, sind die Armen, nicht die Reichen. Staatliche Corona-Tests sind das Mindeste, was man von einem halbwegs funktionsfähigen Staat erwarten kann. Wenn ein Staat das inmitten des exorbitanten Reichtums der deutschen Gesellschaft nicht leisten kann, ist er ein failed state.
Atheist Mubarak Bala is in police-custody now for 40 days, either to punish him without trial or to protect him from muslim death-squadrons. In 2010, 51% of Nigerian muslims demanded death-penalty for blasphemy. For his atheism, Mubarak Bala was forced into a psychiatric institution and forcibly drugged in 2014. In April 2020 he was arrested after a Facebook-post and then imprisoned without charge. He was then transferred from Kaduna to Kano, which is under Sharia-law. Nigeria has to release Mubarak Bala now! Western states have to grant him instant asylum in case he feels the need to seek a secure home outside Nigeria now or in the future!
This is Mubaraks last Facebook-Post:
Bala spread real information about the Coronavirus and mocked religious reactions:
He also shared a reference to medieval muslim doctors – just to mock the law against autopsy in Kano:
There were attempts to shut down his Facebook-Account before:
While we heard instant and deep concern about the wellbeing of white anthropologists in Cameroon during the lockdown, there has been no solidarity with Mubarak Bala by German anthropologists or Africanists so far.
As a human and especially as a trained anthropologist, I do have to judge religion. Why do we study religion, if not to judge better? After reading the Q’ran for at least four times in different translations, after reading scientific literature on Islam, islamic theology and the recent expanse of the salafiyya in Africa, after studying islam I do judge islam. Among the many religions mankind has created, islam ranks among the worst ten. In solidarity with Mubarak Bala, I do judge Mohammed as the founding father of the religion of Islam. In anthropological terms he was a typical spirit medium: Suffering a personal crisis, experiencing his epiphany in a cave, meeting „an angel“, then gathering advice of „his angel“ in ways useful to his conquest. In psychological terms, Mohammed can be classified as a typical megalomaniac, starting with a deep narcissistic wound to be filled with power, manipulating followers into his sect with promises, then forcing them to stay with threats of eternal damnation and cruel punishment. His conquest started with genocidal atrocities, murder and robbery. This was his primitive accumulation, and he projected his guilt on a supposed „conspiracy of jews“ against him. Like all genocideurs he was feigning defense while attacking.
Mohammed justified his power-centered ideology with fragments of theology taken from jewry, which he then totally distorted towards his own selfish needs. There is no philosophical value left in the Q’ran. His only quality is in poetry, but it is a poetry of a numbed mind drunken with fear, addicted to consume the fear of others, of women, of heathens. The Q’ran is a message of stupidity. Any free thought is threatened with punishment both in live and after death. Liberating almost two billion muslims from this cult of death, stupidity and fear remains one of the biggest tasks enlightenment faces today. The good thing is: by relying on fear, Islam does it’s best to drive people away from religion. We just have to open our arms and embrace those people. Sadly, there is no embracing aside from a few organized humanists.
Chervel hat seinen Artikel bestechend geschrieben und ich möchte ihn zunächst an einer Stelle erweitern. Chervels besonderer Verdienst ist es, die linke Position im Historikerstreit zu hinterfragen. An Nolte mag man viel kritisieren, aber sein Impuls, das nächstliegende Vergleichsmaterial für den Holocaust in Asien zu suchen war richtig: Dschinghis Khans Ausmordungskampagnen, die Schädelpyramiden, seine Herrschaftspolitik, später die Eroberung Indiens durch Timur Lenk – wer sich damit befasst muss ein Verhältnis zum Vorgehen der Erschießungskommandos der SS-Einsatztruppen sehen. Das als „asiatisch“ zu generalisieren war rassistisch und Nolte wurde dem spezifischen Impuls des antisemitischen Hasses als kausalem Faktor nicht gerecht. Die linke Antwort darauf – „Singularität“ – war aber ebenso weit entfernt von der Ernsthaftigkeit der Kritischen Theorie, die in der Dialektik der Aufklärung den Holocaust gerade in eine Anthropologie der Gewalt einordnet, mit der pathischen Projektion und der Naturfeindschaft in Zivilisation als übergreifenden Kernelementen.
Thierrys Essay wird an anderer Stelle falsch. Er zeichnet eine flotte Diskursgeschichte der Relativierung, der Singularität, und konzediert den Mbembe-Unterstützern*innen damit noch das Recht auf eine Teilhabe an einem Opferdiskurs, wie verfremdet auch immer.
Es geht aber nun einmal beim Vergleich von Israel mit Apartheid und Holocaust nicht um die Dimensionen, sondern um Verkehrung. Es ist bösartige Täter-Opfer-Umkehr, und nicht Relativierung. Man muss es einfach immer wieder erklären: Mbembe ist ein Antisemit nicht weil er relativiert, sondern weil er aus Opfer Täter und aus Tätern Opfer macht. Die Sklaverei mit ihren zahllosen genozidalen Massakern, die Apartheid mit ihrem Herrenmenschentum, die stehen in irgendeiner Verwandtschaft mit dem Holocaust. Israel nicht und an keiner Stelle. Dafür seine Gegner, die Nazis der Hamas, die Ku-Klux-Klan-Islamisten der Hisbollah, die iranischen Faschisten, von denen Mbembe nichts wissen will.
Noch einmal: Nicht Relativierung, und damit entlastende Generalisierung, sondern Täter-Opfer-Umkehr und damit aggressive Schuldprojektion ist die antisemitische Tat par excellence. Mbembe hat keine historische Schuld zu generalisieren, er will Israel, ein schwaches und verwundbares Opfer, verfolgen und dafür muss er Geschichte fälschen um diese Verfolgung als Verteidigung dastehen zu lassen. Das ist der Kernbestand des linken Antisemitismus, der erkannt hat, wie sehr Juden Opfer waren, der sich durch diese Schwäche unbewusst gereizt fühlt, diese weiter zu verfolgen, aber unter dem moralischen Druck der Progressivität eine irrsinnige Begründung dafür präsentieren muss: Dass nämlich Juden die eigentlichen Faschisten seien, und deshalb die Vernichtung des jüdischen Staates eigentlich Antifaschismus sei und in der Tradition anderer antifaschistischer Bewegungen stehe. Daher ist auch nichts postkolonial an Mbembes Antisemitismus.
Mbembe versteckt in seiner antisemitischen Verkehrung eine rassistische. Er opfert dem Antisemitismus den Antikolonialismus mit seinem berechtigtem Beharren darauf, den Kolonisierten eine Geschichte zurück zu geben, Geschichte aus ihrer Perspektive zu schreiben. In seinem Antisemitismus betätigt sich Mbembe rassistisch. Er verharmlost die Geschichte Südafrikas nicht nur, er verkehrt sie. Aus Apartheid-Tätern werden auf einmal so etwas wie die israelischen Opfer von Terrorismus. Aus dem ANC und den antirassistischen Widerstandsgruppen wird durch Mbembes, in den Kulturwissenschaften übrigens hegemonialem Vergleich, so etwas wie die Hamas und die Fatah und dadurch fälscht er in kolonialer Manier die Geschichte der schwarzen Befreiungsbewegung auf dem afrikanischen Kontinent. Für den antisemitischen Impuls, Juden um jeden Preis zu verfolgen, opfern die daran beteiligten Kulturwissenschaften jegliche Integrität und damit stellen sie sich außerhalb eines jeden vernünftigen Diskurses um Relationen und Dimensionen und Faktoren.
Im Deutschen entstanden zwei große Begriffe zur Verschleierung der Ausbeutung. Der erste ist die Verkehrung der Bedeutung von „Arbeitnehmer“ und „Arbeitgeber“. Der Ausgebeutete wird als „Nehmer“ verhöhnt.
Ein zweiter Begriff beruht auf einem Euphemismus: Die „Hilfe“. Bürgerliche Ideologie hat ein sehr spezielles Verhältnis zur Hilfe: Unternehmer*innen und andere Bourgeois imaginieren sich permanent als wohlwollende Patrone, die Arbeit „vergeben“ und durch ihre Fabriken „Gutes tun“ für die Ortschaften, die sie ausbeuten. Unternehmertum lebt von der Inszenierung solcher mafiöser Vateridentitäten, weil sie das schlechte Gewissen unterdrückt.
Für diese „Hilfe“ erwartet die Bourgeoisie freilich Gegenleistungen: willentliche und freudige nackte Ausbeutung für das Fortlaufen des Betriebes. Diese Ausbeutung nennt bürgerliche Ideologie dann ebenfalls „Hilfe“ und wo sie sie nicht erhält, verlegt sie sich aufs Betteln.
Erntezeiten in der Landwirtschaft sind von einer ganz spezifischen Urgenz geprägt: Ernte muss in einem kleinen Zeitfenster, manchmal binnen weniger Tage oder Stunden eingeholt werden. Das wohl bekannteste aller Volkslieder, der Kanon „Hejo, spann den Wagen an“ atmet diesen Druck der Regenwolken am Himmel, das Arbeiten unter der Angst, dass eine kurze Rast die Früchte eines ganzen Jahres harter Arbeit zerstören können.
In kleinbäuerlichen Betrieben war daher tatsächlich die gegenseitige Hilfe beim Ernten häufig: wer Arbeitskraft entbehren konnte, maximierte sein soziales Kapital. Wer viele Kinder hatte, konnte sie nun in Profit umsetzen. Nur, wer die Spitzenlasten der Ernte bedienen konnte, durfte auf Expansion hoffen.
Der Fron für einen Fürsten oder Großbauern allerdings war von Beginn an von oben organisierte Ausbeutung. Leibeigene und Sklaven wurden zu Erntearbeiten eingesetzt und entlang der Klimazonen und reifen Früchte auch verschickt, um sie so lang als möglich im profitablen Bereich zu halten. Mit der fortschreitenden Zentralisierung und Organisation von Landwirtschaft für die großen Städte entstanden Truppen doppelt freier Lohnarbeiter, sogenannter „harvest-gangs“. Karl Marx und Friedrich Engels beschrieben die hierarchische Struktur, die Ausbeutung insbesondere der Frauen und Kinder in diesen Gangs, vor allem aber die generelle Ausbeutung durch die Betriebe. Im zweiten Weltkrieg griffen die Nazis auf die alte Praxis der Sklaverei zurück: Sie setzten osteuropäische Kriegsgefangene für die Ernte ein. Fast jeder landwirtschaftliche Betrieb wurde durch Zwangsarbeit gefördert.
Mit dem Begriff der „Erntehelfer“ für osteuropäische Arbeiter*innen wird in Deutschland nachträglich dieses Gewaltverhältnis kaschiert. Hilfe wird freiwillig geleistet und unentgeltlich. Mit dem fehlenden Entgelt hat die deutsche Landwirtschaft nach wie vor keine Probleme, die „Freiwilligkeit“ stellt ihr nach dem Untergang des Faschismus wieder der Markt in alter Tradition her.
Durch den Einsatz von Maschinerie gelang es, das Image der Erntehilfe als „Maschinenringe“ aufzubessern: Gigantische Mähdrescher ziehen durch die USA, immer an der Front der Klimazonen.
An der schmutzigen Ausbeutung in Gemüse und Obstbau änderten solche Megamaschinen nichts. Tomatensklaverei wird weithin schulterzuckend akzeptiert. Im Spargelbau hingegen überraschte die geringe Bezahlung für ein nicht einmal sehr wohlschmeckendes Luxusgut dann doch größere Bevölkerungsteile. Ihr edler Spargel das Produkt von Lohndrückerei? Spargel war einst das erste frische Gemüse, das nach einem langen Winter mit Eingemachten wieder zur Verfügung stand. Er war von Beginn an ein Vergnügen der Aristokratie – anders als Lachs, Hummer oder Edelkrebs, die früher Armenspeise waren, Spargel ist bis heute dekadenter Luxus. Die besten Böden, sowohl sandig als auch nährstoffreich, eben und wärmebegünstigt, werden zusätzlich mit Wärme, Folien und aller verfügbarer Technik aufgerüstet, um ein Produkt ohne Kalorien und Geschmack zu erzeugen. Diese Investition muss hereingeholt werden durch den massiven Einsatz von harvest-gangs, deren Arbeitskraft möglichst gering entlohnt wird. Soweit sind sich Investor, Verwalter und Kunde einig.
Mit Corona gerieten Saisonfruchtanbieter unter Druck: Nicht die Organisation der Werktätigen, sondern eine Krankheit verhinderte den möglichst rücksichtslosen Einsatz mobiler Arbeitstruppen. Daher rekurrierte die Spargelindustrie früh auf den Begriff „Hilfe“. Arme Bauern, die Hilfe brauchen – Studierende fielen auf diese Maskerade herein und meldeten sich freiwillig zur Selbstausbeutung an.
Sie sollten nicht lange gebraucht werden: der politische Druck ermöglichte bald wieder den Einsatz von osteuropäischen harvest-gangs, die man anders als Studierende so übel behandeln konnte, wie deren materielle Not es erlaubte. Der Entzug von Pässen, das völlig überzogene Berechnen von Unterkunft und Nahrung waren bekannte und nun umso drastischer angewandte Mittel, um die Mehrkosten durch die angeblich „strengen“ Sicherheitsmaßnahmen zu kompensieren.
Gegen die Krankheit, die angeblich die Betriebe in „Nöte“ brachte, hatte man aber in Wirklichkeit auf einmal nichts mehr. Bedenkenlos erzeugte man Situationen in denen sich hunderte von Arbeitenden anstecken mussten, für Löhne weit unter deutschem Mindestlohn. Dieselbe Krankheit, die den Einsatz von Erntearbeitenden zu Beginn verhinderte, griff nun unter den Erntearbeitenden um sich.
Die Fleischindustrie war der Komplize dieser Strategie. Anders als im Gemüsebau gibt es hier geringere saisonale Schwankungen. Weihnachtsgänse gibt es im Dezember, ansonsten folgt aber auf den Braten an Weihnachten das tägliche Fleisch auf dem Teller, mit immer raffinierterem Luxus für die Wochenenden, Sonntage, Ostern, Grillsaison: Dry aged beef, Wagyu-Burger, Tomahawk-Steaks – Fleisch ist omnipräsent und alles andere zur Beilage geschrumpft.
Natürlich legt die Fleischindustrie die Kosten für den billigen Luxus auf Natur und Mensch um. 70% Artenschwund in der Fläche bei Insekten und vielen anderen Tieren und Pflanzen konnte sie sich ungehindert erlauben. Erst als die Gülleflut dauerhaft an die Wasserwerte ging, schritt die Politik auf Druck der EU zaghaft ein.
In den Schlachthöfen hatte die Industrie dennoch den gleichen Druck wie die Spargelbauern. Ein Schwein, das sein Schlachtgewicht erreicht hat, frisst seinen immer stärker schrumpfenden Profit wieder auf, wenn es weiter gefüttert werden muss. Also muss geschlachtet werden. Die Arbeiter wurden wie im Spargelbau systematisch den Gefahren ausgesetzt, die die Industrie eigentlich als Krisenfaktor beklagte. Fleischfabriken wurden zu neuen Hotspots für die Ausbreitung von Covid-19.
Dass diese Betriebe in Gemüse- und Fleischindustrie ihre eigenen, angeblich so wichtigen „Helfer“ schonungslos der Ansteckung aussetzen, und somit ihre Krisen selbst erzeugen, hat seine Logik in der Echtzeit des Kapitalismus. Es interessiert einen Betrieb im Kapitalismus nicht, ob er in drei Jahren oder auch nur drei Monaten noch gut dasteht, wenn er in dieser Zeit Profite einfahren und die Konkurrenz zermatschen kann. Er schert sich nicht um seine Arbeitenden, weil er weiß, dass sich mit etwas politischer Manipulation und Krokodilstränen um den Standort weitere, unendliche Ströme von Arbeitswilligen anzapfen lassen, deren Freiwilligkeit und Fügsamkeit der Markt durchsetzt.
Daher ist der erste ideologiekritische Schritt, die notorische Klage der ausbeutenden Betriebe in ihrem Zynismus und Skrupellosigkeit zu entlarven und sich mit den Arbeitenden bedingungslos solidarisch zu zeigen. Der Spargelkult und der Fleischkult, beide werden durch die Agrarlobbies kulturell hochgejazzt zu einem Grundbedürfnis, das die gewaltigen Opfer von Natur und Mensch rechtfertige. Die Wahrheit ist: Niemand braucht diesen Spargel und niemand braucht täglich Fleisch aus Massentierhaltung und Megaschlachtereien. Auch nicht die rumänischen Arbeitenden, die durch die Agrarpolitik der EU von ihren kleinen Selbstversorgerhöfen gepresst und in die harvest-gangs hineinmanipuliert werden. Ihnen „hilft“ man im Moment am besten, indem man weder Spargel noch Fleisch aus den Fleischfabriken kauft, in denen Arbeitende rücksichtslos der Massenansteckung mit dem Coronavirus ausgesetzt wurden, während die Bourgeoisie Videos über Langeweile und den Kaffeedurst beim Home-Office postet und sich mit Schokolade und Spargel „belohnt“ für die „Entbehrungen“ der Krise.
Dunkelziffern, Datenmangel, keine empirische Grundlage – diese Begriffe sind verbreitete Floskeln in der öffentlichen Diskussion um Corona. Sie sind Ausdruck des herrschenden Positivismus, der Ideologie des vereinzelten Fakts. Vermitteltes Wissen, lebendige Erfahrung und logische Schlüsse, kurz gesagt die Ideale Kritischer Theorie, hingegen sind wichtiger denn je.
Dunkelziffern
Die Behauptung, es gebe gewaltige „Dunkelziffern“ bei den Corona-Erkrankungen wird vor allem verwendet, um entweder die Todesraten anzuzweifeln oder um die Maßnahmen für wirkungslos, weil zu spät, zu erklären. Dunkelziffer ist ein Begriff aus der Kriminologie. Er geht davon aus, dass Verbrechen nicht angezeigt werden. Daher wird aus Erfahrungen von Fachleuten hochgerechnet, was mögliche reale Fallzahlen sein könnten. Dunkelziffer bedeutet nicht, dass man nichts genaues nicht wissen kann und das für immer so ist, sondern dass man diese Dunkelziffer eben nicht im Dunklen belässt und nach Möglichkeit klärt, welche Schätzungen realistisch sind und wie man dennoch Prävention und Strafverfolgung auf diese näherungsweise eruierte Realität ausrichtet. Kurzum: Dunkelziffern erfordern die Extrapolation von Daten zur Erzeugung von Handlungsanweisungen in unklaren Verhältnissen und nicht Schulterzucken und Agonie.
Der Transfer des Begriffs in die Medizin ist fragwürdig, denn hier geht die „Dunkelziffer“ nicht von individuellem Schamgefühl oder juristischen Hürden oder unklarer Wahrnehmung (z.B. was ist sexueller Missbrauch) oder unmündigen Opfergruppen aus. Es ließe sich sehr leicht empirisch klären, wie groß der Durchseuchungsgrad mit dem Coronavirus aktuell ist. Dazu kann man entweder mit Blutproben Antikörpernachweise durchführen oder mit Abstrichen den Erregernachweis. Eine solche Studie dürfte je nach n wenige Tage dauern und präzise Auskunft geben. Diese Daten nicht zu haben beschreibt einen Rückstand, ein institutionelles Versagen.
Es gibt aber auch logische Hinweise auf eine relativ geringe Dunkelziffer: 1. Das Auftreten von getesteten Erkrankungen in Clustern (z.B. Hamburg, Berlin, Bergamo). Würde eine hohe Durchseuchung der Bevölkerung vorausgesetzt, wäre auch die Verbreitung von schweren Fällen breiter gestreut. Diese Streuung findet zweifellos mit einer hohen Zahl milder Verläufe statt. Aber sie ist nicht abgeschlossen. Daraus können wir Rückschlüsse über die „Dunkelziffer“ ziehen. Die sich testen ließen. 2. Das Verhältnis bei den tatsächlich getesteten Personen (aufgeteilt in symptomatisch, asymptomatisch) zwischen erkrankt und nicht erkrankt gibt Aufschluss über den Durchseuchungsgrad bei Personen mit Symptomen und Kontakten zur Risikogruppe. Sind Personen mit Symptomen relativ selten tatsächlich erkrankt, ist umso unwahrscheinlicher, dass Personen ohne Symptome relativ häufig erkrankt sind. 3. Der Anstieg der Todesrate, also das Wachstums des Wachstums. Eine hohe Durchseuchung erzeugt ein viel höheres Wachstum der Fälle und damit einen viel stärkeren Anstieg der Todesraten und wiederum eine breitere Streuung.
Wir können aus den vorliegenden öffentlichen Daten schließen, dass das Virus vorerst NOCH in Clustern verbreitet ist, dass also noch keine durchgehende Durchseuchung oder „erste Welle“ stattgefunden hat, wie das mitunter erwogen wird. Auch in Italien haben wir kaum Todesfälle im Süden, es bleibt regional beschränkt. Wir können weiter daraus schließen, dass die getroffenen Maßnahmen ein gewisses Containment innerhalb von Regionen erreichen können.
Empirische Daten
Die Behauptung, es gebe keine „empirischen Daten“ über die Wirksamkeit von bestimmten Maßnahmen ist vor allem vernunftfeindlich. Es gibt einen sehr klaren Vektoren der Infektion: Die Tröpfcheninfektion. Somit kann eine wirksame Unterbrechung der Infektionsketten nur stattfinden durch das Ausschalten der Tröpfcheninfektion. Und daher sind Maßnahmen angeraten, die 1,5 Meter Distanz erzeugen (und somit die Möglichkeit einer Tröpfcheninfektion verringern) und zusätzliche Hygiene im Bereich häufig berührter Gegenstände und Händewaschen fördern. Ebenso sind Maßnahmen wie die Isolierung hustender oder niesender Personen dringend angeraten und das Tragen eines Mundschutzes durch Personen mit leichen Symptomen in der Öffentlichkeit. Wir können auch empirische Daten extrapolieren, um Prognosen zu erstellen: Aus bestehenden Länderdatensets zu Maßnahmen und der Ausbreitung, aus dem Vergleich mit historischen Infektionsverläufen ähnlicher Erkrankungen, aus dem Vergleich mit anderen, aber ähnlich invasiven Erkrankungen, wir können Erfahrungen mit HIV-Leugnung, Pockenimpfkampagnen und Impfgegnern hinzuziehen.
Ausgangssperren
Eine Ausgangssperre unterbricht natürlich nur indirekt die Infektionskette, weil sie Personen davon abhält, diese Distanzregeln und Hygieneregeln nicht zu befolgen. Diese Maßnahme ist aus medizinischer Sicht Unsinn, weil sich das Virus nicht über die Luft überträgt und eine Infektion auch durch Distanz vermieden werden kann. Sie ist sogar kontraproduktiv, weil sie Personen von Bewegung an der frischen Luft abhält. Sie ist aber aus soziologischer Sicht eine Disziplinarmaßnahme zur Erzeugung von Compliance zur Einhaltung von sozialer Distanz. Ausgangssperren werden wegen Corona-Parties und Weinfesten diskutiert und nicht, weil das Virus durch die Luft fliegt.
Epidemiologisch sind Ausgangssperren dort begrenzt sinnvoll, wo Menschen isolierbar sind. In Slums des Trikont mit hoher Dichte von Menschen auf kleinstem Raum kann eine solche Maßnahme hingegen kontraproduktiv sein, weil die soziale Distanz im Privaten weniger gegeben ist als im Freien. Dennoch waren in Westafrika Ausgangssperren ein wichtiges Mittel gegen Ebola und sie sind bekannt aus der Medizingeschichte des subsaharischen Afrikas: als traditionelles Mittel gegen Pockenepidemien.
Überwachung
Umgekehrt verhält es sich mit den Maßnahmen der Überwachung von Handys und Kontaktgruppen. Diese sind aus virologischer und epidemiologischer Sicht sehr sinnvoll und wirksam, aus soziologischer Sicht aber katastrophale Eingriffe in elementare Werte dieser Gesellschaft.
Zwischenfazit
Es existieren genügend valide Daten, deren interdisziplinäre und vernunftmäßige Betrachtung relativ eindeutige Rückschlüsse auf den Sinn und Unsinn von Maßnahmen erlaubt. Der Mangel an medizinischen Daten gibt Auskunft darüber, was versäumt wurde und was geklärt werden muss. Der Mangel an Daten kann aber nicht als Argument herhalten, Maßnahmen generell zu sabotieren oder für unwirksam zu erklären. Jede Kritik an konkreten Maßnahmen hat sich am vollständigen Set verfügbarer Daten und Fakten zu orientieren und Alternativen zu präsentieren.
Ideologie der Verlangsamung und die Situation im Trikont
Aus kulturwissenschaftlicher Sicht ist bedenklich, wie wenig die psychologischen Auswirkungen der Vermittlung von Maßnahmen bedacht werden. Bereits zu Beginn der Epidemie in Deutschland, als es noch wenige Fälle gab, einigte sich die Elite in den Medien auf die Formel der „Verlangsamung“. Kommuniziert wird, dass eine kontrollierte Durchseuchung angestrebt wird. Es wird nicht geklärt, warum ein Stopp der Ausbreitung unmöglich sein soll und/oder was der Preis für einen Stop der Ausbreitung wäre. Auf dieser Grundlage entsprechen sich die Modelle von Großbritannien, Finnland, Niederlande und Deutschland: Kein Land hat das Ziel ausgerufen, die Epidemie zu stoppen. Das senkt die Compliance, weil eine Infektion unausweichlich erscheint. Die Ideologie der „Verlangsamung“ kaschiert aber auch Staatsversagen: Klar ist, dass entsprechende Szenarien einer Corona-Infektion durchgespielt wurden, dass es Maßnahmensets gibt und dass die Krise zu Beginn nicht ernst genommen wurde. Ebenso klar ist, dass die Verantwortung dafür bei der aktuellen Regierung liegt, die einen sehr wahrscheinlichen Fall einer globalen Coronavirusinfektion analog zu SARS oder MERS nicht adäquat vorbereitet hat und die Intrusion des Virus in die breitere Bevölkerung erlaubte. Mit der Formel „Verlangsamung“ wird dem Virus Übermacht einer Naturkatastrophe zugesprochen, um die Schwäche des Staates zu kaschieren.
Was bedeutete die Ideologie der „Verlangsamung“? Sie bedeutete die globale Ausbreitung des Virus insbesondere auf das subsaharische Afrika. Die meisten Infektionen dort kamen aus Europa. Hier existiert keinerlei Redundanz von Beatmungsgeräten. Es gibt hier keine freien Betten, keine Grenze, unter der man die Infektionsraten halten könnte. Wo medizinische Maßnahmen nicht vorliegen, bleibt die Wahl zwischen autoritärer Quarantäne mit Todesfolge für die am härtesten Betroffenen und, sehr viel wahrscheinlicher, eine rasche und gravierende Durchseuchung der Gesellschaften mit hohen Todesraten aufgrund fehlender Intensivpflege. Besonders betroffen sind hier Alte, Mangelernährte, HIV-Erkrankte. Hochgradig tödlich ist aber auch das Zusammentreffen von Corona mit Malaria, Typhus und anderen Tropenkrankheiten. Die europäischen Staaten haben hier sämtlich an sich selbst gedacht, die Folgen für die eigene Wirtschaft abgewogen und die eigenen Krankenhausbettenzahlen hochgerechnet. Internationale Verpflichtung gegenüber den Staaten im Trikont wurde nicht diskutiert und fand nicht statt. Das Ergebnis können mehrere hundert Millionen Tote sein. Die afrikanischen Gesellschaften kennen ihre Verwundbarkeit und sind dementsprechend in der „Panik“, die man in Deutschland „vermeiden“ wollte dadurch, dass man keine wirksamen Maßnahmen zu Beginn der Krise traf und technokratisch Maßnahmen dann plante, „wenn die Infektionsrate auf einem Höchststand“ ist.
Zusammenfassung:
Kurz: Man hatte in Deutschland, in Europa nie den Plan stark gemacht, die Ausbreitung zu stoppen und das Virus auszurotten. Die Gründe dafür sind unklar, deutlich ist, dass wirtschaftliche Erwägungen die größte Rolle spielten. Ideologisch befindet man sich aber auf einer Ebene mit den antiwissenschaftlichen, eugenischen Durchseuchungsplänen der Niederlande und Finnlands und sucht lediglich einen weniger schlechten Kompromiss mit der selbsterzeugten Realität. Was notwendig wäre: Eine Ethikkommission einzuberufen, die Fakten interdisziplinär zu verhandeln, der Virologie ihren Platz, aber auch nicht mehr, zuzugestehen, und einen Plan auszuarbeiten, wie das Virus auszurotten wäre. Dieser Plan hätte als zentralsten Punkt zu beinhalten, wie erwartbare Katastrophensituationen im Trikont und in Flüchtlingslagern bewältigt werden sollen, die jetzt, sofort, heute vorbereitet werden müssen. Alles andere wäre ein Bekenntnis zum dezimillionenfachen Tod durch die Ansteckung afrikanischer Staaten durch europäisches laissez-faire im Umgang mit einer Infektionskrankheit. Der nationale Egoismus, der bisherige Strategien der Beschaffung von medizinischem Material kennzeichnet, muss vollständig überwunden und in internationale Solidarität verwandelt werden. Beatmungsgeräte müssen international nach Bevölkerungszahl und Infektionsrate verteilt werden, nicht nach Einkommen.
Bekämfung: Tests, Tests und Tests
Das Ende der Corona-Krise kann nur auf zwei Wegen geschehen: 1. Die massive Ausweitung der Testkapazitäten und die möglichst häufige Testung möglichst vieler, um die Quarantänemaßnahmen präziser zu dosieren. Ein Plan zur massiven Ausweitung der Testkapazitäten wird aber öffentlich nicht kommuniziert, die Hindernisse nicht adäquat benannt. Tests sind das Rückgrat der Epidemiebekämpfung. Medial sind Tests eine sideshow. Man macht sich über Leute lustig, die sich „ohne Grund“ testen wollen, verweist auf die begrenzte Zahl von Tests, ohne öffentlich zu rechtfertigen, warum Tests Mangelware sind und warum Personen mit Symptomen nur getestet werden, wenn sie auch Kontakt zu einer getesteten Person hatten. 2. Die andere Möglichkeit zur Eindämmung des Virus ist die Impfung. Impfungen aber sind invasiv, schwerfällig, dauern als globale Kampagne Jahre, die Risiken sind unklar. Nach derzeitigem Ausbreitungsstand wird eine Impfkampagne der Durchseuchung nicht mehr zuvorkommen. Das unterstreicht zusätzlich die immense Bedeutung von Tests. Die Quarantänemaßnahmen sind nicht bis zu einer Impfung aufrechtzuerhalten. Tests liegen aber jetzt schon vor und können rascher ausgeweitet werden als Impfungen. Der Öffentlichkeit muss endlich ein Plan kommuniziert werden, mit welchen Mitteln welche Testfrequenz wann erreichbar sein wird. Dieser Plan hätte für den B-Waffen-Fall nach 9/11 oder für Epidemien nach SARS, Ebola und MERS längst erarbeitet sein müssen. Dass er Wochen nach dem Eintreten des Pandemiefalls noch nicht vorliegt, ist Staatsversagen.
Nachtrag
Herdenimmunität: Dieses Konzept taucht immer wieder auf. Herdenimmunität ist ein komplexes Phänomen mit vielen Faktoren, man beginnt bei anderen Krankheiten mit Tröpfcheninfektion mit Schätzungen von ca. 75% Immunität der Gesamtbevölkerung, um Herdenimmunität zu erreichen, realistischer sind Schätzungen ab 85% und für eine hochansteckende Krankheit wie Corona mit langer Inkubationszeit sollte man aus reiner Vorsicht eher von über 90% erforderlicher Immunität für das Erreichen von Herdenimmunität ausgehen, wenn man nicht sehr gute Gründe nennt. Daher wurde Boris Johnson auch in England von Wissenschaftlern bedrängt, seine Strategie aufzugeben, die leider in Finnland und Niederlanden noch wirksam scheint.
Indigene Gesellschaften: Völlig unverantwortlich ist, dass in den Pandemie-Szenarien bisher indigene Gesellschaften nicht vorkommen. Corona kann in isolierteren Gesellschaften z.B. im Amazonas-Tiefland viel heftigere Konsequenzen haben und genozidale Auswirkungen haben. Einige indigene Gesellschaften sind für Impfkampagnen sehr schwer zu erreichen, dadurch vor einer Ansteckung besser geschützt, aber eben auch ohne jeden Zugang zu medizinischer Hilfe im Falle einer Einschleppung der Krankheit, die heute sehr wahrscheinlich ist. Es kann auch zu genetisch bedingter Anfälligkeit bei endogamen und Inselgesellschaften kommen. Dazu fehlen schlicht die Informationen und es sind daher worst-case-Szenarien angebracht, die sich an historischen Erfahrungen orientieren.
Frieden zwischen Israel und Palästina zu schaffen ist so etwas wie das Tabletop-Rollenspiel unreifer Diplomaten. Man setzt sich für Tage in einen Keller, Cola und Chips, schwelgt in wildesten Szenarien und erfindet Fantasietruppen, deren Stärken ausgewürfelt werden, um dann irgendwann herauszukommen mit dem Gefühl, etwas Großartiges geschafft zu haben. Nun stelle man sich vor, es würden Journalist*innen tagelang vor dem Keller warten, aufgeregt berichten, ob der Drachen mit 33 Stärke und 17 Magie den Greifen mit 17 Stärke und 33 Magie schlagen konnte, ob die Figuren von den Spielenden penibelst genug lackiert wurden, und alle kommentieren das als weltpolitisches Ereignis. Manche stänkern, die Spielenden würden nur von ihren aufgeschobenen Hausarbeiten ablenken wollen, andere halten das ganze Spiel für blöd, und wieder andere sind beleidigt, dass sie nicht mitspielen durften, alle sind sich aber einig, dass das Wohl und Wehe der Menschheit davon abhängt.
Jeder derart weltfremd erstellte Friedensplan für den Konflikt um das Westjordanland oder Judäa und Samaria hatte bislang mindestens einen Fehler: Er stellte die Forderungen Israels als Expansion dar. Tatsächlich gesteht Israel jedesmal ein Abrücken von einer historischen Position zu, das beispiellos in der Geschichte von staatlichen Grenzkonflikten ist.
Am 2.8.1914, einen Tag nach Ausbruch des ersten Weltkrieges durch deutsche Kriegsschuld, beschloss das osmanische Reich mit dem Deutsch-Türkischen Bündnisvertrag eine Wette einzugehen: Wenn es den bereits begonnenen Krieg an der Seite Deutschlands gewinnen würde, hätte es weitreichende Gebietsgewinne zu erwarten. Das osmanische Reich ging während des Krieges mit genozidaler Gewalt gegen Minderheiten vor, darunter den Genozid an bis zu 1,5 Millionen Armenier*innen. Es verlor die Wette auf Land und damit das zuletzt noch von deutschen, östereich-ungarischen und osmanischen Truppen verteidigte Palästina an die Briten. 1920 sah die San-Remo-Konferenz im United Kingdom (UK) den legitimen Rechtsnachfolger für das künftige Mandatsgebiet Palästina.
Das dünn besiedelte, von Sümpfen und Wüsten geprägte Stück Land mit mehrheitlich jüdischer Bevölkerung in Jerusalem und mehreren alten jüdischen Städten und Dörfern wurde bereits am 2.11.1917 in der Balfour-Deklaration den verfolgten Juden aus aller Welt als Heimstatt versprochen. Im Gegenzug unterstützten Juden das UK im Weltkrieg.
Zionistische Emmissionäre verhandelten aber auch mit den arabischen Nachfolgern des osmanischen Reiches. Am 3.1.1919 wurde auch das Faisal-Weizmann-Abkommen geschlossen: Der König von Irak und Syrien gab darin Palästina den Juden unter der Bedingung, dass die Autonomie der arabischen Staaten gewährleistet bliebe – durch die Aufteilung seines Hoheitsgebietes zwischen dem UK und Frankreich wurde der Vertrag zunichte gemacht.
Das Völkerbundmandat für Palästina stellte hingegen eine internationale Rechtsgrundlage her. Transjordanien wurde für einen weiteren arabischen Staat vorgesehen und als Jordanien gegründet, das übrige Land auf der anderen Seite des Jordans für einen jüdischen Staat ausgeschrieben, in dem andere Minderheiten gleiche bürgerliche religiöse Rechte verbrieft sein sollten.
Das war die Rechtsgrundlage vor dem Aufflammen ständiger Angriffe arabischer Freischärler und Terrorbanden, die sich in den 1920ern massiv verstärkten bis hin zu Pogromen, z.B. den Pogromen in Hebron. Als Reaktion auf den Terror und um die eigene Macht in der arabischen Welt zu stützen schlug sich Großbritannien schrittweise auf die Seite der arabischen Extremisten und entzog dem zionistischen Projekt mit der Peel-Kommission vom 7.7.1937 den geographischen Boden: Lediglich Nordisrael um den See Genezareth solle unter jüdische Souveränität gelangen, Jerusalem unter internationaler Verwaltung bleiben, der ganze Rest Organisationsbasis arabischer Terroristen bleiben dürfen, die fast täglich Übergriffe, Sabotage, Infiltrationen und Terrorakte auf jüdische Siedlungen unternahmen.
Mit dem MacDonald-Weißbuch von 1939 schließlich gaben die Briten vollständig ihre Unterstützung einer jüdischen Heimstatt auf und verpflichteten sich vertraglich, die Einwanderung von Juden drastisch zu beschränken: Auf insgesamt 75,000 in den kommenden fünf Jahren. In diesen fünf Jahren wurden in Europa sechs Millionen Juden ermordet. Das UK verhinderte in dieser Zeit das Ablegen und Anlanden von Flüchtlingsbooten, die Juden vor dem Holocaust retten sollten. Es wurde zum Komplizen des Holocaust.
Das UK versuchte zudem nach 1945 noch für mehr als zwei Jahre die Überlebenden des Holocaust mit aller Gewalt von einer Staatsgründung abzuhalten. Jüdische Widerstandskämpfer wurden unter anderem im Gefängnis von Akko inhaftiert und gehängt. Letztlich verloren die Briten den Kolonialkrieg gegen den jüdischen Aufstand moralisch. Israel unterzeichnete nun den armseligen Teilungsbeschluss der UN – die arabische Seite jedoch nicht, weshalb dieser Teilungsplan nie in Kraft trat. Stattdessen griffen die arabischen Staaten an und verloren. Dadurch wuchs Israels Staatgebiet mit jedem Angriff arabischer Staaten um kleinere Gebiete an, andere, wie den Sinai, gab es im Zuge von Verhandlungen wieder auf.
Das Westjordanland war nie Gegenteil dieser Verhandlungen. Von Jordanien wurde es 1948 besetzt und ethnisch gesäubert: Synagogen wurden angezündet, uralte jüdische Siedlungen wie Hebron verwüstet. Jordanien hat das Westjordanland formal am 24.4.1950 annektiert und keinen Palästinenserstaat darauf errichtet. Die Annexion wurde von den arabichen Staaten als illegal betrachtet und nicht anerkannt. Als Jordanien Folgekriege gegen Israel verlor, verlor es auch die Kontrolle über das Westjordanland.
Daher ist eine völlig legitime Lesart der Folge von Verträgen und der Kriegsschuld arabischer Staaten, dass das Westjordanland dem jüdischen Staat gehört.
Und daher kann nach dieser Lesart Netanyahus Regierung Judäa und Samaria, also das Westjordanland, auch nicht annektieren sondern nur historische Ansprüche geltend machen. Die Aufgabe von weiten Teilen Judäas und Samarias ist bereits eine Aufgabe historisch verbriefter Rechte. Diese Aufgabe erfolgt aus einem einzigen Grund: Weil der Staat Israel kein Interesse an einer vollständigen Annexion haben kann, solange eine bedeutende arabische Minderheit mit erheblichem Zuspruch zu terroristischen Organisationen auf diesem Gebiet lebt.
Die angekündigte „Annexion“ findet also nur auf den Teilen statt, die mehrheitlich jüdisch bewohnt sind, also den Siedlungen auf den Hügeln. Diese Siedlungen entlasten den Wohnungsmarkt im Großraum Tel-Aviv und Jerusalem erheblich. Durch die Welle antisemitischer Gewalt in den meisten westlichen Staaten ist ein weiterer Zustrom von fliehenden Juden wahrscheinlich und findet bereits statt. Israel muss daher bewohnbares Land schaffen und in gewissem Maße bevorraten. Siedlungen sind daher kein Projekt nur für ultraradikale Fundamentalisten: Alle Juden in Israel profitieren davon, ob sie links wählen oder rechts.
Geht man noch einmal einen Schritt zurück, kommt zu Verträgen und dem Druck durch Fluchtbewegungen ein weiterer Aspekt hinzu: 1948 griffen arabische Staaten Israel an. Sie führten aber auch eine Kampagne ethnischer Säuberungen durch, Terrorkampagnen und Diskriminierungen, die in den folgenden Jahren etwa 900,000 Juden aus den arabischen Staaten vertrieb. Diese Menschen wurden in aller Regel ihres Besitzes beraubt. Die Weltorganisation der Juden aus arabischen Staaten (WOJAC) schätzt die geraubte Landfläche auf das vierfache der Staatsfläche Israels.
Aus dieser Hinsicht ist es völlig legitim, bei der Eingliederung jüdischer Siedlungen in Judäa und Samaria von einer Teilwiedergutmachung zu sprechen, die weitere Ansprüche einer Entschädigung nicht ausschließt. Natürlich haben Antizionist*innen recht, wenn sie eine weitergehende schleichende Annexion oder Diskriminierung des Westjordanlandes befürchten. Die Bewohner*innen des Westjordanlandes haben kein Interesse daran, in einem failed state neben Israel zu wohnen und viele ziehen ein Leben mit israelischen Bürgerrechten vor.
Die Autonomiebehörde hat ohnehin kein Interesse an einer komplexen Außengrenze mit Enklaven, die israelische Regierung hat ebenso kein Interesse daran, diese Grenzen aufwändig zu überwachen. Es wäre, das zeigt jeder Blick auf die Karte, von allen Seiten aus betrachtet rational, einen jüdischen Staat vom Jordan bis zum Mittelmeer zu schaffen, wie es einmal vorgesehen und völkerrechtlich verbindlich garantiert war. Einen Palästinenserstaat gibt es schließlich längst: Jordanien. Es könnte als Sitz einer Vertretung der nichtjüdischen arabischen Minderheit in Israel fungieren.
Wäre also eine Annexion des gesamten Judäa und Samaria möglich? Zunächst will Israel seine Funktion als jüdischer Staat bewahren. Wer nicht anerkennen kann, das Israel eine jüdische Bevölkerungsmehrheit braucht und ein jüdischer Staat sein muss, hat vom Existenzrecht Israels nichts verstanden. Es gäbe aber Methoden, unter Wahrung der Bürgerrechte und zivilisatorischer Standards auch in einem annektierten Westjordanland eine jüdische Mehrheit langfristig zu bewahren. Denkbar wäre ein langsamer Bevölkerungstransfer der nichtjüdischen Araber ausschließlich durch Anreize: Landverkäufe, subventioniert bevorzugt durch die in Kompensationspflicht gegenüber Israel stehenden arabischen Staaten, lukrative Auswanderungssstipendien durch die um die palästinensische Minderheit besorgte internationale Weltöffentlichkeit oder eben Aufklärung der arabischen Minderheit, Sicherung von Frauenrechten durch das israelische Gewaltmonopol und dadurch Senkung der Geburtenrate – eine Strategie die übrigens als international anerkannt für Entwicklungsländer gilt.
Das würde die jüdische Bevölkerungsmehrheit auch bei einer vollständigen Annexion Judäas und Samarias sicher stellen und dadurch langfristig dem Sicherheitsinteresse des jüdischen Staates Rechnung tragen und eine Rechtsgrundlage für im Staat verbleibende nichtjüdische Araber*innen schaffen. Eine vollständige Reintegration Judäas und Samarias in den israelischen Staat wäre für alle Seiten besser als alle Pläne, die Gebiete nach der Zugehörigkeit der Einwohner aufteilen.
Der Konflikt lässt sich lösen – wenn das Sicherheitsinteresse Israels priorisiert wird, die Kriegsschuld der arabischen Milizen und Staaten anerkannt wird und nach einem international verbrieften Aus für ein „Rückkehrrecht“ für die exilierten Araber*innen in Libanon, Syrien, Jordanien und andernorts endlich Menschenrechte durchgesetzt werden, wie sie für die nichtjüdische arabische Minderheit in Israel selbstverständlich sind.
Eine solche Lesart der Geschichte jedoch, die Konfliktgegenstände analysiert und legitime von illegitimen Ansprüchen trennt, gilt im öffentlichen Diskurs als unsagbar, ultraradikal, menschenfeindlich, nicht weil sie tatsächlich in Gewalt mündete, sondern weil der jüdische Staat beteiligt ist. Dabei werden ähnliche Teilungsprozesse, Restitutionen und Grenzkonflikte in anderen Staaten, etwa Sudan, Taiwan, Antarktis, Kaschmir in der internationalen Presse völlig emotionsfrei verhandelt. Wenn ein internationales Schiedsgericht Kaschmir morgen Indien oder Pakistan zuschlägt, wäre das in der westlichen Welt keine Demonstration wert.
Und so ist es einfach nur Antisemitismus, wenn selbst nach dem von allem Revisionismus weit entfernten Zugeständnis des nun auf den Tisch gelegten Teilungsplans alle Zeitungskommentare von einem Betrug sprechen – einem Betrug Israels an Palästinensern. Diese werden jedoch zuallererst von der Forderung nach einem „Rückkehrrecht“ und von der irrsinnigen Vorstellung eines judenreinen islamischen Palästina vom Jordan bis zum Meer um eine menschenwürdige Existenz und Rechtssicherheit betrogen. Die eigentliche Überraschung ist, dass Saudi-Arabien, Ägypten, Qatar und die V.E.R. dem Teilungsplan zustimmten, während das Gros der westlichen Presse ihn rigoros ablehnt. Das belegt, dass der cultural lag in Sachen Antisemitismus eher im Westen zu verorten ist als in den reaktionären Diktaturen der arabischen Welt.
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Nachtrag: Ich wurde gefragt, wie eine solche Umsiedelung aussehen könnte. Es gibt leider Negativbeispiele, die wurden weltweit jedoch ohne größere Proteste der internationalen Staatengemeinschaft akzeptiert:
In Nigeria, Südamerika, Indien und Asien werden zahllose Städte für mehrere Millionen Menschen geplant und gebaut. Im Zuge des Klimawandels wird sich dieser Trend verschärfen. Solche „planned cities“ sollen durch positive Anreize Menschen anlocken, was auch in aller Regel funktioniert. In China jedoch werden Bauern auch von ihrem Land vergrämt, um zu groß geplante, leer stehende Städte zu füllen und an Land zu gelangen. Eine gut geplante Millionenstadt mit Vorzugsregelungen für Palästinenser westlich des Jordans ließe sich ohne weiteres realisieren, Freizügigkeit vorausgesetzt. Saudi-Arabien plant aktuell die grenzübergreifende Stadt Neom an der jordanischen Grenze. https://en.wikipedia.org/wiki/List_of_megaprojects#Planned_cities_and_urban_renewal_projects
Ein weiterer Weg zur friedlichen Auswanderung von Palästinensern aus dem Westjordanland/Judäa und Samaria wäre die Verteilung von dauerhaften Arbeitsvisa und Staatsbürgerschaften für Kanada, USA und Europa. Auch dies ist kein unbekannter Vorgang. Entlang der Mittelmeerküste verwaisten viele Dörfer im Zuge der Arbeitsmigration nach Norden, die zunächst durch sogenannte „Gastarbeiterregelungen“ und dann durch die EU ermöglicht wurde.
Das grundsätzliche Problem bei einem friedlichen Bevölkerungstransfer ist nicht, dass dies unbekannt wäre oder international nicht toleriert würde, sondern dass besondere völkische Maßstäbe an Palästinenser angelegt werden, die zum einen der Propaganda der Fatah und der Hamas entnommen sind, zum Anderen der Realität vor Ort und dem Willen zum Weltbürgertum gerade unter Jugendlichen im Westjordanland nicht entsprechen. Diese völkischen Maßstäbe werden dann auf Juden projiziert in der Frage, warum Juden eine Majorität in Israel brauchen. Die Antwort darauf ist einfach: aus objektiv gerechtfertigtem Sicherheitsbedürfnis. Die Frage müsste lauten, warum nichtjüdische Araber eine Majorität im Westjordanland brauchen, warum die Fatah ihnen den Verkauf ihres Landes bei Todesstrafe verbieten muss. Eine Umfrage im Westjordanland könnte die statistischen Details leicht klären: Wer möchte zu welchen Bedingungen weg?
Aber heißt das schon, dass „Sex“ – also das biologische Geschlecht im Unterschied zur sozialen Geschlechterrolle „Gender“ – wirklich „real“ ist, wie viele daraus schließen? Nein. Denn erstens bedeuten diese Zahlen auch, dass in Deutschland immerhin schätzungsweise 1,4 Millionen Menschen leben, die nicht eindeutig einer der beiden Seiten zugeordnet werden können.
Der Zeit-Artikel von Antje Schrupp verbreitet den inzwischen an den Universitäten weit verbreiteten Nonsens: aus dem biologischen Intersex abzuleiten, dass biologisches „sexus“ nicht real sei. Dabei hat das biologische Geschlecht gerade für Intersex äußerste Realität, nämlich als physische Präsenz biologischer Faktoren, z.B. xxy oder x0 oder andere. Dann kommt Schrupp im Artikel dazu dass sex nicht gender sei – ist natürlich auch so, Binsenweisheit. Deshalb wehren sich auch manche Feminist*Innen dagegen, dass Kinder, die sich gern crossdressen oder nicht stereotyp verhalten in Richtung Operation gelenkt werden um sex und gender und Sexualität wieder auf Deckung zu bringen – in Iran ebenso wie in den USA. Der männliche Homosexuelle oder Transvestit wird zum Frausein gedrängt, Tomboys und weibliche Homosexuelle zum Mannsein, damit das heteronormative Weltbild intakt bleibt, nicht weil Transsexualität das authentische Triebschicksal wäre, was zugleich möglich ist.
Transvestismus und genderfluides Verhalten hat zunächst nicht unmittelbar mit biologischem sex zu tun, jedoch viel mit Kultur und noch mehr mit individuellen Triebschicksalen, die Kompromisse zwischen Wünschen und gesellschaftlich induzierten Ängsten darstellen. Die Trennung zwischen Sex und Gender ist gerade wegen des Drucks zu Vereindeutigungen so wichtig, die Letzteres aus ersterem ableiten wollen, nur um dann in einer gegenläufigen Bewegung die Menschen mit der biologischen Kondition Intersex wieder gesellschaftlicher Normierung zu unterwerfen.
Eine feministische Verteidigung von Genderfluidität muss mit der Verteidigung von biologischen Intersex, von Frauen gegen die Angriffe auf den Uterus oder das uneindeutige Geschlecht einhergehen. Und sie muss einhergehen mit der Verteidigung von jeweils unter Abspaltungen zu Identitäten geronnene Homo-, Bi- und Heterosexualität als jeweils im Zuge infantiler Erfahrungen und Traumata selbstgewähltes Triebschicksal. Und sie muss beinhalten die Verteidigung von Crossdressing und Genderfluidität als individuelle Triebschicksale oder auch ironische, bewusste, kurzlebige Spiele, die gerade nicht aus dem biologischen Sexus abgeleitet werden, die aber auch gerade deshalb nicht darauf angewiesen sind, die Materialität von Uterus, Penis oder Intersex in einer narzisstischen Volte zu leugnen.
Intersex ist nicht der Beweis, dass es kein Geschlecht gibt. Intersex ist Geschlecht, Materie, Biologie. Daher sind operative Zwangsnormierungen so infam und daher ist der reichlich späte Vorschlag der Justizministerin Christine Lambrecht zu begrüßen, diese Operationen im Kindesalter zu verbieten.
Intersex ist nicht gleich Transsexualität oder Transvestismus. Intersex ist erstmal überhaupt keine Sexualität im sexualpsychologischen Sinne, sondern Sexus aus dem alle möglichen Sexualitäten als Triebschicksale entstehen können. Alle haben ihr Recht, aber es ist nicht alles irgendwie ähnlich oder egal oder das Gleiche. Alles sind Phänomene und Begriffe für sich, die man geklärt haben sollte, naturwissenschaftlich, psychologisch, theoretisch, bevor man eine große Politik oder ein universitäres Dogma daraus formt.