Oskar Graf, der 1933 dagegen protestierte, dass seine Bücher bei der Bücherverbrennung von den Nazis übersehen wurden, und für den 1934 eine separate Bücherverbrennung nachträglich organisiert wurde, jener aufrechte Oskar Maria Graf hatte viel zu sagen über gescheiterte und erfolgreiche Annäherungsversuche. In seinem „Bayrischen Dekameron“ findet sich auch jene Geschichte von der Heirat vom hochchristlichen Schlemmer-Wastl und der nicht minder frommen Rehbinder-Traudl.
Schon das ganze Heiratmachen ging sehr hart zwischen dem Wastl und der Traudl. Der alte Schlemmer mußte mit seinem Sohn hinübergehen nach Boling und bei Rehbinder die Rede vorbringen. Der Wastl stand dabei, sagte nicht gick und nicht gack, schier so wie mit einer vollen Hose. Die Traudl hockte bei ihrer Mutter auf der Bank, die Augen niedergeschlagen, die Hände ineinander auf ihrem Schoß, und schließlich fing sie das Flennen an. Eine rechte Umständlichkeit war es. Der Schlemmer wurde zuletzt ärgerlich und sagte: „No, nachha müaßt’s hoit it heiratn, wennd’s enk oi zwoa schaamts.“
In der doch noch stattfindenden Hochzeitsnacht wird den beiden dann doch die Frömmigkeit zu arg:
Jetzt stieg’s den zweien erst recht in den Sinn, wie sündhaftig das sei, Mannbild und Weiberts nachts allein in einer Eh’kammer. Dem Wastl kam vor lauter Verlegenheit ein Drang an, so gewaltig, daß ihm ein lauter Wind hinterrücks rauskam. […]
Der Wastl schwang sich auf und gab seiner jungen Bäuerin ein Bussel. Sie röchelte und stöhnte fast weinerlich: „Wa-wastl! Wa-stei!“ Wenngleich aber jetzt Sündhaftigkeit und Heiligmäßigkeit unter dem Wastl seiner Brust hart kämpften und die erste schon halbwegs die Oberhand gewann, er raffte seine ganze Bravheit zusammen. „Trau-au-dei!“ stotterte er wieder und wieder heraus, ganz windelweich. Auf das hin erfaßte die Traudl doch ein arges Mitleid und sie legte sich ins Bett. Der Wastl fiel ihr schier nach, tapsig und dalgert wie eine einhaxerte Henne. „Trau-au-dei!“ flennte er fast: „A-a Bussei, Trau-au-dei!“ Und – gut ist’s, wenn ein Mensch Mitleid im Herzen hat – also sagte halt die Traudl, weil sie so was schon einmal gelesen hatte: „Grüß Gott, tritt ein, bring Glück herein, Wastl.“
Das Bayrische, eine der Einwanderung psychoanalytischer Begriffe ganz unverdächtige Sprache, hat neben solchen recht katholischen Verklemmungen eine der syntagmatisch kürzesten Möglichkeiten kreiert, Konsensualität zwischen prospektiven Sexualpartnern herzustellen: „Mogst?“. Die Antwort schwankte dann je nach Situation zwischen einer saftigen „Watschn“, einem „Di Brenzsoiza werd I grod no zum Fensterln hoin!“, einem „I daad scho gern meng!“ und einem „Gscherter Hamme, lass hoit aus aa, wenn uns no oana sigt!“ Bisweilen lautete die Antwort auch „Aba heirotn muaßt mi fei scho aa, göi!“ – was in der Literatur meist als sicherste Methode gilt, den Verführer in die Flucht zu schlagen.
Seine Geschichten gestaltet Graf mit einem psychologischen Feingeschick aus, das genau um die vielen Zwänge weiß, die Männern und Frauen ihre Lust wahlweise verleiden oder sie in Gewalt am Anderen umschlagen lassen, das aber auch die lustbejahende, einvernehmliche Lösung als überlegene präsentiert, am schönsten noch in seiner Geschichte von Wally und ihren 16 Liebhabern, dem „Theodor-Verein“. Die promiskuöse Kellnerin weiß sich gegen die Anfeindungen von den Ehefrauen der Liebhaber resolut zu verteidigen:
„A so a Loadsau… A so a Dreckfetzn!“ haben die entrüsteten Weiber von Aching über die Wally geschimpft. Die hingegen hat sich gar nicht versteckt und kühn ist sie jeden Tag mit dem Kinderwagerl durch die Straßen gefahren. „Ös?“ hat sie zur bissigen Reblechnerin gesagt: „Ös?…? Ös derhoits ja net amoi oa Mannbild, aba bei mir kinna zwanzge kemma, nacha bin i oiwai noch ganz!“
Graf denunziert Sexualfeindschaft und ihr Resultat, die sexuelle Gewalt, was sein Dekameron zu einer wahrhaft Freud’schen Lektüre macht. Der beschrieb in seiner Schrift „Zur Einführung des Narzißmus“ das Problem der Verliebtheit in weitaus gewählteren Worten als Graf:
Die volle Objektliebe nach dem Anlehnungstypus ist eigentlich für den Mann charakteristisch. Sie zeigt die auffällige Sexualüberschätzung, welche wohl dem ursprünglichen Narzißmus des Kindes entstammt, und somit einer Übertragung desselben auf das Sexualobjekt entspricht. Diese Sexualüberschätzung gestattet die Entstehung des eigentümlichen, an neurotischen Zwang mahnenden Zustandes der Verliebtheit, der sich so auf eine Verarmung des Ichs an Libido zugunsten des Objektes zurückführt.
Im Gegensatz dazu typisiert er einen klassisch weiblichen Verlauf:
Hier scheint mit der Pubertätsentwicklung durch die Ausbildung der bis dahin latenten weiblichen Sexualorgane eine Steigerung des ursprünglichen Narzißmus aufzutreten, welche der Gestaltung einer ordentlichen, mit Sexualüberschätzung ausgestatteten Objektliebe ungünstig ist. Es stellt sich besonders im Falle der Entwicklung zur Schönheit eine Selbstgenügsamkeit des Weibes her, welche das Weib für die ihm sozial verkümmerte Freiheit der Objektwahl entschädigt. Solche Frauen lieben, strenggenommen, nur sich selbst mit ähnlicher Intensität, wie der Mann sie liebt. Ihr Bedürfnis geht auch nicht dahin zu lieben, sondern geliebt zu werden, und sie lassen sich den Mann gefallen, welcher diese Bedingung erfüllt.
Freud führt diese offenbar von Nietzsche inspirierte Beobachtung fort:
Es erscheint nämlich deutlich erkennbar, daß der Narzißmus einer Person eine große Anziehung auf diejenigen anderen entfaltet, welche sich des vollen Ausmaßes ihres eigenen Narzißmus begeben haben und in der Werbung um die Objektliebe befinden; der Reiz des Kindes beruht zum guten Teil auf dessen Narzißmus, seiner Selbstgenügsamkeit und Unzugänglichkeit, ebenso wie die Reize gewisser Tiere, die sich um uns nicht zu kümmern scheinen, wie der Katzen und der großen raubtiere, ja selbst der große Verbrecher und der Humorist zwingen in der poetischen Darstellung unser Interesse durch die narzißtische Konsequenz, mit welcher sie alles ihr Ich Verkleinernde von ihm fernzuhalten wissen.
Es ist so, als beneideten wir sie um die Erhaltung eines seligen psychischen Zustandes, einer unangreifbaren Libidoposition, die wir selbst seither aufgegeben haben. Dem großen Reiz des narzißtischen Weibes fehlt aber die Kehrseite nicht; ein guter Teil der Unbefriedigung des verliebten Mannes, der Zweifel an der Liebe des Weibes, der Klagen über die Rätsel im Wesen desselben hat in dieser Inkongruenz der Objektwahltypen seine Wurzeln.
Freud betont im Anschluß explizit, ihm liege „jede Herabsetzung des Weibes“ fern, er verweist zudem auf die vielen Frauen, die nach dem „männlichen Typus“ lieben „und auch die dazugehörige Sexualüberschätzung entfalten.“
Eine Herabsetzung von Frauen und ihrer sexuellen Freiheit findet indes statt, wenn heute Bettina Wulff in jener für den Puritanismus typischen lüsternen Prüderie eine mögliche Vergangenheit als Prostituierte nachgetragen wird, wenn eine hübsche Politikerin in einer Partei als Prostituierte beschimpft wird, weil sie Annäherungsversuche abgeschlagen hat, wenn Prostituierte sich von barbusigen Femen-Aktivistinnen in Hamburg erzählen lassen müssen: „Prostitution is genocide“ (1, 2, 3); generell, wenn Prostitution verboten wird und damit eine spezifische Möglichkeitsform weiblicher Arbeit und Lust durchgestrichen wird. Die Frau hat sich nicht freiwillig mit so vielen Männern abzugeben, sie muss narzisstisch rein sein, ihre aktiven Anteile werden abgespalten und als aggressive und destruktive dem Mann zugeteilt – dieses reaktionäre Denkmodell hat an Macht selbst in Frankreich gewonnen, das Prostitution abzuschaffen gedenkt, wie auch in Schweden unter dem Druck eines zutiefst puritanischen Feminismus.
Die wesensverwandte Empörung über eine SMS eines Politikers an eine Journalistin mit dem Inhalt „Ich vermisse deine Nähe“ mokiert sich vor allem darüber, dass männliche Politiker immer noch sexuelle Wesen sind, die es mitunter wagen, eine nicht normierte Konstellation zu denken: eine Liaison zwischen junger Frau und älterem Herrn. Wo man zumeist männliche Gesichter auf Wahlplakaten wählen soll, ist die Anmaßung anscheinend unzulässig, dass man sich mit so einem Gesicht eventuell doch sich einen Reiz auf die junge, schöne Frau einbilden dürfe, die auf dem Plakat gegenüber irgendein mineralisiertes Wunderwasser oder eine unerschwingliche Reise nach Fernost feilbietet.
Das ins Private eingewanderte Tauschprinzip fordert Ideale, die sich primär an Filmen herausgebildet haben: Der attraktive Mann verdient durch seinen Heroismus hindurch eine attraktive, passiv wartende Frau. Wer dieses Verhältnis zu überwinden versucht, gerade eben nicht sich reduzieren lässt auf sein Alter und seinen verbrauchten Körper, wer es also zumindest einmal versucht, zuletzt noch mithilfe von Geld oder der Macht auf das libidinös besetzte Objekt einzuschmeicheln, zieht sich den Hass jener zu, die weder Macht noch Geld haben. Wenn man selbst schon erfolglos ist mit allenfalls aus schlechten Journals dahergestammelten Sprüchen, so darf der Alte den Versuch gar nicht erst wagen. Man wertet seine Offerte innerhalb des Tauschprinzips als unverschämtes Angebot, nicht nur weil es ein Angebot ist, sondern weil es Billigkeit unterstellt, einen geringen Wert der Ware, die sich so leicht haben ließe und für so einen geringen Gegenwert: ein schlechtes Kompliment, einen alternden Körper. Wie oft in Verführungsgeschichten überhaupt nicht der Inhalt, sondern die Überwindung zählt, davon sprechen Teenagerlieben Bände, in denen Kommunikation häufig ganz ausfällt und Konsensualität eben körperlich ausgelotet wird nach dem Ideal der fließenden Brünnlein:
Ja, winken mit den Äugelein,
Und treten auf den Fuß;
’s ist eine in der Stube drin,
Die meine werden muß,
’s ist eine in der Stube drin,
Ju, ja, Stube drin,
Die meine werden muß.
Pubertierende zeigen auch häufiger ein ambivalentes Abwehrverhalten: Sie brüsten sich dann im Freundeskreis mit Zahl und Absurdität der abgeschlagenen Annäherungsversuche, zelebrieren aber dadurch auch die Lust, die aus einer eventuellen Einigung entstehen hätte können, sie steigern ihren eigenen Marktwert als begehrte Objekte. Ein solches Leiden an Attraktivität tendiert zur Inszenierung, wo es nicht mehr nach der Psychologie der als ewige Angreifer empfundenen Männer, nach den Zurichtungen fragt, die diese erfahren haben könnten, dass sie nicht ihren weiblichen Objekten sich als Gleiche nähern können und stattdessen zwischen masochistischer Selbstaufgabe und Herrschsucht oszillieren.
Im Rückzug begriffen sind Vorstellungen von Frauen, die sich mit deftigen Worten und Gesten und notfalls mit der Heugabel schon zu verteidigen wissen wie jene bayrischen Dirndlträgerinnen aus Grafs Geschichten, die allerdings das häufige Scheitern solcher Abwehr und somit die Vergewaltigung nicht verschweigen. Anstatt nun wenigstens den Ansatz der Selbstverteidigung fortzuführen, wo diese zu scheitern droht, treten gemäß Hollywoods reaktionärem Frauenbild Schutzmächte auf, die bedrohte Frauen an ihre Wehrlosigkeit erinnern mehr, als dass sie ihnen eine Waffe anbieten.
Die Frauen gerade so klein und unsicher halten, wie sie unter dem Druck männlicher Herrschaft geworden sind, das ist die Strategie auch des Islamismus und des konservativen Ehrbegriffs. Hilfsangebote schlagen in Paternalismus um, wenn von der aggressiven Lösung geschwiegen wird, wenn ein Kultus des Beschützens, des Stellvertretens entsteht, der letztlich doch wieder die schwache, beschützte Frau zum Ideal hat und überdies ein entsexualisiertes Frauenbild zur Norm erhebt: Wenn also solche „Wohlfühlräume“ entstehen, in denen Sexualität nur als jene von allen unangenehmen Verklemmtheiten und Missverständnissen gereinigte Prinzessinen- und Prinzenwahl idealisiert wird, die sie nicht ist. Oder eben, was wahrscheinlicher ist, Räume, in denen Sexualität bequemerweise gleich durchgestrichen wird durch die Drohung, dass jede noch so verbale und vorsichtige Annäherung als „Sexismus“ gelten kann, wenn die oder der schöne Unbekannte das so „definiert“. Selbst das letzte Resort der Kommunikation von Lust, der Blick, wird so zum passiven Anstieren, zur ewig Vorlust bleibenden, vergafften, voyeristischen Konsumption dessen, was man ohnehin nicht haben kann, das Abbild wird wenigstens ohne Tausch und Strafe eingesogen, dafür aber in Permanenz, zum Leidwesen der fernen weiblichen oder seltener männlichen Schönheiten.
Der zelebrierte Schock darüber, von einer unbekannten Person wegen der eigenen Schönheit geliebt zu werden, überhaupt sexuell attraktiv zu sein, scheint doch sehr aus dem Innersten der Gesellschaft zu entspringen. Im Kern ist er schon die Abwehr einer zutiefst bedrohlich gewordenen Sexualität. Dass Männer (oder im Ressentiment seltener Frauen) „nur“ Sex wollen würden, ist Herabwürdigung der Sexualität zum niedrigen Motiv. Schon die Enttäuschung darüber, überhaupt aus einem bestimmten Grund geliebt zu werden, und nicht ganz ohne jeden Grund, folgt dem Ideal der christlichen narzisstischen Erfüllung par excellence. Dass Brüderle einer Frau wie ein tapsiger Bauer in Grafs Geschichten das Kompliment macht, „ein Dirndl ausfüllen“ zu können, weckt Neid und zugleich die Wut derer, die eigentlich permanent auf den gleichen Reiz ansprechen, ihn aber unterdrücken. So unappetitlich dann die Zusammenrottungen der Möchtegerne sind, die in Brüderle ein Opfer einer ewig trügerischen Weiblichkeit sehen, deren Misstrauen gegen eine jahrhundertealte Kultur der Ausbeutung und Verzerrung ihrer Sexualität gerade in den dunklen Ecken der Arbeitsplätze gestellt sei, deren Sensorium für die noch zu deutlich spürbare Drohung in der Anmache auf Übersensibilität verweise, so widerlich sind die Karikaturen über Brüderle. In ihnen tritt jenes Lachen auf, das Adorno das „antisemitische Gelächter“ nannte: Das Tabuierte äfft man lustvoll nach, gleichzeitig desinfiziert man es durch Identifikation mit der versagenden Instanz.