Schießen sie auf den Kritiker!

Was nun bei der Verleihung des deutschen Fernsehpreises Marcel Reich-Ranicki genau wann gesagt hat und wo genau Thomas Gottschalk etwas sagen musste, blieb mir verborgen, da ich nur zufällig dazwischenzappte. Anscheinend fand Reich-Ranicki die Show etwas zu billig. Wer von deutscher Comedy allerdings schon  vorher erwartet, sie würde irgendeinen Volksgenossen intellektuell diskriminieren oder gar zurücklassen, hätte zumindest keine bessere Show verdient. Was mir allerdings nicht verborgen blieb, war die Botschaft eben des Gottschalks, dem die Presse andichtet, geschlichtet zu haben, was man gemeinhin als Euphemismus für Unter-den-Teppich-Kehren verstehen kann. Jener Thomas Gottschalk nämlich hatte einige Minuten später die Chuzpe, irgendeinen Schwiegersohn von Martin Walser ominös offenherzig begrüßen zu dürfen mit „und richten sie ihrem Schwiegervater doch von mir aus, dass mir sein Buch „Tod eines Kritikers“ sehr gut gefallen hat“.

Der Schwiegersohn nahm die Aufforderung zum Kritikermord an Reich-Ranicki gelassen und salbaderte noch weichgespülten Müll daher in Form von David-Lynch-Zitaten über Sein und Dasein des Glücks, das man nicht erhalten kann, sondern immer nur schon haben soll. Leider hat Reich-Ranicki wohl die Altersmilde gepackt, anstatt weiter in den aufgerissenen Wunden zu bohren macht er auf Kulturdiva, die schon mit allen gut sein möchte, aber halt das Dargebotene allzu kulturlos fand. Nun ja, da wäre nur Adorno anzuführen: „Von Kultur zu reden war schon immer wider die Kultur“.

Helmut Schmidt und „Adolf Nazi“

Helmut Schmidt, deutscher Krisenmanager in Altersteilzeit, sprach vor Kurzem den Satz: „Adolf Nazi war ein charismatischer Redner. Oskar Lafontaine ist es auch.“

Von einem Adolf Nazi habe ich persönlich noch nicht gehört, ich kann mir allerdings denken, wer gemeint ist: Ein gewisser Adolf Hitler, dessen Namen Schmidt in neurotischen Tabusetzungen nicht auszusprechen wagt. Schmidt ist ein seniles Symptom für die deutsche Reflexionslosigkeit, die beim Aussprechen des Namens „Adolf Hitler“ schon Scham empfindet. Das ist um so gefährlicher, als das Nichtaussprechen schon für antifaschistisch gehalten wird. Therapeutisch sei eine Dosis Serdar Somuncu empfohlen:

Der Baader-Meinhof-Komplex – Dokutainment und Halbbildung

Der Aufstieg der RAF zum großen Filmevent ließ über dreißig Jahre auf sich warten. Ein solcher „cultural lag“, die Nachträglichkeit des Überbaus, wie ihn Adorno in einer Antizipation von Bordieus „Trägheit des Habitus“ definierte, ist typisch für gesellschaftliche Rituale, an denen neben der Filmproduktion der Wissenschaftsbetrieb im Besonderen teilhat. Geschichtliche Ereignisse erscheinen aus der Distanz rund erklärbar, können leichter rationalisiert werden und fügen sich als abgeschlossene Großversuche in die Schubladen von Positivisten ein.

Weil die Wahrheit der Ereignisse immer unnahbarer sich verbirgt, wird das Geschehen zur willkommenen Projektionsfläche. Und die Projektoren wummern in der Regel im Kino am lautesten. Die grenzdebile Lehrerschar kann diesmal anders als beim „Untergang“ aufgrund des vielen Blutes nicht wirklich nach der Einführung des „Baader-Meinhof-Komplexes“ als Unterrichtsstoff rufen. Dem sperrt sich auch der durchaus ernstzunehmende Ansatz des Filmes, Widersprüche eher aufzubewahren als sie zur Synthese zu zwängen.

Der Hooliganismus der RAF entsprang schließlich nicht einigen gestörten Individualpsychen, sondern tatsächlich an den Verwerfungslinien ideologischer Kontinentalplatten und gesellschaftlicher Umbrüche. Die Aggression gegen die Studenten, sowohl von Seiten der Jubelperser als auch der der diese unterstützenden Polizei, trug eindeutig faschistische Schriftzüge. Der Polizeistaat Deutschland war durch und durch mit jenen Elementen durchsetzt, deren Weiterleben mit der Demokratie Adorno als tendenziell gefährlicher als die offen antidemokratischen Bewegungen bezeichnete. Die brüchige Intransingenz und Gewaltbereitschaft, die später die RAF prägten, war auf Seiten der Gegner schon traditionell fest gefügtes Element politischer Gesinnung. Wer meint, gegen die RAF mit ihren historischen Gegnern sympathisieren zu müssen, erhebt den deutschen Nachkriegsstaat zum Ideal. Der Konflikt zwischen nazistischer Kontinuität und seinen autoritären Bewältigungsversuchen zwischen totschweigen und totschießen lebt fort – und daraus erklärt sich die Provokation und das gewaltige Medienecho des Bader-Meinhof-Komplexes. Das deutsche Menetekel ist der bewaffnete Widerstand. Dieser blieb aus, wo er am nötigsten war. Die RAF ist immer noch ein Finger in dieser auch ihr eigenen Wunde.

Die RAF war nicht nur eine Terrorgruppe, ein pöbelnder Lautsprecher des modernen Antisemitismus. Die Stärke der RAF war die Schwäche der bürgerlichen Gesellschaft. Die Terrorgruppe ging unter – die Krise der bürgerlichen Gesellschaft besteht fort und damit die Frage nach Bedingungen und Voraussetzungen für gewaltsamen Widerstand, die von der RAF stets schon beantwortet war, bevor man sie gegen sie zu stellen wagte. Dem Problem des Antisemitismus stellt sich der Film allerdings nicht. So steht das Plädoyer Ensslins gegen Zionismus und Faschismus gänzlich unwidersprochen im Raum. Horst Herold sinniert über die Landfrage der Palästinenser in der Absicht, dem Wahn eine merkwürdige Realität abzugraben. Und die Palästinenser wiederum werden zwar in ihrer sexuellen Prüderie verspottet, ihr Antisemitismus steht aber kaum zur Debatte. Bruno Ganz hängt zudem die Hitler-Rolle nach. Für die als versöhnende Vermittlung gedachte Figur des Herold hätte man sich vielleicht einen Charakter gewünscht, dessen Gesicht nicht sofort mit „Führerbunker“ verknüpft wird.

Die Entdeckung der Currywurst – Eine Ballade vom Nichtsgewussthaben

In der deutschen Vergangenheitsbewältigung lassen sich viele strategisches Muster entdecken. Eines taucht in letzter Zeit öfter auf: „Kleine“ Frauen werden als Identifikationsfiguren und Vorbilder aufbereitet – nie ganz unbeteiligt, aber insgesamt menschlich und gänzlich unschuldig in ihrer inneren Emigration. In „Der Untergang“ war es die Sekretärin, die ganz zuletzt noch verduzt die Augenbrauen hebt, als ihr geliebter Chef auf einmal im Testament etwas gegen die Juden festhalten lassen will – sowas hat sie ja noch nie von ihm gehört. In „Die Entdeckung der Currywurst“ ist es die Kantinenchefin Lena Bruckner, die zwar eine gesunde Abneigung gegen die allzu spießigen Nazis hat, am Ende aber empört eine Zeitung nach Hause trägt, aus der sie zum ersten Mal vom Massenmord gehört haben will: “ Es gab Lager – da wurden Juden umgebracht.“ Prinzipiell mag es durchaus vorgekommen sein, dass ein gänzlich naives Persönchen ohne Radio nichts vom Vernichtungskrieg mitbekommen hat. Rückt diese Haltung aber systematisch als Hauptdarsteller und somit als großelterliche Identifikationsfiguren in den Fokus der Leinwand, so ist der Verdacht gegeben, das Vonnichtsgewussthabenwollen würde in den Stand der ehrlichen Rede gestellt. Dass jeder Haushalt zur Ehe „Mein Kampf“ als Dreingabe bekam, dass in den Schulen Rassenlehre gelehrt wurde und Ärzte mit Fragen der Rassereinheit befasst waren, dass der Volksempfänger jedem Haushalt die unverblümte Absicht der Nationalsozialisten beibrachte, eine Welt ohne Juden zu schaffen, solche Details werden den auf Synthese und Currywurst bedachten Zuschauern gerne erspart. Es wäre ja noch schöner, wenn jemand aus den Kinos käme und die Großeltern mit unbequemen Fragen belästigte.

So rückt das Sujet von Beginn an die lebenskünstlerische Kreativität ins Zentrum, die zwischen Trümmern und selbst 1945 erst langsam heraufdräuender Nahrungsknappheit erst geweckt wird und so in einer nützlichen Erfindung ihr synthetisches Ende findet. Wenns auch hart war im Krieg und die Spießer bisweilen nervten, so hats doch am Ende für etwas Erotik und die Entdeckung von lecker Currywurst gereicht. Und davon haben schließlich alle etwas. Für die Frauen warf das Ganze sogar noch einen speziellen erotischen Mehrwert ab. Der Film verrät damit zuletzt doch auch etwas Wahres über die Konstitution der liberalen Deutschen unter dem Nationalsozialismus: Der Koch begnügt sich mit einem kleinen Ulk, indem er dem Nazioberst Abführmittel in die Suppe mischt. Die Kantinenchefin deckt ihn und klaut heimlich Reis für ihren dem Militär abgetrotzten Liebhaber. Diese Infantilisierung von Widerstand erklärt auch, dass die in die innere Emigration gegangenen Deutschen den Nationalsozialismus allenfalls als Angstlust verbreitendes Versteckspiel sehen wollten. Seine mörderische Qualität blitzt kurz als zensierte Hinrichtung eines Deserteurs auf.  Das Risiko des Todes, das man im Bombenhagel und an der Front in Kauf nahm, wollte man im Allgemeinen dann doch  partout nicht eingehen, wenn es gegen die Nationalsozialisten ging. Ein solch gefährliches Wagnis überließ man getrost den Alliierten. Die Verkennung der Notwendigkeit eines militärischen und gewaltbereiten Widerstandes gegen den Nationalsozialismus zieht sich wie ein roter Faden durch die Abarbeitung deutscher Vergangenheits-bewältigung.

Vor dem in deutscher Nachkriegsmythologie zelebrierten Identifikationsstrahl mit den friedlich-infantilen Helden und wehrlosen Opfern von Sophie Scholl über Oskar Schindler bis zu Anne Frank verblasst noch jede wirkliche Bedrohung des nazistischen Regimes durch die Partisanen in Polen, Frankreich, Italien,  Spanien, Jugoslawien und Russland. „Die Entdeckung der Currywurst“ webt weiter an dieser Verkitschung des Kriegsgeschehens. Dem fügt die kaum erträgliche Unglaubwürdigkeit von Dialogen und die bisweilen eher ans Theater als an Film erinnernde Symbolik kleiner Gesten dann auch keinen größeren Schaden mehr zu. Die holzige Gestelztheit von Mimik und Gespräch wird nur passend ergänzt von abgelutschten und durchschaubaren Kinkerlitzchen aus dem Regiehandbuch: Der kleine Junge verrät natürlich anders als in der Realität den Deserteur nicht und erhält dafür am Ende doch noch seine Matrosenmütze. Ein zuerst geträumter Blumentopf fällt später symbolgerecht und ganz wahrhaftig aus dem  Fenster um etwas Schicksalhaftigkeit zu verbreiten. Und weil man beim Film auch ein paar Psychoanalytiker aushält, kann man in hübsch ausdeutbaren Szenen noch externalisierte Aggression in einer Sturmböe versinnbildlichen oder just im rechten Moment den Tisch umstürzen und Servietten durch die Luft flattern lassen. Das soll dann wohl abschließend die Suche nach Reinheit symbolisieren oder ähnlich ungelenken metaphysischen Schmarrn, mit dem sich das deutsche Kino so gerne schmückt.

Michael Moore’s Farenheit 9/11 vs. Flight 93

Der Jahrestag des 9/11 sorgt für Umsätze. Web.de wärmt in hübsch objektiver Berichterstattung Verschwörungstheorien auf, Kabel 1 bringt Michael Moores Fahrenheit 9/11, während gleichzeitig auf dem öffentlich-rechtlichen eine deutsche Synchro-Fassung von Flight 93 läuft. Da ich letzteren gekauft hatte, musste ich mich nicht lange entscheiden und sah mir Michael Moores Streifen an.

Michael Moores selektiver und propagandistischer Blick springt einem halbwegs kritischen Betrachter sofort ins Auge. Moore ist der eifrigste Nutznießer des Prinzips, das er anzugreifen vorgibt. Während er den Republikanern vorwirft, 9/11 zur Manipulation der Bürger zu missbrauchen, gibt er offen zu, mit seinem Film in den Wahlkampf eingreifen zu wollen. Während er der Bush-Regierung vorwirft, systematisch Angst zu schüren, sät er paranoische Ängste vor der Macht saudischen Kapitals, vor Firmen und Regierung. Und wo er diesen Zynismus vorwirft, scheut er sich wie die Sender nicht, verbrannte Leichen zu zeigen und hilflose Verwundete zu filmen, deren Aussagen er zusammenzuschneidet, bis sie in sein propagandistisches Konzept passen. Carlyle, einer Waffenfirma unter Mitarbeit von George Bush, wirft er vor, durch ihren Börsengang 6 Wochen nach 9/11 231 Mio. Dollar Gewinn abgeschöpft zu haben. Michael Moore fährt mit Fahrenheit 9/11 bis 2006 dagegen nur schlappe 222 Mio. Dollar ein. Wo er Bush vorwirft, ein gleichgültiger, machtbesessener Tyrann zu sein, filmt er Saddam Hussein in fröhlicher Runde herumhopsend als harmlosen Kerl. Den Irakkrieg leitet er mit fröhlich spielenden, gutgekleideten Kindern ein. Die Sequenzen werden gefolgt von Bomben und weinenden Müttern. Wer vorher unter Saddam und Udai Hussein litt, ist ihm egal, weil es ihm nicht in seinen Wahn passt. Ebenso verzichtet er auf irgendeine Erwähnung der Giftgasbestände Saddam Husseins, der Konflikte um verhinderte Waffeninspektionen, der gescheiterten Sanktionen unter denen zehntausende Kinder starben. Für Moore ist 9/11 nur ein Mittel zum Zweck, sein eigenes Programm zu forcieren. Seine penetrante Leugnung des Terrorismus gibt noch jenen recht, die im Gefolge des 9/11 unablässig die Gefahr des Terrorismus zur Hauptbedrohung stilisierten und somit unverhältnismäßige Ängste schürten.

Flight 93 ist ein gutes Kontrastprogramm zur Marktschreierei Moores. Auf die Einführung von oskarträchtigen Hauptrollen wird verzichtet. Nicht einmal die Terroristen werden besonders stereotyp inszeniert. Sie erscheinen als angreifbare Individuen ohne spezifische Zeichen des Wahnsinns, fast mitleiderregend. Die polyphone Erzählweise verläuft in einer technisierten Sprache, die positivistisch den Fall „Hijack“ einplant, aber seine Besonderheit weder adäquat erkennen, noch auf sie reagieren kann. Die Vermitteltheit von Kommunikation zwischen zuständigen Stellen der Luftaufsichtsbehörde, zwischen Passagieren und Terroristen wird als Problem wie als Lösung gleichzeitig benannt. Flight 93 ist eine Fundgrube für postmoderne Theorien über Zeichen, Deutung und Kommunikation. Mehr als das ist der Film trotz der starken Suspense-Lastigkeit eine realistische und zurückhaltende Darstellung des Geschehens. Durch diesen fühlbaren Respekt den Opfern gegenüber wird Empathie befördert, wo vorher kein Bewusstsein über die Realität dieser Ereignisse bestand.

Saudi-Arabien vs. Iran

Ein sehr interessanter Artikel auf Iran-Focus ergänzt die etwas plumpen Israel vs. Iran-Szenarien um eine dritte Dimension: Saudi-Arabien. Schon seit längerem ist die Position aus Saudi-Arabien bekannt, man würde es vorziehen, der zionistische Erzfeind würde Irans Atomwaffenpotential eliminieren. Ob das in Saudi-Arabien am antisemitischen Hauptwiderspruch kratzt, sei dahingestellt. Anscheinend drängt die Zeit aber derart, dass nun auch die Saudis nicht mehr länger hinter dem Berg halten können und ernsthaft überlegen, selbst den preemptive strike durchzuführen.

Spielbergs München

Zur Free-TV-Premiere eines überaus sehenswerten Schwachsinns am Sonntag hole ich mal einen meiner ersten Artikel aus dem Keller, dessen etwas holzschnittartige Dürftigkeit man verzeihen mag, die Kritik bleibt davon hoffentlich unversehrt.

Spielbergs München

„Wir haben Spielberg verloren“, schreibt Jack Engelhard, „Spielberg ist kein Freund Israels, Spielberg ist kein Freund der Wahrheit.“

Jedoch, selbst wenn denn all das wahr gewesen wäre, wenn die zu Beginn des Filmes weiß auf schwarz eingeblendete Beteuerung, dieser Film beruhe auf wahren Begebenheiten, nicht vollkommen wahnhaft, suggestiv und überheblich wäre, was rechtfertigt die spezifische Darstellungsweise, die Spielberg wählt?

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„Vier Juden auf dem Parnass“ – Rezension

Carl Djerassi, Mit-Erfinder der Anti-Baby-Bille, Naturwissenschaftler und Literat, hat mit „Vier Juden auf dem Parnass“ ein für den vorgebildeten Leser gedachtes Theaterstück geschrieben. Walter Benjamin, Theodor W. Adorno, Gershom Scholem und Arnold Schönberg treffen sich darin nach ihrem Tod auf dem Parnass, dem von Paul Klee in „ad parnassum“ verbildlichten Ausdruck höchster Genialität, um über einige ihrer Intima zu plauschen und übersehene wie missverstandene oder fehlerhafte Passagen ihrer Werke Revue passieren zu lassen. Als dramaturgischen Überraschungseffekt lässt Djerassi die Ehefrauen der Protagonisten jeweils hinzutreten und die Männerrunde stören. So erschließt Djerassi in dem stilistisch hervorragenden fiktionalen Biographie-Luststück einen Raum, in dem er über persönliche Animositäten und das intellektuelle Umfeld, die Verbindungen zwischen den Autoren und Künstlern sowie eigene Thesen Aufschluss geben kann. Das alles könnte so informativ, amüsant und eingängig sein, wie es sich lesen lässt, wenn nicht das Thema, dem sich die vorgestellten Protagonisten Zeit ihres Lebens zu nähern suchten, so alles andere als erheiternd wäre. Kritische Theorie wird gänzlich vom genialen Small-Talk abgetrennt, die geschichtliche Notwendigkeit des Gedachten erscheint im Extremfall als bloße Marotte. Das Gershom Scholem in den Mund gelegte Zitat Djerassis macht diese Haltung deutlich: „Halt, halt! Das ist weder die Zeit, noch der Ort, um die Dialektik des Antisemitismus zu rekapitulieren. Machen wir es einfach und persönlich – nicht intellektuell.“ Die Empörung über den Antisemitismus, die Adorno, Scholem und Benjamin gemeinsam war, wird verflacht in eine Diskussion über das Jude-Sein.

Der Drang ins Private, wie er sich in der Veröffentlichung der Briefwechsel aller möglicher Autoren schon ausdrückt, veräußert den kritischen Gehalt der Theorie und lenkt vom gesellschaftlichen Grauen ab, das jene zuinnerst bedingte. Die Verzweiflung darüber, dass Philosophie den Moment ihrer Verwirklichung verpasste (Adorno), sublimiert sich im Privatismus als betuliches Lächeln über die Macken und Eigenheiten derer, die man als allzumenschliche Menschen sehen will, wo das gesellschaftliche, bedrohliche Abstrakte ihrer Werke doch ihre Berühmtheit bedingte. Die kritische Lektüre von Texten wird dadurch auf das Niveau von leicht bekömmlichem Klatsch und Sensationslust gedrückt – ein Zusammenhang, den Djerassi erkennt, benennt (etwa auf S. 28) und dennoch, wenngleich auf sehr hohem Niveau darauf zurückfällt. So interessant dann Djerassis eigene Thesen über die Bedeutung von Novus Angelus, den er durch Benjamin für über- oder zumindest falsch bewertet hält, sind, so befremdend und deplaziert wirken sie in der Kombination von dramaturgischem Dialog und den aufdringlichen und etwas kitschig-bemühten Collagen von Gabriele Seethaler, die dem Text als künstlerischer Rahmen beigesellt sind. Was Djerassi trotz alledem leistet, ist eine De-Sakralisierung des Quartetts. Der reale Narzissmus der toten Genies wird mit dem der unkritischen Leserschaft kontrastiert. Der blindwütigen Rezeption von Benjamins Interpretation des Angelus Novus stellt Djerassi die berechtigte Frage nach der von Paul Klee angedachten Eigenwertigkeit des Bildes. Wo der autoritäre Charakter sich sein Weltbild durch bloße Identifikation mit wahrheitsumwitterten Geistesgrößen spinnt, befördert Djerassi das in der Kritischen Theorie enthaltene Misstrauen gegen die Ablösung des Geistigen von seinen gesellschaftlichen und individuellen Bedingungen. Die sensationistische Aufbereitung der individuellen Fehlerhaftigkeiten trägt dann zur Profanisierung der Genies und somit zur Kritikfähigkeit diesen gegenüber bei.

Deutschland ethnologisch – Teil 1

Deutsche Städte haben einen je unterschiedlichen Zugang zum Umgang mit den Toten des zweiten Weltkrieges gefunden. Während die einen eher bescheidene Denkmäler mit Titeln wie „Nie wieder…“ oder „in Trauer um…“ wählten, zeigt sich in Dörfern wie Klepsau an der Jagst der Drang zum ewiggestrigen Protzen mit der nationalsozialistischen Gesinnung. Rings um die Kirche ziert jedes Haus ein Marienaltar, vor der Kirche prunkt symbiotisch ein Märtyrerdenkmal in Marmor und Blattgold. „Die dankbare Gemeinde“ verehrt unter dem eisernen Kreuz ihre „tapferen Helden“ für das Morden und Brandschatzen im Osten, das Gemetzel an den alliierten Streitkräften, die Vernichtung der europäischen Juden, an deren ehemalige Anwesenheit in ähnlichen Dörfern oft noch eine alte Synagoge oder ein alter jüdischer Friedhof erinnert. Der Nationalsozialismus ist mitnichten im Rückzug auf deklassierte Ostgebiete begriffen: In einer der reichsten Regionen der Welt, Baden-Württemberg, mit einer Arbeitslosigkeit von gerade einmal 6% und einer flächendeckenden Versorgung mit Gymnasien, Freibädern und Ärzten ist das Fortwesen nationalsozialistischer Gesinnung kaum aus vulgärmaterialistischer Expertise abzuleiten. So sind die Klepsauer Nazis weder besonders arm noch ungebildet, sie lernten Latein und wählen brav ihre CDU oder auch SPD. Sonntags gehen sie in die Kirche hinter dem Denkmal, um Nächstenliebe und Frieden zu erbitten. Es hat sich vielmehr über Jahrhunderte hinweg eine kulturell bedingte Immunität gegen kritischen Geist und Selbstreflexion eingeschlichen. Die dem so in die Hirne zementierten autoritären Charakter gut zu Gesicht stehende Identifikation mit den vermeintlichen Helden und Altvorderen findet in dieser Region ihr Pendant in der Götzenverehrung. Im benachbarten Krautheim befindet sich jenes Denkmal an den Ausspruch des Götz von Berlichingen, sein Duellant könne ihn „von hinden lecken“. Das sich in allen touristischen Schriften der Region in zahllosen vielsagenden Andeutungen und Pünktchen ergehende verklemmte Gekichere darüber trägt das Zeichen der mit äußersten Gewalt unterdrückten (Homo-) Erotik, die sich letztlich auf Heldenverehrung zurückzieht: diese toten Männer können ebenso gefahrlos geliebt werden, wie in den Klöstern die erotischen Marienbildchen. Den „Fremden“ verkauft man derweil von Rothenburg bis Schöntal ungenießbares Gebäck als regionale Spezialität, lockt sie mit Radwegen in Hinterhalte aus Höhenmetern, um ihnen drittklassige Sehenswürdigkeiten als kulturelle Leistung zu präsentieren oder ihnen den desolaten Zustand des Hausflusses im fernen Tal zu verheimlichen. Wehe den stets willkommenen Fremden jedoch, wenn St. Anna oder die Heilquelle vor Ort auf einmal nicht mehr hilft – dann packen dankbare Gemeinden eben jederzeit wieder tapfere Helden aus.

Insektizid oder Bier?

Die Herbsthäuser Brauerei fühlt sich berufen, der Volks- gesundheit einen Schädling vom Halse zu halten. Sie versteht ihr Bier als Insektizid gegen Heuschrecken, vulgo: Ausländer. Während „mehr als zwei Dutzend“ deutsche Brauereien bereits „von ausländischen Bierkonzernen regiert werden“, seien die Herbsthäuser Sudkessel „fest in privater Hand“. Welche Auswirkungen es tatsächlich hat, wenn Kapital aus dem Ausland einigen der über 500 bayrischen Brauereien unter die Arme greift, wo deutsche Bierkonzerne im Ausland aktiv sind und etwa bis Shanghai ihr Hefeweizen verkaufen, das interessiert das nationalsozialistisch imprägnierte Ressentiment wenig. Bierselige Bodenständigkeit paart sich mit jener urdeutschen Gemütlichkeit, die äußersten Aggress gegen alles Fremde, Hinzugezogene bedeutet. Eine familiäre Führerfigur, der redliche, gütige auf Qualität und Fairness bedachte „Inhaber“ mit persönlichen Kontakten zur Heimat und den Kunden, tritt bei Herbsthäuser an gegen „Manager“, „Konzernbrauereien“, „Aktienkurse“, Warentransport, Preisdruck, „Plastikpulle“, „Fernsehstars“ und „Lifestyle“. Ein solches Gebräu kennt man aus den Propagandaschriften der Nazis wie der aufs Volk bedachten Parteien von links bis rechts zu Genüge.