Infantile Energien

Kassandra ist ein unverzichtbarer Teil der Kulturindustrie. Die durch und durch abgedroschene Phrase, es zähle nicht das „ob, sondern das wann“ einer zu erwartenden Katastrophe ist längst festes Repertoire des alles fest verschweißenden Prinzips. Nach den vergnüglichen medientechnologischen Spektakeln zu neuen Blitz-Eiszeiten, Tsunamis, Tornados, Superhurrikanen, Kometeneinschlägen, Sonnenstillständen und Erdmagnetismusinterferenzen reflektieren in Dokutainments Archäologen und Geologen über die historischen Supervulkanausbrüche und Meteoreinschläge.

Diese Szenarien kanalisieren die sadomasochistische Faszination am Untergang des gehabten Trotts und feiert zugleich dessen Wiederherstellung: Immer wird Familiäres durch die Katastrophen getrennt und zusammengeführt, das Rechtsprinzip obsiegt über die Konkurrenz, das äußerste Chaos reformiert Ordnung und Harmonie. Das entspricht den magisierten Ritualen der Realität: Nach Erdbeben werden virtuelle Milliarden versprochen (aber nie überwiesen), nach Genoziden werden wilde Eide geschworen, so etwas nun aber wirklich nie mehr zuzulassen (während es „schon wieder“ passiert), das Konstrukt einer Klimakatastrophe wird in öffentlichen Prozessionen bebetet, damit es nicht stattfinde, oder zumindest nur als mediales Event mit Liebesgeschichten, Eisbären und Moral.

Was aber fühlt Kassandra, nachdem das Unglück eintrat? Die Unsicherheit darüber nimmt solche Ausmaße an, dass ihr noch das Unglück selbst unterstellt wird: Sie habe Freude daran, Recht behalten zu haben. Wer es vorher besser wusste, wer warnte erinnert nach dem Vorfall an Schuld und Schuld ist das Schlimmste. Sie wird projiziert auf den Überbringer der schlechten Nachricht.

In dieser Konstellation ist erklärbar, warum Atomkraftgegnern ohne jeden empirischen Nachweis aus der Gewissheit des Bauchgefühls heraus unterstellt wird, sie freuten sich über die Mehrfachhavarie von Atomreaktoren in Fukushima, von der auch nach drei Wochen immer noch sehr unklar ist, welchen Verlauf sie nehmen wird. Allein Lobbyismus kann die uniforme Vielzahl an pathischen Projektionen und Abspaltungsprozessen in der sie begleitenden Propagandaschlacht kaum erklären, hier finden tiefenpsychologische Prozesse statt.

Die sind auf der Seite der Kernkraftgegner noch recht unkompliziert. Sie toben je nach Individuum in unterschiedlichem Ausmaß narzisstische Regressionen aus. Dazu gehören Trillerpfeifen, das leider populär gewordene intellektuelle Armutszeugnis einer jeden Demonstration. Mag der Anlaß noch so bedrückend oder komplex sein, es wird gepustet und gelärmt, dass ES eine Gaudi hat. Infantiler Aufmerksamkeitsdrang, der Wunsch nach dem Wahrgenommenwerden um jeden Preis, der Schreiwettbewerb der Sechsjährigen, das Topfschlagen der Kleinsten. Aufläufe sind auch Sammelbecken für depravierten Einzelgängern, die dort ihre Profilneurosen testen können. Ein Twen etwa klammert sich an einer Bierflasche fest und lässt regelmäßig das aus sich heraus, was man seit schlechten Karl-May-Verfilmungen als Indianergeheul kennt. Er blickt dabei aufmerksamkeitsheischend umher, läuft von hier nach da, sucht Allianzen, die er nicht auf zivilisiertem Wege schließen müsste, ein Möchtegerneinpeitscher. Andere staffieren ihre Kinder mit betagten gelben Ansteckern und Fähnchen aus, auf denen die gute, liebe Sonne dahergrinst, als wäre sie die Gesichtswurst beim Metzger persönlich.  Radioaktivität ist für viele unreflektiertere Gegner der Atomkraft eine überhöhte Drohung der Natur, auf sie wird aufgeladen, was an der guten sonstigen Natur nicht sein sollte und muss. Sie wird gigantisiert, von ihrer physikalischen Stofflichkeit abgelöst und in die Metaphysik eingereiht. Dass um Tschernobyl wieder Hunderte Menschen leben und aus ihren Gärten essen, ohne nach Wochen an der Strahlenkrankheit zu sterben, (obgleich die Lebenserwartung geringer sein dürfte als in manchen afrikanischen Ländern und Erbgutschäden hoch wahrscheinlich sind) dass in Hiroshima und Nagasaki heute Städte ohne nennenswerte Strahlenbelastung florieren, dass durch die 622 athmosphärischen Atomtests mit regional verheerenden und individuell tödlichen Auswirkungen die Krebsrate heute auf globaler Ebene wahrscheinlich weniger bedingt ist als durch den gleichzeitigen Anstieg des Fleischkonsums (Darmkrebs) und der Zahl der Solarien und Sonnenbäder (Hautkrebs), dass  in Kohlekraftwerken weltweit jährlich ca. 10 000 Tonnen Uran vor allem in der Asche übrigbleiben passt alles nicht so recht zu den nach vielen Seiten hin verzerrten Dimensionen, in denen Radioaktivität von Seiten vieler Kernkraftgegner gedacht wird. Ihren Vorstellungen zufolge verursacht Strahlung den sudden death und das ist eine auf Realität fußende Projektion, die einem Unsichtbaren (ein Lacanianer, wer an den abwesenden Vater denkt) extremes Bedrohungspotential zusprechen und von sich selbst ein Bild der totalen Verwundbarkeit haben. „Keine Gewalt“ ist der angstlustbehaftete Wunsch, „Wir sind die Guten“ die Schlußfolgerung, das „Schweinesystem“ der Gegner. Eine Entspannung dieser Gigantisierung, das Ins-Verhältnis-Setzen zu anderen Bedrohungen (Genozide, marode Staudämme, usw.) und eine Entwicklung reiferer Protestmethoden wäre Grundbedingung, um als Bewegung ernst genommen zu werden. Diese ist in aller Regel trotz mancher aggressiven Phantasien in der Regression durch und durch gutmütig und das macht sie weitaus sympathischer als jene Gegner der Kernkraftgegner, die man derzeit als „Grünenhasser“ subsumieren kann.

Die beweisen nämlich derzeit, dass sie aus dem beinharten Holz des autoritären Charakters gestrickt sind. Wo man mit gebildeteren Kernkraftgegnern manche Stunde über technische Bedingungen und physikalische Abläufe von und in Kernkraftwerken diskutieren kann, weil die Gegnerschaft anders als das Mitläufertum einen zumindest rudimentären intellektuellen Prozess und Interesse notwendig voraussetzt, regiert hier die Halluzination und das Ressentiment. „Freude“ an der vierfachen Havarie wird unterstellt, wo real Empathie, Angst und Betroffenheit verlautbart wurde. Der Antagonist von Freude ist weniger Trauer als Schuld und diese wird pathisch projiziert als Freude der Kernkraftgegner. Eine solche Projektion muss zwangsläufig bösartig werden, und diese Bösartigkeit äußert sich in einem faschistoiden Regress. Die Verletzung ästhetischer Kategorien, die an der Norm des deutschen Vorgärtners ausgerichtet wurden, dient als idiosynkratischer Katalysator des Hasses auf die Kernkraftgegner. Wer schon immer etwas gegen Wursthaare hatte, kann nun endlich losschlagen. Online kann dieser Hass straflos zur Verbalisierung finden als Vernichtungswunsch, wie er auch auf offiziöseren Webseiten verlautbart wird.

Medial allerdings sind der Faschisierung noch Grenzen gesetzt. Hier wird anderweitig identifiziert und die Identifizierung hat sich auf „Die Grünen“ geeinigt. Die Empörung von recht unterschiedlichen Wählerschichten kanzeln Hinz und Kunz als Wahlkampf der Grünen ab. Dadurch hat der autoritäre Charakter schon sein Politikverständnis kommuniziert: Wahlkampf wird als der Popanz positiv eingefordert, der er zu 98% jetzt schon ist. Ernsthafte, aktuelle Themen sollen demzufolge nicht mit der Parteienwahl in Verbindung gebracht werden, die Fussballsammelbildchenwahlwerbung ist das unbestrittene Ideal eines harmoniesüchtigen konservativen Deutschlands. Zweireiher oder Wursthaare, Krawatten oder Piercings werden gewählt, nicht Ideologien. Man wirft den Grünen eine Instrumentalisierung der atomaren Havarie vor, als hätten sich die Grünen nicht am Thema der Kernenergie gegründet. Projektion wird auch gerne frech: Der FDP-Mann Niebel warf Trittin ernsthaft vor, nur ein (zwei, wie Trittin korrigierte) AKW’s stillgelegt zu haben, CDU-Größen schlugen in die gleiche Kerbe. Die Entwicklung zu politisch reifen Menschen ist bei solchen Menschen weitaus empfindlicher beschädigt worden als noch bei den kindischsten Demonstranten. Zu Recht wurde Niebel vom Moderator gemahnt, ob er denn in einer Zeitmaschine lebe. Wieder und wieder der Vorwurf der Wahlwerbung mit einem schlimmen Ereignis, online gegröhlt, televisionell genölt, Ausdruck der blanken Angst vor dem Machtverlust über beides, das Land Baden-Württemberg und die sich doch als bedrohlicher erweisende Atomkraft.

Die Angst vor Letzterer ist dann doch einigen kurz derart in die Glieder gefahren, dass sie bereitwillig noch jede Verharmlosungen suchen, aufsaugen und mittels Facebook weitertragen, die ihnen nur ihre intellektuelle Starre und man muss es bisweilen schon sagen, Insel-Begabungslosigkeit, weiterzuführen erlauben. Apologetik hat Hochkonjunktur, sie beruhigt die Abgedichteten gegen Leckagen. Man könne sich auf das Druckventil setzen, über das die Reaktorkerne vom Dampfdruck entlastet wurden, ohne gesundheitliche Schäden davonzutragen, alles wäre unter Kontrolle in Fukushima und die überaus kurzlebige Radioaktivität ganz natürlich, wenn nicht sogar gesund, wie die Radonbäder an Kurorten beweisen würden. Magisierungen herrschen auch hier vor, eine animistische Anbetung einer ökonomisch noch nie tragfähigen und aus medizinischer Sicht äußerst bedenklichen Technologie. Der Gott Atomkraft darf nicht stürzen, die CDU stürzt ihn im Fallen selbst, um ihn nach einer Bedenkzeit wieder aufzurichten.

Verschwörungstheorien machen sich angesichts eines solchen Sturzes breit. Wo es nicht die Grünen und angeblich von ihnen beherrschte Medien sind, die als volksfremdes Element althergebrachte Verhältnisse untergraben, sind es gleich die Juden. Der Plan, Kernkraftwerke zu schließen sei dem Morgenthau-Plan nachempfunden und diene dazu, Deutschland ins industrielle Abseits zu katapultieren. Wieder gehen die Lichter, aus, infantile Angst vor der Dunkelheit, in der das Verdrängte kollektiv wiederkehrt. Atomkraft sei eine (sublimierende) Brückentechnologie, eine hilfreiche Krücke für die noch kränkelnde Windkraft oder Solarenergie. Und den Abschied von dieser Brückentechnologie verhindern: wieder die Grünen. Das ist das Ressentiment vor allem von der FDP. Die Grünen würden den Ausbau des Stromnetzes sabotieren und so den Transport von Strom aus Windkraft zu den Großverbrauchern in Süddeutschland. Wie alle Volten der Grünenhasser bleibt sie unbelegtes Gerücht und Verdacht, wie alle spaltet sie das Reaktionäre der eigenen Gesinnung ab: im schädlichen Konservativismus der Grünen, der die fortschrittlichen Technologien Atomstrom und Windkraft zugleich blockiere und im schädlichen Avantgardismus, der vom verlässlichen Gesellen Atomstrom und CDU-FDP-Regierungen zu unausgereiften, teuren Windei-Technologien und zu kommunistischen Regierungen führe.

Der Zorn über die eigene Inkompetenz gegenüber der intellektuellen Herausforderung, die gesellschaftlich komplexere Prozesse zwischen Natur (Akzidentialität und Determinismus), Individuum (Psyche und Soma) und Gesellschaft (Autonomie und Interdependenz) darstellen, kann sich nur von Platitüden zu propagandistischen Kniffen und einer mehr als wohlfeilen Medienkritik hangeln. Wirklich ekelhaft wird er durch die Verleugnung der eigenen Inkompetenz in der Anmaßung, das Argument in der Sache zu dominieren, wo schon ihre Diskussionsweise sich in Sprunghaftigkeit und Absehung von Stringenz der Traumarbeit angeglichen hat. Neben dem Formelwesen, dem positivistischen Zahlenzauber beherrscht Zensur dieses Vorgehen, ernsthafte Diskussionen werden mit einem Zirkel oben genannter Projektionen abgewürgt. Was auch immer zur Sprache stand, die Antwort ist austauschbar: die Freude Kassandras, die Wahlwerbung, die Schuld der Grünen am ganzen Schlamassel, die Unausweichlichkeit und Unabänderlichkeit der derzeitigen Situation, die lustvolle Kapitulation der gesellschaftlichen Produktivkräfte vor einer Herausforderung.

Ein Schurke, wer angesichts des Leides der JapanerInnen immer noch von Endlagern, Uranabbau, Wiederaufarbeitung und veralteten Sicherheitsstandards spricht, ein Narr, wer sich anmaßt, es besser zu wissen als ein Atomphysiker oder andere vermeintliche  und tatsächliche Kenner der Materie, eine Bedrohung, wer rasche Veränderungen im Bewusstsein der gewaltigen Produktivkräfte eines Industrielandes denkt. Der energetische Kern der Grünenhasser ist der Sadismus, der die Grünen zum Verfolger erklärt und sie doch verfolgen will. Demgegenüber ist die Regression vieler Grünen, die Erstarrung vor einer übermächtigen Natur, den Sonnenblumengott, der Schutz verspricht vor den abgespaltenen Strafgelüsten und den realen Drohungen eines irre gelaufenen Systems, allemal angenehmer. Bereits in den 1970-ern waren jene am wenigsten irre, die Paranoia vor einer Welt entwickelten, in der die Vernichtung von Milliarden Menschen in Atomkriegsszenarien ernsthaft gerechnet und geplant wurde, in der man Atomwaffentest als Werbegag für Rüstungsausgaben durchführte und Soldaten systematisch als Versuchsobjekte missbrauchte, in der man die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vertuschte und bis heute verharmlost. Die mehrfache Abwendung einer nuklearen Konfrontation der Systeme lässt im Nachhinein vor allem Jene pathologisch erscheinen, die mit einem Atombunker im Garten und einer Papiertüte auf dem Kopf ein vergnügliches Leben führten, während über ihren Köpfen und unter ihren Füßen ein Feuerwerk von Nuklearwaffen gezündet war. Auf der Ostseite konnte man sich weder Bunker leisten noch gab es Papiertüten, man hatte einfach das kasachische Wetterleuchten am Horizont zu erdulden und erkrankte später an merkwürdigsten Krankheiten. Von Beginn an ist die Atomenergie mit obszönster Propaganda, Krieg, Verharmlosung und Lügen verbunden, ihren Gegnern ist es daher als historische Erfahrung mehr als nachzusehen, wenn sie bei einem Unfall in japanischen AKW’s Geigerzähler kaufen und Jod-Tabletten horten. (Von deren unbegründeter Einnahme hier ausdrücklich gewarnt sei!)

Das ist Ausdruck eines gesunden Misstrauens in staatliche Autorität, und jenes Misstrauen wird den autoritären Charakteren bedrohlich genug, um es zu verlachen. Was da so genau mit Zerfallsreihen und Halbwertszeiten, Isotopen und Neutronen, Ionisierung, Strahlung und Kontamination passiert, ist unter Wissenschaftlern Gegenstand von skeptischen Forschungen und Diskussionen, unter den Grünenhassern hat plötzlich jeder ein Diplom in Atomphysik oder zumindest sehr vertrauenswürdige Kontakte in diesen Bereich. Man weiß, wie die Welt läuft, man hat sich in einen Dresscode eingefügt, der Hygienedressur unterworfen, den common sense akzeptiert, die Grünen aber wissen es nicht, das sieht man schon an der Kleidung und den hässlichen Gesichtern, sie sind wahlweise Gesellschaftswissenschaftler, Kretins, Hysteriker oder alles zusammen. Das ist die narzisstische Hybris, gegen die jedes Argument machtlos ist. Der einzige Weg ist die konsequente Befragung der psychologischen Disposition der Projektionen: Geht es um Verrat, was ist gefährdet, ist da ein Gefühl von Scham und Schuld und woher kommt die offensichtliche Projektion, wenn sie nicht wahltaktische Berechnung auf dieselbe ist.

„Von Beverly Hills nach Accra – Zur Aktualität der Thesen zur Kulturindustrie“ – Einladung zum Workshop

27.3.2011: „Von Beverly Hills nach Accra – Zur Aktualität der Thesen zur Kulturindustrie.“ Workshop mit Felix Riedel, MA Ethnologe. 11:30 – 14:30 in Marburg.

Auf der Konferenz: „Traditionalität und Aktualität – Zur Aufgabe Kritischer Theorie.“

Zum Programm

Zur Anmeldung (kostenfrei)

Zensürliches zum „Tal der Wölfe“

Gewiß! Ist die Zensur einmal eine Notwendigkeit, so ist die freimütige, die liberale Zensur noch notwendiger. (Karl Marx, MEW 1: 2)

Eine eigentümliche Ironie der Geschichte zwang das Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED die Marx-Engels-Werke mit einem Artikel von Karl Marx zu beginnen, der den Titel trug: „Bemerkungen über die neueste preußische Zensurinstruktion.“

Das Vorwort der KpdSU fühlte sich zum Verweis darauf verpflichtet, dass es sich hier um die „reaktionäre preußische Zensur“ handelte. (MEW 1: XXVI) Die Leserschaft meiner noch mit eingeklebten Porträtzeichnungen von Marx/Engels versehenen Ausgabe von 1958 sollte nicht die Errungenschaft der revolutionären Zensur der Sowjetunion mit der überkommenen, „reaktionären“ der Preußen verwechseln. Nicht also aus frivoler, bourgeoiser Libertinage oder reaktionärem Preußentum blieben daher die Marx-Engels-Werke unverändert, sondern weil sie ein auserlesenes Kulturgut von nationalem Interesse seien:

„Der Marxismus ist das kostbarste Kulturgut des deutschen Volkes. Wir sind die rechtmäßigen Erben dieses großen Vermächtnisses; daraus erwächst uns die hohe Pflicht, es sorgsam zu bewahren und rein und unverfälscht unserem Volk zu vermitteln, um es zu befähigen, rasch auf dem Weg vorwärtszuschreiten, den ihm seine größten Söhne gewiesen haben.“ (MEW 1: IX)

Alles, was unterhalb dieser Heiligkeit sich anzusiedeln erfrecht hatte, konnte dagegen mit der gleichen hohen Pflicht verwässert, überwacht, zensiert, vergulagt und weggemordet werden.

Die offene Barbarei der Zensur, die in der McCarthy-Ära selbst die USA infiziert hatte, ist immerhin in den demokratischen Staaten weitgehend Geschichte. Ihr Fortleben in der Demokratie als demokratische, liberale Zensur, überhaupt die Idee ihrer Sinnhaftigkeit, ihres möglichen Gutseins in bestimmten Fällen, bereitet den Boden für radikalere Kastrationen gewohnter Freiheiten wie sie aktuell in einem sich faschisierenden Ungarn stattfinden. Das Einschleichen des Gedankens, die Zensur könnte etwas leisten, was eine freie Presse und die damit wünschenswerterweise auch zu assoziierenden freien Geister nicht zu leisten in der Lage wäre, bedeutet schon die gemütliche Zensur der Kränkung über die eigene Unfähigkeit, etwas Ausformuliertes beizutragen. „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“ – diese anmaßende Lösung des Theorie-Praxis-Problems wurde zum bequemen Argument, sich aufs Faustrecht zurückzuziehen, dem man immer nur solange huldigt, als man der Stärkere zu sein glaubt.

Der Film „Das Tal der Wölfe – Palästina“ sollte zunächst indiziert werden und läuft nun doch mit dem FSK 18 in vielen Kinos an. Ein Film, der Judenvernichtung propagiert und Geschichte fälscht, genießt jetzt sowohl die Atmosphäre des Verruchten, Subversiven als auch den Bonus der weitgehenden Unbedenklichkeitsprüfung. Eine derartige Aufwertung konterkariert das Werbeverbot, das bei indizierten Filmen stattfindet und „Tal der Wölfe-Palästina“ zugedacht war. Konsumiert  und verbreitet werden Filme heute ohnehin durch das Internet. Immerhin wurde durch die Freigabe eine kritische Lektüre des Filmes vereinfacht. Und die ist für alle unabdingbar, die sich eine eigene Meinung machen wollen und dies auch anderen Menschen zutrauen oder die einfach mal über einen schlechten Film lachen wollen.

Der paternalistische Ansatz, nach dem intellektuell oder moralisch nicht gereifte Menschen vor der Ansteckung mit gröbstem Unfug geschützt werden müssten, beschädigt die Autonomie des Individuums. An gerade jenem Unfug, seiner Teilhabe daran und der Reflexion darauf bildet sie sich erst heraus. Die Menschen müssen einer Flut an Unfug standhalten und der Unfug ist systemimmanent. Sie sollen die digitalen Kameras kaufen, die verschwommene, verpixelte, rotäugige Karikaturen einer Fotografie liefern, sie sollen die Messer kaufen, die vom Anschauen stumpf werden, die Wasserkocher, die Wasser lassen, die Wundermittel für die Wunden, die Plakatgesichter der Parteien, aber sie sollen auf keinen Fall einer bösartigen politischen Propaganda ausgesetzt werden. Im wahrscheinlich sogar falschen Glauben an die mediologische Dressur fürchtet man sich vor ihr logischerweise dort, wo sie der Kontrolle enträt. Den Kontrollverlust projiziert man auf die vermeintlich Schutzlosen – die dann sämtlich in der Imago des potentiellen Amokläufers oder Selbstmordattentäters aufgehen. Man will bei der Indizierung „die Jugend“ schützen, als gäbe es nicht genügend gewitzte Jugendliche, die in Sachen Medienkompetenz die gutväterliche Generation weit hinter sich gelassen haben und als wären die  regelmäßigen antisemitischen Demonstrationen in Deutschland Kinderkreuzzüge.

Unter dem Etikett des Jugendschutzes klopfen auch Forderungen nach einer Zensur des Internets an die Türe. Zwei Schülerinnen werden von einem staatlich finanzierten und parteilich kontrollierten Nachrichtendienst interviewt und bezeugen, auf einem Forum im Internet anonym beschimpft worden zu sein. Man sei doch sonst harmonisch unterwegs an der Schule, das schlimmste sei, dass man nicht wisse, wer da geschrieben habe. Den Zwang zur Harmonie mit solchen verdrückten, sadistischen Aggressionen zusammenzudenken ist in Deutschland fremd. Ähnlich  verdrückt wird der alles „erklärende“ Kommentar eingeflochten: „Deutschland hat keine Internetzensur“. Schlimmer noch: Die Läster-Seiten seien in den USA angemeldet. Was für fürchterbare Blüten die von der Leine gelassene Meinungsfreiheit dort zu treiben weiß, ist dem notorisch adstringierten deutschen Volksmund allgemein bekannt. Man redet dort sogar schlecht über fremde Staatsoberhäupter. In Deutschland verkneift man sich den Ärger oder die Lust und sprüht nachts auf eine Hauswand: „XY ist eine Nutte/bläst jedem/ist schwul!“ liest man an jedem Bushaltehäuschen und die sind beileibe nicht in den USA angemeldet. Die Mentalität gleicht sich den Klotüren an. Hygiene – das heißt Zensur, Verbot und Abschiebung – scheint als einzige Maßnahme denkbar. Die Alternative, die Immunisierung durch Aufklärung, ist selbst den Aufklärern bisweilen zu anstrengend – sie lassen sich von der eigenen Ohnmacht dumm machen.

Aufklärung ist in Deutschland in der Tat schwach auf der Brust – das macht allerdings die Zensur von „Tal der Wölfe-Palästina“ um so fragwürdiger. Warum soll ein Film verboten werden, mit dessen Kernaussage weite Teile der Parteienlandschaft und Journalisten d’accord gehen? Geschichtsfälschung hat sich durchgesetzt: Der Angriff der militanten Gruppe an Bord der Mavi Marmara auf Israel wird durchweg als Angriff Israels auf ein harmloses Schiff bezeichnet. Dass der Filmheld das Existenzrecht Israels mit einem flotten Spruch negiert und ihnen ein Land unter der Erde als versprochenes ankündigt trifft sich mit dem Tenor jener Linken, die Israel sein eigentümliches Beharren auf Nationalstaatlichkeit als Romantizismus in Zeiten des so universalen Völkerrechts vorhalten.

Ein schlechter, antisemitischer Film entfaltet keine bombastische Wirkung aufgrund irgendwelcher magischer unbewusster Bild-Inhalt-Codes, sondern weil jenseits der deutschen und europäischen Borniertheit in Bezug auf Israel beachtliche Teile der türkischen Meinung inklusive der AKP bereits Antisemiten sind und diesen Film produziert haben. Hätte er eine so gigantische Wirkung, es wäre ein leichtes, nach dem gleichen Prinzip einen ähnlich wirksamen Film gegen den Antisemitismus und den Antiamerikanismus zu produzieren. Bis dahin bleibt als einziges, auf die Parodien auf Youtube zu warten.

Tunis und die Kälte

Die pathische Kälte,  mit der Deutschland Tunesien behandelt, klirrt durch die Berichte im Fernsehen. Die einzige Sorge wird um heimzubringende Touristen verlautbart. Nach zwanzig Jahren Abfeiern der demokratischen Revolution gegen das DDR-Regime ist heute die kalte Schulter alles, was demokratische Revolutionäre von Deutschland und Europa erwarten dürfen. Die Stille ist das schlechte Gewissen Europas. Eine seit Urzeiten akzeptierte Diktatur in Weißrussland und eine heraufziehende in Russland, ein sich faschisierendes Ungarn und die Barbarei zwischen antiquierten Monarchien des Nordens, mafiösen Staatsrackets im Süden und xenophoben Abschiebefetischisten der Mitte – Europa hat jeden Anspruch verloren, sich überhaupt glaubwürdig zu äußern und es will ja auch niemand mehr etwas glauben oder nicht glauben wollen, wo man doch Entertainment hat.

Im Land, das sich für die Bastion des Fortschritts hält, wird die Höhe von Minaretten diskutiert und es werden Suren auf ihre Gewalttätigkeit hin analysiert, akribische Abschiebepläne müssen täglich aufs Neue erstellt werden, und unbedenkliche Dioxinmengen fürchten die Arbeitenden mehr als die Rente mit 67. Zurückgeblieben ist Europa auf dem höchsten Stand der technischen Möglichkeiten, ein wandelnder Anachronismus, der gefährlicher ist als alle maroden Diktaturen der arabischen Staaten. Der Liebesentzug, der die tunesischen Revolutionäre trifft, ist ein finaler Ausdruck der offenen Kumpanei Europas mit den verlässlichen Diktatoren Afrikas.

Wenn ein Fernsehkommentar die Stimmung nach der Flucht Ben Alis mit der Assoziation „wie bei einer Fußball-WM“ beschreibt, ist der Verfall des kulturindustriell abgetöteten Bewusstseins am Endstadium angelangt. Im Stande der Meinungsfreiheit zensieren sich Nachrichten um jede Information, die auch nur andeutungsweise ein nationales Interesse übersteigt oder gar den Geist fordern würde. Südlich der europäischen Union hört die Meinung auf und fangen andere Kulturen an. Die tunesische Jugend tut gut daran, sich an den USA zu orientieren. Deren Präsident immerhin pries den Mut der Revolutionäre, während aus Paris „Kenntnisnahmen“ zu vernehmen waren und Deutschland Flugzeuge für seine Urlauber organisiert.

Die beliebte Formel, dass eine Entwicklungsdiktatur noch besser sei als ein Wahlsieg von Islamisten, klingt hohl aus einem Europa, in dem Faschisten stabil und expandierend die Parteienlandschaft prägen und von staatstragenden Parteien Islamisten als kultürliche Eigenheiten beweihräuchert und hofiert werden. Fast jede Woche reisen Mitglieder des deutschen Bundestages auf Staatskosten nach Iran, um dem Regime ihre unbedingte Dialogbereitschaft zu beweisen. Europa hat mit seiner Unterstützung von Diktaturen nur geklärt, dass es einer gewählten islamistischen Diktatur ebenso wenig entgegenzusetzen hätte wie es in der Vergangenheit und aktuell gewählten Faschisten in Europa entgegenzusetzen hatte. Im Antlitz der tunesischen Revolution wird Europa seine eigene Katatonie zurückgespiegelt.

„Never again“, „Singularität“ und andere pathische Ideologeme

Einer der banalsten Sätze Adornos, der auf die eigene Banalität schon reflektiert, ist „Den­ken und Han­deln so ein­zu­rich­ten, dass Ausch­witz nicht sich wie­der­ho­le, nichts Ähn­li­ches ge­sche­he.“ Aus diesem Satz wird gerne ein „Imperativ“ gemacht, auf den man sich berufen muss, als könne es das eigene Denken eines jeden nicht selbstständig ohne Nennung des großen Namens zustande bringen. Erneut sei erwähnt, dass es sich nicht um den „kategorischen Imperativ Adornos“ handelt, wie häufig in Unkenntnis des Textes die Phrase gedroschen wird, sondern dass Adorno diesen Imperativ als einen von Hitler der Welt aufgezwungenen benennt. Adornos explizit nicht philosophischer Satz zeichnet kein hohes Abstraktionsniveau aus, sondern das Einfachste.  Keinerlei Bildung oder Ausbildung sollte es bedürfen, um einen solchen Schluss aus der Erfahrung der Shoah zu ziehen. Ihn affirmativ zu zitieren ist ähnlich dümmlich wie eine Definition von Freiheit aus dem Lexikon zu zitieren oder einen wunders was großen Philosophen zur Benutzung eines Alltagsgegenstandes herbeizurufen. Das Zitat verweist vielmehr auf einen rituellen Charakter einer Beschwörung, als könne die Nennung schon ein allgemeines Bewusstsein schaffen, das zur tatsächlichen Verhinderung beitrage.

Ähnlich verhält es sich mit der vielberufenen „Singularität des Holocausts“. Dass sich hier etwas grauenvoll Besonderes, ein für allemal Hervorstechendes ereignete, merkten auch und gerade die Ungebildeteren. Gegen Leugner und Relativisten war diese Phrase als Therapeutikum angedacht. Den Eliten heute dient der zur Phrase geronnene Satzbaustein  eher zur Verblindung gegen tatsächlich Besonderes gegenüber Ähnlichem und Anderen und als immunisierenden Merksatz zum getrosten Weitermachen wie bisher.

In einem Artikel über Rwanda schrieb ich:

Jegliches Kategorisieren und Vergleichen droht angesichts der absoluten Barbarei in Rationalisieren abzugleiten. Auschwitz wird sich nicht wiederholen, es hat sich nie wiederholt und es war immer schon ein Teil eines noch größeren Grauens.
Dass jedoch nichts irgend Ähnliches geschehe ist gleichsam der Kern des von Adorno nur mühsam ausformulierten kategorischen Imperativs der Menschheit nach Hitler. In Ruanda zeigten moderne Demokratien zum wiederholten Male, dass sie nicht in der Lage noch Willens sind, Völkermorde zu verhindern. Jedes Fazit erübrigt sich.

Dieses Ähnliche geschah zu oft, als dass man sich die Nichtbeschäftigung damit mit dem Verweis auf die Singularität von Auschwitz erspart. Dieser Singularitätsfetisch führt letztlich dazu, dass Todeslager wie Sobibor oder die Massenerschießungen im weiteren Osten nicht mehr als Teil der industriellen Vernichtung gedacht werden, die Auschwitz zum Inbegriff des Grauens – und selbst dieses Wort ist zu schwach für das Namenlose – machte. Paradox gegen die „Singularität“ steht die vollmundige Forderung „Never Again“, die von Überlebenden vorgetragen noch äußerstes Recht hat, 2010 aber nur noch abgeschmackt klingt. Auschwitz konnte sich nicht wiederholen. Ähnliches hat sich  zu oft ereignet: In Kambodschas Lagern, in denen Millionen von Intellektuellen und Städtern  tatsächlich dem gleichen Prinzip der Vernichtung durch Arbeit ausgesetzt waren, das in Deutschland nicht erst ersonnen wurde und auch im jungtürkischen osmanischen Reich schon als instinktives Verfolgungswissen gegen Armenier verwendet wurde. In Litauen wurden 95% der Juden von einer hasszerfressenen Gemeinde an Ort und Stelle ermordet. Sehr Ähnliches geschah in Ruanda, wo Nachbarn zu Mördern wurden und nun Überlebende mit Mördern Tür an Tür auskommen müssen. An der Weiterentwicklung von Techniken der Folter und dem Verschwindenlassen, die in Südamerika genozidale Diktaturen prägte, hatten geflohene Nazis entscheidende Anteile. In Asien bedurfte es keiner Nazis, um die gleichen Techniken zu erfinden und zu verfeinern. Allen Opfern schlägt das zuallererst identitäre „Never again“ ins Gesicht. Die magische Formel ist ein neurotisches Prinzip, das Realität durch Wiederholung des Spruchs abdrängen will. Der Satz dient nicht mehr dazu, mahnend an den Holocaust zu erinnern und ihn erst ins Geschichtbild zu rücken, sondern er hat die fatale Konsequenz, das inzwischen geschehene Ähnliche auszuklammern, als sei es nie geschehen. Die Parole ist nur der Gärschaum eines ganz unreflektierten Wunsches nach dem Gutseinkönnen. Wo sie erklingt, muss man sich die ernsthaftesten Sorgen machen, dass hier keinerlei echte Widerstandskraft zu erwarten ist, die über die Parole hinaus zu handeln und zu denken weiß.

Der Lügenbolzen

Norbert Bolz, von Beruf Vorzeigeintellektueller, hatte einst nach jahrelanger Kommunikationsforschung Überraschendes festgestellt:

„In der von den Massenmedien formatierten Öffentlichkeit ist Kritik durch Moralisierung ersetzt worden: Zwischen den Polen Lob und Tadel wird das Nachdenken eingespart, in Feuilletons und Talkshows wird längst nicht mehr diskutiert, sondern nur noch emotionalisiert.“

Ein detailreicher Befund, der anscheinend nicht unbedingt zur Umsetzung im eigenen Gerede führt. Sein neuester Gimmick ist ein Artikel in der Tageszeitung mit dem Titel „Linke Lebenslügen“. Gar nicht emotionalisierend wird der Titel mit einer Kopftuch tragenden Frau illustriert, die am Schild „Kottbusser Tor“ vorbeiläuft. Ob hier eine Selbstmordattentäterin auf dem Weg zur Arbeit abgebildet ist oder eine Kommunikationswissenschaftlerin mit Stipendium vom Goethe-Institut kann man nicht so genau sagen  – die Unterschrift suggeriert jedenfalls, hier gebe es laut Norbert Bolz keine Linken. Stattdessen gibt es da Fremde, schlimmer noch, Fremde, die nicht von hier sind und das führt Bolz zu seinem Ziel: Einer „Integrationsdebatte“.

Selbst wenn es eine solche Integrationsdebatte tatsächlich gäbe, man müsste befürchten, die Kritik daran in einem Zitat von Adorno/Horkheimer aufgehen lassen zu können:

„Das Wunder der Integration aber, der permanente Gnadenakt des Verfügenden, den Widerstandslosen aufzunehmen, der seine Renitenz herunterwürgt, meint den Faschismus.“ (Adorno/Horkheimer DdA 138)

Bolz entspricht in seinem narzisstisch verplombten, autoritären Charakter voll und ganz dem Verfügenden aus dem Zitat. Sein Urteil blendet zwangsläufig jegliche faschistoide Tendenzen aus, die er so sehr selbst vertritt:

„Dass es hier keine Fortschritte gibt, liegt nicht an den Dummen und Ewig-Gestrigen, die man an den Stammtischen vermutet, sondern an den Linken.“

Bolz muss erst gar nicht nachweisen, ob eine Relevanz einer „linken“ Position zur Integration überhaupt je in irgendeiner Gesetzgebung gegeben war. Er denkt in seiner Schlafmützigkeit ja selbst noch in Kategorien wie „rechts“ und „links“. Auch eine emische Entfaltung dieser Etiketten müsste schlüssig machen, dass Kulturalismus, Ethnozentrismus und eine verquere Toleranz tatsächlich der „Linken“ bevorzugt eigen wären. Diese Ideologeme prägen allerdings nicht minder die nationalistischen und islamistischen Bewegungen, die Toleranz vor allem für die eigene und fremde völkisch-bornierte Barbarei markieren wollen. Eine Arbeit an Gegenständen interessiert Bolz aber auch gar nicht, er will ja als Mythenzertrümmerer in die Geschichte eingehen:

„Erstens: der Mythos der Ausländerfeindlichkeit. Kranke Hirne unter Glatzen, Springerstiefel und Kampfhunde gibt es überall in der Welt. Aber diese Verrückten, für die wir in Deutschland aus historischen Gründen natürlich besonders sensibel sind, sollten doch nicht den Blick dafür trüben, dass wir in einem der ausländerfreundlichsten Länder leben“

Auch das muss der „Wir in Deutschland“ – Wissenschaftler nicht belegen. Er könnte es auch nicht, es ist nämlich schlichtweg falsch. Deutschland ist weder „besonders sensibel“ geworden, noch „eines der ausländerfreundlichsten Länder“. Wovon überhaupt? Der Welt? Wohl kaum. „Ausländerfeindlichkeit“ sei selbst gar ein „Mythos“: so trinkt Bolz sich Deutschland schön. Dabei erspart sich der Wissenschaftler nicht einmal die billigsten Platitüden, um größere gesellschaftliche Gruppen zu bauchpinseln:

„Denn fast jeder, der ein schulpflichtiges Kind hat, fängt an, vernünftig zu werden.“

Dicht beschrieben ist das wahrlich nicht. Fairerweise muss man notieren, dass Bolz wenig Zeit hat. Er muss, nachdem er mit einem im Stahlbad der Fakten und Argumente gehärteten Hammer den ersten Mythos siegreich zertrümmert hat flugs zum nächsten Mythos eilen:

„Zweitens: der Mythos des Multikulturalismus. Zwei Schlagworte markieren die festgefahrene Integrationsdebatte: „Multikulti“ auf der Linken und „Leitkultur“ auf der Rechten. Multikulturalismus ist das Fazit einer mit dem Kolonialismus des 19. Jahrhunderts beginnenden Selbstkritik des Westens, die das Abendland als einen Schuldzusammenhang konstruiert, aus dem uns nur „die Anderen“ erlösen können.

Aber dieser Multikulti-Kult der guten Anderen ist so undialektisch wie die Gegenparole „Leitkultur“. Am Multikulturalismus ist wahr, dass wir die Anderen brauchen. An der Leitkultur ist wahr, dass wir die Anderen nur anerkennen können, wenn wir unserer Toleranz eine Grenze setzen. Nur wer selbstbewusst ist, kann auch offen sein. Wer keine eigenen Werte zu verteidigen hat, kann auch nicht tolerant sein. Wahrer Multikulturalismus setzt eine Leitkultur voraus.“

Würde Bolz die „Anderen“ nicht „brauchen“, wäre der ganze Utilitarismus perdu, der seinen Pseudo-Liberalismus noch am Leben hält. Doch dazu später. Es steht noch ein Stein vom Mythos, der „Deutschenhass“:

„Es ist eigentlich eine ganz selbstverständliche Erwartung, dass Einwanderer sich mit dem Land ihrer Wahl identifizieren. Dass Linke ein solches Bekenntnis zu Deutschland nicht erwarten, ja geradezu verabscheuen, liegt an ihrem pathologischen Verhältnis zum Patriotismus. Gerade hinter ostentativer Ausländerfreundlichkeit versteckt sich oft nichts anderes als Deutschenhass.“

Wie „selbstverständlich“ diese Identifikation ist, bezeugen zahllose Austreibungen und Genozide, Pogrome und Mordbrennereien gegen Einwandernde: Chinesen in Indonesien, Nigerianer in Ghana, Ghanaer in Nigeria, Simbabwer in Südafrika, Zigeuner auf der ganzen Welt, Juden auf der ganzen Welt außerhalb Israels,  Palästinenser im Libanon und überhaupt Ausländer in Europa. Was an der Ablehnung von einer dümmlichen Ideologie für Ich-Schwache, dem Patriotismus, sowie einem Hass auf deutsche Patrioten pathologisch sei verschweigt Bolz – er will ganz unemotionalisierend das patriotische Nationalgefühl seiner prospektiven deutschen Leserschaft abernten. Und denen kann er dann auch mit viel Preisnachlass etwas Elitenduldung verkaufen:

„Drittens: der Mythos von der Unmenschlichkeit des ökonomischen Arguments. Wer heute nicht sieht, dass Deutschland Einwanderer braucht, ist einfach ignorant. Die Frage ist nur: welche? Dass an deutschen Universitäten brillante Köpfe aus dem Ausland ausgebildet werden, denen nach Studienabschluss dann Arbeit und Aufenthalt verweigert werden, ist natürlich ein Schildbürgerstreich. Wir brauchen Kinder und Inder. Vor produktiven Immigranten, die sich mit Deutschland identifizieren, hat niemand Angst.“

Würden sie sich tatsächlich wie Bolz mit Deutschland identifizieren, wäre Grund genug zum Fürchten – meistens fürchten sie sich selbst genug vor den täglich ausgespuckten Drohungen, der Toleranz demnächst Grenzen zu setzen. „Schildbürgerstreiche“ treffen die Schildbürger, was an Elend von derzeitigen Regelungen bei den tatsächlich Betroffenen angerichtet wird ist Bolz in seiner pathologischen Germanomanie schlichtweg unzugänglich.

„Die Akzeptanz der Einwanderer hängt daran, dass die Immigration nicht als Invasion erscheint. Der Eindruck der Invasion entsteht am leichtesten bei Wirtschaftsflüchtlingen und beim Nachzug von Großfamilien. Natürlich muss Deutschland stets politisch Verfolgten Asyl gewähren; aber die Kriterien dafür sollten dem gesunden Menschenverstand nachvollziehbar sein.“

Nicht nachvollziehbar sind die Kriterien für Bolz, wenn Flüchtlingswellen den Deutschen als Invasion erscheinen. Nachvollziehbar sind für Bolzens gesunden Menschenverstand wohl so zwei bis dreitausend Flüchtlinge pro Jahr, die dann aber gefälligst sich fügen und baldmöglichst wieder zurück zu ihren Großfamilien sollen. Das „natürlich“ ist schon Verrat an der langen Geschichte des Asylrechts, das erst erstritten werden musste, bevor es weitgehend abgeschafft wurde und daher eine gar nicht „natürliche“ Errungenschaft ist. Was für Bolz gar nicht geht: Wenn Leute die Chancengleichheit nicht nutzen und einfach zu „Wirtschaftsflüchtlingen“ mutieren, die also keine echten Flüchtlinge sind, sondern stinknormale Hungerleider ohne 66 000 € Jahreseinkommen. Und die werden zu Opfern gemacht, wenn man ihnen was zu Essen gibt:

„Der Wohlfahrtsstaat erwartet nicht, dass man etwas für sein Leben tut – und die Medien dokumentieren, dass man nichts für sein Leben tun kann. Gleichzeitig weiß jeder, dass er sich auf die Humanität unserer Gesellschaft verlassen kann, die ihm – zumindest materiell – ein halbwegs menschenwürdiges Leben ermöglicht. Insofern macht der Wohlfahrtsstaat die Betroffenen, die seine Profiteure sein sollten, zu seinen eigentlichen Opfern.“ (Bolz 2009)

Von was für einem Wohlfahrtsstaat und welcher Verlässlichkeit und welchen Medienbotschaften Bolz hier halluziniert, bleibt unbekannt. Der Wissenschaftler hat sich jedenfalls definitiv nicht mit deutschen Medieninhalten auch nur annähernd hinreichend befasst. Wer dazu Menschenwürde schon zum „halbwegs“ teilt und das dann noch als generöse „Humanität“ regelrecht anprangert, hat sich schon zu dem Formstahl gemacht aus dem auch NsdAP-Soziologen geschmiedet wurden. Bolz gliedert sich entsprechend ein, macht sich nützlich und schmeißt eine zünftige Überraschungsparty für alle, die er noch nicht ausgesiebt hat:

„Deutschland bekommt die Leute, die es braucht. Und die, die dann kommen, sind herzlich willkommen.“ (Bolz 2010)

Schön, dass der chancengleich im Lande geborene Grenzwissenschaftler Bolz das auch so gönnerhaft rüberbringen kann. Was mit den Übrigen geschehen soll, formuliert Bolz gar nicht erst aus, weil jedem ohnehin klar ist, was der derzeitige Usus vorsieht: Ausschaffen, ins Meer treiben oder an Ort und Stelle verhungern lassen.

Bolz, Norbert 2010: „Linke Lebenslügen.“ In: Tageszeitung: http://www.taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/linke-lebensluegen/

Bolz, Norbert 2008: „Modernes Leben – Geistiger Selbstmord.“ http://www.focus.de/kultur/leben/modernes-leben-geistiger-selbstmord_aid_299051.html

Bolz, Norbert: „Irgendwas kann man immer werden.“ http://www.wiwo.de/lifestyle/irgendwas-kann-man-immer-werden-397894/

District 9 – Kritik vom Feinsten

Subversion ist innerhalb des Systems der Kulturindustrie nur als Konterbande möglich, wie auch Ideologie selbst als Schmuggelware gerade den realistischsten Dokumentationen aufsitzt. (Vgl. Adorno 1963, S. 60)

Neil Blomkamp und die nicht unleserliche Handschrift Peter Jacksons im Film  District 9 denunzieren im Stil des populär gewordenen Mockumentary-Genres den Realismus. Dieses Genre bleibt nicht Effekt, es wird dialektisch mit seinem Antagonismus, dem Hyperrealismus der Animationen vermittelt. Der Grad der tatsächlichen dokumentarischen Recherche enträt der bekannten Formel von Form und Inhalt, die man sich  scholastisch als siamesische Zwillinge vorzustellen beliebt. Der Wahrheitsgehalt der Bilder hängt nicht von der jeweiligen imitierten Form ab, sondern erschließt sich aus einem Übergewicht des mittels Erfahrung aufzuspürenden Inhalts. Die Darstellung der nigerianischen Bande ist sowohl eine dem Märchen entlehnte Figur der Räuber, die für die Vermittlung zwischen Zivilisation und Wildnis zuständig sind, als auch eine  glaubhafte Darstellung der Möglichkeiten. In anderen Filmen wird diese Karte für exotistisches Blendwerk gespielt. In District 9 wagt man es, über die Fiktionalisierung eine Kritik  zu leisten, die idiosynkratischeren Geistern rasch als rassistisch gilt. Die Kritik gilt der afrikanischen wie auch der kolonialistischen Epistemologie. Auf welchem Wege ist die Aneignung von Wissenschaft, von gänzlich äußerlichen Technologien denkbar? Für die bürgerlich-imperialistische Gesellschaft ist die expansive Kolonisation des Anderen der gangbarste Weg: Experimente mit zu Sachen gedachten Individuen, die Vivisektion, die Kolonisation und absolute Kontrolle der Körper – geschützt mit dem Argument, das Michel Foucault in einem seiner genialeren Momente als „Biomacht“ kritisierte (wenngleich nicht analysierte).

Die „nigerianische“ Lösung, das Aufessen der Machtsymbole, die Inkorporation ins Organische, ist zugleich die Misere des afrikanischen Kontinents: Die Abstraktion und Akkumulation von Wissen erscheint unmöglich, wo der gesamte wissenschaftliche Prozess räumlichen Disjunktionen unterliegt – er findet als ökonomisch vermittelter zu mehr als 90 % in Europa, Amerika, Asien und Israel statt. Mit den gigantischen Krisen, die Afrika seit der Entkolonisierung heimsuchten, entstand ein ausgeprägtes Analphabetentum, das ideologische Geflechte produzierte. Die Konfrontation mit arbeitsteilig und durch Schrifttum akkumuliertem Wissen, genauer gesagt, mit dessen dinglichen Effekten, den Waren, verläuft ambivalent als Bewunderung und Schrecken. Die Weißen würden ihre Hexereikraft für positive Dinge nutzen, etwa um Mobiltelefone herzustellen, lautet ein verbreitetes Ideologem. In der Verzweiflung über den verbauten Zugang zur Wissensgewinnung wird die Bricolage mächtig: Die Methode folgt der Intuition, die Form des Wissens – der Code und das Geheimnis – gilt schon als dessen Inhalt. Das aus der Psyche hervorsteigende Begehren, mit dieser technologischen Macht identisch sein zu wollen, wird als orales zur gleichsam schlüssigen Methode der Erforschung des Anderen. Das Verspeisen eines außerirdischen Armes würde dessen Macht übertragen. Das Denken wird als Sehen gedacht – Sehen in eine Welt, in der alle Informationen schon fertig abrufbar sind. So sind es die Seher und Orakel, die in District 9 ihre berechtigte Rolle als bedeutende Institution im südlichen Afrika haben. Ihre Hybris wird ebenso tief gestürzt wie jene der vom Individuum abstrahierenden Wissenschaftler. Darin liegt der unschätzbare subversive Wert von District 9. Er instrumentalisiert weder die exotistischen Bilder, noch übt er Aufklärungsverrat – er bleibt negativ. Zutiefst ernsthaft lässt er sich auf das weitläufige Phänomen der Muti-Morde in Südafrika und Nigeria (u.A.) ein, (vgl. Niehaus 2001) ohne die Parallelen zu kolonialistischen Körperausweidungen und Menschenversuchen aus den Augen zu verlieren. Die Rainbow-Nation, das Ideologem des multiethnischen Südafrikas, wird aufs gründlichste auf ihren Ist-Zustand hin demontiert. Dieses hat sich bereits während der ersten Wahlen in der „Black-to-Black-Violence“ zerfleischt. Hexenjagdopfer, Frauen, weiße Farmer sind weitere tägliche Opfer der unterirdischen Nachbeben einer grotesk fehlgeschlagenen Aufklärung. In den Pogromen gegen Einwanderer und Flüchtlinge vor allem aus Simbabwe kam nicht das erste Mal ein afrikanischer autoritärer Charakter zu sich, der auch nicht erst in den Townships genährt wurde. Diesen autoritären Charakter zeigt District 9 als beidseitiges, universales Phänomen. Ob nun der weiße Wikus sadistisch kichernd die Eier der Aliens sabotiert oder ob die Afrikaner auf der Straße ihrem  ganz bodenständigen Austreibungswunsch Luft machen – der ganze Brei sieht von allen Seiten gleich frustrierend aus. Von daher ist District 9 die Impfung gegen jene schwülstigen, romantisierenden Anti-Apartheid-Produktionen wie „Goodbye Bafana“ und gegen den Fussballtaumel der Weltmeisterschaft – nicht sehr entfernt ähnelt das Raumschiff übrigens einem Stadion. District 9 kritisiert das rassistische Potential noch einer komplett gemischten Gesellschaft, die in der Akkumulation von Verfolgungswissen fortgeschrittener und auf demokratische Bedingungen hin verfeinerter ist als die frühen rassistischen, diktatorischen Regimes. Mehr noch: In der Darstellung einer depravierten Klasse von Aliens verweigert er den Unterdrückten den ihnen so oft unterstellten Heroismus. Ihre potentiell gigantische Waffengewalt bleibt fruchtlos, weil kein revolutionärer Geist sich gebildet hat, der das notwendige Moment des Widerstandes gegen den Austreibungswunsch ist. Einzige sparsame und dadurch um so eindrücklichere eskapistische Momente bilden die distanzierte Liebe zur idealisierten und sexuell überlegenen Frau, die mimetische Anverwandlung ans Andere und die Emigration der beiden einzigen Intellektuellen.

Literatur:

Adorno, Theodor W. 1963: „Fernsehen und Bildung.“ In: Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt a.M., Suhrkamp Verlag.

Niehaus, Isak 2001: „Witchcraft, Power and Politics. Exploring the Occult in the South African Lowveld.“ London, Pluto Press.

Blomkamp, Neill 2009: „District 9.“

Blomkamp, Neill 2009: „Alive in Joburg.

Dem Rambo sei Gsicht

„Rambo zeigt sein Gesicht“ prollt es vom Fronttransparent der S21-GegnerInnen und von der taz-Titelseite. Im Fernsehen zeigen gealterte ErstdemonstrantInnen ihre Freude darüber, Mappus als „Rambo“ identifizieren zu können: „Des isch ein Rämbo, ein Rämbo isch des!“

Das Glückgefühl, das unheimliche Bedrohliche in einem Wort gebannt zu sehen, ersetzt den DemonstrantInnen jede weitere Denkarbeit. Rambo, das ist das Böse, das Feindliche, die Aggression, die sie selbst nur mühsam ihm Zaum halten, der Amerikaner – Gegen Rambo sein heißt gut sein. Fern der diskutablen Qualität ihrer Anliegen muss den StuttgarterInnen Stupidität konstatiert werden. Wären sie Revolutionäre, John J. Rambo wäre ihr Idol, nicht ihr Feindbild. Er, der langhaarige Hippie, wird schließlich in „First Blood“ von Polizisten gefoltert und probt dagegen den Aufstand, indem er einer spießigen amerikanischen Kleinstadt die Quittung für ihre xenophobe Beschränktheit präsentiert. In „First Blood II“ sieht er sich mit einem Komplott der Regierung konfrontiert, gegen das er obsiegt. In „Rambo III“ ist es ein folternder Sowjet-Offizier, den er in Afghanistan herausfordert. In „John Rambo“ zerlegt ein gealterter Haudegen die Infanterie der burmesischen Todesschwadronen und bringt den Rebellen Waffen. In jedem Film finden sich Matritzen des Machtmissbrauchs, keine wird von John J. Rambo vertreten, alle von ihm angegriffen. Das muss zumindest ein Teil der Demonstrierenden wissen – es liegt daher nahe, dass sie sich schon unbewusst mit dem Prinzip identifizieren, gegen das John J. Rambo antritt. Sie hausieren mit ihrem Konformismus, und dieses Hausieren wird nur verstärkt durch das Missverhältnis von Aufwand und Gegenstand.

Während die Streiks in Frankreich als „Chaos“ denunziert werden – sie sind mehr als alles andere die geordnete Organisation der Bürger – gehen die Kleinbürger im benachbarten Landstrich gegen einen Bahnhofs-Neubau auf die Straße. Der Satiriker Harald Schmidt spießte präzise aus, was er am Protest verachtenswert findet: Dass diese Leute stolz darauf sind, zum ersten Mal in ihrem Leben demonstrieren zu gehen. Sie tolerieren, dass Ghaddafi Milliarden für die Flüchtlingsbeseitigung zugeschoben bekommt. Sie dulden oder befördern Abschiebungen. Die Rente mit 67 wird geschluckt, ebenso alle milliardenschweren und sinnlosen Subventionen für Zuckerrüben, Mais, Weinbau, Viehzucht und sonstiges Agrobusiness, das die afrikanische Landwirtschaft in den Ruin treibt. In Baden-Württemberg bekommt jedes Schlafzimmer seine Umgehungsstraße und ein eigenes Gewerbegebiet mit Autobahnzubringer, Atomkraftwerk und Flughafen – im Zweifelsfall auch gerne im Hochmoor. Wenn im niedersächsischen Gorleben oder in der Asse Milliarden beerdigt werden für den schwäbisch-badischen Atommüll, demonstriert nur ein winziger Bruchteil der StuttgarterInnen. Sie haben die Relationen aus den Augen verloren – ihre dümmliche Identifizierung von John J. Rambo und Mappus ist nur ein weiterer Ausdruck dessen.

Siehe auch:

„Rambology – mit John J. Rambo durch die Dialektik der Aufklärung“

„Der Sohn von Rambow – Rezension“

„Dei Mudder sei Gsicht“ (Eine Alternativproduktion zur Kritik schwäbischer Disintegration in die Moderne)

„Dschihad in der City“ will den Dschihad in der City

„Dschihad in der City“ ist einer jener Filme, die sich vor allem durch ihr Ende durchstreichen.

Ein junger Brite mit pakistanischen Eltern wird im ersten Teil des Zweiteilers porträtiert. Er geht nach einer islamistischen Propagandaveranstaltung zum MI-5 um Terroristen zu bekämpfen – die plötzlich überall in seiner muslimisch-pakistanischen Nachbarschaft, unter Freunden und Verwandten sich manifestieren. Als Pakistani erlebt er Rassismus, sieht darin allerdings keinen Grund, gegen die Gesellschaft loszuschlagen, der er laut eigenen Worten „alles verdankt“. Die islamistische Szene erscheint nur in ihrer camouflierten Oberfläche der sozial engagierten, friedensbewegten Underdogs. Der erste Teil findet sein Finale im üblen Cliffhanger: Ausgerechnet seine Schwester steckt hinter einem Terrorkomplott und hat inmitten einer öffentlichen Veranstaltung den Zünder in der Hand, als der Bruder sie entdeckt.

Der zweite Teil folgt der Schwester. Sie wird in unwahrscheinlicher Naivität gemalt. Als zunächst westlich orientierte Frau mit einem christlichen schwarzen Freund besucht sie an der Universität Propagandaschulen von Dschihadisten. Zwei zentrale Prüfungen werden ihr auferlegt, als sie demokratische Teilhabe dem Terror entgegensetzt. Der Ideologe fordert sie auf, ein Anti-Terror-Gesetz zu nennen, das durch Proteste gestoppt worden sei. Sie schweigt beschämt. Außerdem befiehlt er ihr, die Emanzipation der Frau in der westlichen Gesellschaft dadurch zu prüfen, dass sie einen Tag im Hijab verbringen solle. Sie erlebt erwartungsgemäß negative Reaktionen. Als ihre Freundin nach erheblichen Drangsalierungen im Rahmen der Anti-Terrorgesetze sich suizidiert, heuert sie bei den Terroristen an, provoziert den Vater mit dem Geständnis ihrer Beziehung zu einem schwarzen Christen dazu, sie nach Pakistan zu schicken. Ihr Freund folgt ihr, wird von der Familie gestellt und fast totgeschlagen. Sie macht dennoch ihre Schulung zur Selbstmordattentäterin durch, bezeugt stets aufs Neue den Sexismus der islamischen Männer und geht trotzdem zurück nach London. Am Ende betätigt sie den Zünder, der sie im letzten Moment verzweifelt umarmende Bruder kann sie nicht davon abhalten.

Bis dahin folgt der Film noch zentralen Erkenntnissen über ambivalente psychologische Konstitutionen von Selbstmordattentäterinnen zwischen Emanzipationswunsch und umgelenkter Aggression. Die islamistische Propaganda wird in ihrer professionellen Dumpfheit dargestellt. Zentraler Aufhänger der Agitation sind die „Brüdern und Schwestern im Irak und Palästina“, die angeblich zu Millionen „ermordet und vergewaltigt“ werden – übrigens eine ganz interessante stereotype Verdrehung der Tatsache, dass Islamisten die Blutbäder in Irak und Afghanistan veranstalten: Der Terror wird sich selbst zur tautologischen Legitimation. Die Protagonistin schluckt aber alles in einer Art Adoleszenz-Verwirrung und Trauer um ihre Freundin.

Mit dem finalen Zünden ihres Sprengstoffgürtels wird der Bildschirm schwarz. Dann folgt ihr Bekenner-Video, in dem sie die Propaganda der islamistischen Ideologen wiederholt. Es folgt unmittelbar der Abspann mit der Moral: Eine Statistik der Muslime, die glauben, der Krieg gegen den Terror und die Anti-Terrorgesetze richte sich gegen sie.

In dieser letzten Minute des Filmes gerät er zur übelsten dschihadistischen Terror-Propaganda. Er schwenkt auf jene Schiene der islamistischen Agitatoren ein, die konkrete politische Zustände zum Vorwand nehmen, weitaus Schlimmeres anzurichten. Grotesk zeichnet er den Terrorismus als Massenphänomen bei Muslimen in der britischen Gesellschaft und unterstellt jenen 80 Prozent von Muslimen, die Angst vor Diskriminierung oder die Ressentiment haben, die Bereitschaft, sich deshalb einen Sprengstoffgürtel umzulegen und ein öffentliches Konzert zu sprengen. Er schürt sublim im dauernden Zeigen der Bauchprothese, in der die scheinschwangere Muslima bestens getarnt ihren Sprengstoff verbirgt, Angst vor muslimischen Frauen und ihrer Sexualität. Mehr als die Anti-Terrorgesetze verdächtigt der Film alle Muslimen der Bereitschaft zum Terrorismus.

Die Angst vor dem Terrorismus wird somit angefacht und zugleich der Terrorismus selbst als Reaktion von Unzufriedenen propagiert. Das Selbstmordattentat hat man seiner aggressiven Momente bereinigt und zum Suizid verklärt, dessen Beweggründe Trauer und Enttäuschung seien. Vom antisemitischen, menschenfeindlichen Wahn der islamischen Terroristen ist nicht die Rede, weil dies die plumpe Gesellschaftskritik überfordern würde. Der Islamist ist privat ein netter Menschen, der halt nicht aus seiner Haut kann und mit einer gehörigen Portion Pech und Diskriminierung ganz menschliches Opfer bleibend Menschen in die Luft sprengt. Das beeindruckt sogar die FAZ: „Man kann daraus lernen.“

Wie diese Verklärung des Selbstmordattentates zur radikalen Protestform überhaupt als Ideologem bestehen kann, erklärt sich aus einer Ahnung darum, wie es tatächlich um gesellschaftliche Zusammenhänge beschaffen ist. Das Selbstmordattentat richtet sich wie der verwandte Amoklauf gegen alle und gegen sich selbst. Die politische Ideologie, die daraus eine Protestform macht, spürt vernebelt etwas vom Fetischcharakter: alle tun etwas und wissen aufgrund der so entfesselten dämonischen Macht nicht mehr, dass sie selbst es tun. Nasima betont die Anklage an alle in ihrem Schlussplädoyer, das eines des Filmes ist. Die äußerste denkbare Form, ein solches vertracktes Ding abzuschaffen, ist „Alles“ abzuschaffen, alles zu vernichten und kaputt zu schlagen. Die Wahl fällt darauf, das Feindlichste der Drohung noch zu vertreten, das man gegen sich selbst gerichtet sieht. Der Islamismus wie jene Ideologien, die ihm das Wort reden sind Zerfallsprodukte bürgerlicher Ideologie. Ihre Sprache strahlt die bürgerliche Kälte aus, der Aufrechnung von Opfern als wären es absehend von der Qualität ihres Todes Äquivalente, die nun mal bezahlt werden müssten.  Mit einem Quentchen Unglück kann dabei jeder vom Tellerwäscher im Terror-Camp zum Top-Terroristen in London werden. Was da an Psychodynamik und ideologischen Komplexen hinzutritt  wird ausgeblendet. Alle Charaktere bleiben mit sich identisch, zur Wahl begabt und zugleich Treibhölzer auf dem gesellschaftlichen Einfluss. Diese Verkürzung ist mitnichten lehrreich. Sie offeriert  und goutiert Legitimationsformen für das Handeln beider Charaktere im Film und wird so zum moralischen Quodlibet.

Weitaus lehrreicher war die ethnologische Dokumentation der Israelin Natalie Assouline in einem israelischen Gefängnis für verhinderte Selbstmordattentäterinnen mit dem Titel „Allahs Bräute„, die hier ausdrücklich und vorbehaltlos empfohlen sei.

Schuld und Abwehr nach der Massenpanik

Nach dem Tod von 20  Opfern der Massenpanik in Duisburg werden Verantwortliche gesucht – mit allen Merkmalen einer kollektiven Verdrängungsleistung.

Da ist zunächst die Rationalisierung durch Naturalisierung. Ein Psychologe erklärt im Fernsehen die Wirkung von Panik: In der Umgehung des Großhirns gelangen angsterregende Informationen direkt zur Amygdala und lösen dort reflexionslose Handlungen aus. Auf dem gleichen Niveau bewegen sich die zahlreichen „effects“, die angeblich natürlich in Menschenmassen stattfänden.

Ein anderes Symptom ist die durchaus zu befürwortende Suche nach Verantwortlichen auf höherer Ebene: aus ökonomischen Gründen seien Sicherheitsbedenken, die vorher im Internet geäußert wurden, von Veranstaltern und Stadtpolitik nicht berücksichtigt worden. Mal ist es der Oberbürgermeister, mal wieder der Veranstalter.

Und nicht zuletzt richten sich krude reaktionäre Ideologien am Ereignis auf. Eva Hermann (bereits früher Thema) will in Sexualität und Dekadenz die Ursache für die Panik sehen und projiziert die Schuld auf die 68-er. Die Junge Welt projiziert ihre eigenen Qualitäten auf die Raver:  unintelligent und dumpf seien die, hätten es kaum besser verdient.

Was bislang unbesprochen bleibt: Die Schuld der Masse, die sich nicht spontan auf eine erkennbare Bedrohung hin zu organisieren wusste. Jede und jeder der da mal im pubertären Scherz, mal in der freudigen Erwartung bald mit Oliver Pocher und Vladimir Klitschko zu raven, mal aus unbändiger Angst heraus drückte, schob und trampelte hat seinen Teil beigetragen zum Tod der 20. Dadurch wird eine für das Selbstbild unerträgliche Schuld aufgehäuft, was in Verdrängung und Projektion mündet. (vgl. Theodor W. Adorno: „Schuld und Abwehr“)

In dem gewaltsamen Paroxysmus erschrickt die neobürgerliche Gesellschaft vor ihrem entschleierten Gesicht. Hier haben alle gegen ihre Interessen gehandelt indem sie ihr Interesse, das eigene Überleben, vertraten. Die Einzelaktionen entfalten in der Masse eine Gewalt, die jedes Individuum für sich machtlos werden lässt, es unter tonnenschweren Druckwellen von den Beinen reißt, wo es selbst nur ein paar Kilogramm nach vorne drückte. Die eigene Ohnmacht dem gegenüber wird internalisiert.

Und so folgt zwangsläufig der Appell an den Staat, solche Massen besser zu überwachen, damit sie sich nicht selbst gefährden. Das setzt ein Bild von Unmündigkeit voraus, das gar nicht einmal falsch ist in der Diagnose sondern in seiner Zementierung der Verhältnisse. Keiner suggeriert, dass es nicht so sein müsste. Dass sich Millionen lustvoll und selbstbewusst treffen könnten ohne vor der Macht, die diese Menge ausstrahlt in Verzückung oder Panik zu verfallen, ohne dieser Masse für die Entbindung von Strafinstanzen zu bedürfen und demzufolge von ihr auch das schlimmste  – Bestrafung – zu erwarten. Die Sicherheit, nicht aus dieser Masse herauszufallen wird erst durch eine tief empfundene Angst zur Lust, wobei die Lust nur noch jene der Strafvermeidung ist und nicht mehr an ihr ursprüngliches Begehren gebunden ist. (vgl. Theodor W. Adorno: „The stars down to earth“)

Fest etabliert sich so die Unmöglichkeit der abhängigen Individuen zur massenhaften Solidarität, zur Bewusstwerdung der Gewalt angehäufter Einzel-Entscheidungen. Die Massen können Stahlgitter verbiegen und sprengen aber nicht jenen Schwächeren helfen, die straucheln und zurückbleiben.