Hyänen

In Eritrea, so erzählt T., gelten Hyänen als tödliche Bedrohung. Auf den dreißig Jahre währenden Schlachtfeldern des Krieges mit Äthiopien haben sie gelernt, Menschen zu fressen und jede Furcht vor ihnen verloren. Die Hyänen der Diktatur aber treiben zehntausende in die Flucht – jedes Jahr. Wen sie nicht in Armee oder Gefängnis zwingen, dem schießen sie an der Grenze hinterher. Danach kommt der lange Weg durch Äthiopien, Sudan und Libyen. Diese Länder haben bereits Millionen Flüchtlinge aufgenommen, es sind auch Diktaturen und Kriegsländer. Sie produzieren auch die Erpresser, die Lösegeld aus den Flüchtlingen herauspressen. Bis zur libyschen Küste haben viele von ihnen zehntausende von Euro bezahlt. Frauen werden vor allem in Libyen Opfer von Vergewaltigungen. Kaum einer schafft es nach Europa ohne Tote zu sehen. Fluchthilfe und Schleppermafias gehen fließend ineineander über, und die Propaganda Europas will von Fluchthilfe nichts wissen, die Schleppermafias nur an der europäischen Grenze bekämpfen, nicht um Flüchtlingen zu helfen, sondern um sie in Libyen zu halten.

In Italien wurde T. das erste mal bewusst, wie groß Europa ist. Er wollte nach Deutschland, weil er als Kind ein T-Shirt der deutschen Fußballmannschaft besaß. Italien sei furchtbar, die Flüchtlingsslums schlimmer als Teile Afrikas. Über Frankreich hat er es nach Deutschland geschafft. Nun wartet er in einem Zimmer von 8 Quadratmetern seit einem Jahr auf seinen Asylbescheid, er fürchtet nur ein Jahr zu erhalten, hofft auf drei Jahre.

Auch N. aus Eritrea wartet seit einem Jahr in Angst vor der Abschiebung nach Italien oder gar Eritrea. In einem kleinen hessischen Städtchen sagte er  zu mir: Schlafen hier alle? Tatsächlich waren die Straßen menschenleer. Mit Glück trifft man einen Rentner auf einem der leeren Spielplätze an. Unermesslicher Reichtum liegt hier brach, eifersüchtig gemehrt und bewacht von konservativen Deutschen.

N. musste nach den 10.000 Euro für die Flucht noch 300 Euro Strafe zahlen, weil er ohne Visum die Grenze nach Deutschland übertreten hat. Braucht er aber eine Geburtsurkunde, muss er zur eritreischen Botschaft. Dort lauern wieder die Hyänen. Der eritreische Präsident fordert 2% der Sozialhilfe oder des Einkommens, die nach Ausreise entstanden sind. Deutschlands Behörden fördern diese Besteuerung durch ihre Dokumentengläubigkeit, die nichts anderes ist als die rassistische Angst, jemanden zuviel hereinzulassen.

Dem zweijährigen Mädchen, das mit ihrer vierköpfigen Familie, die hier auf 15 Quadratmetern lebt, demnächst in den Kosovo abgeschoben werden soll, wo es wahrscheinlich ohne Heizung und Toilette aufwachsen wird, wird niemand schlüssig erklären können, warum es nicht weiter auf einem Spielplatz in Deutschland den Sand schaufeln durfte, der genausogut für hundert weitere Kinder reichte. Man darf ihm getrost erklären, dass die meisten wählenden Menschen in der EU einfach Rassisten sind, die bei aller aufgesetzter Freundlichkeit und Nächstenliebe im Innersten böse und selbsüchtig sind.

20.000 Flüchtlinge aus Syrien will nun die EU aktiv aufnehmen. Binnen zwei Jahren. So viele werden in einem halben Jahr in den Camps geboren.
Die Funktionäre dieses Staatenbündnisses haben gelernt, dass sie Menschen ungestraft in den Tod schicken dürfen. Die Brutalität hinter dieser vorgeschützten Weltfremdheit der EU droht sie letztlich ihren eigenen Bürgern an. Solange kein Architekt des Kriegs gegen die Flüchtlinge in Den Haag landet, wird die Aufnahme der Überlebenden weiter als großzügige Wohltat verkauft, als hätte man nicht alles getan, um sie an der Wahrnehmung ihrer Rechte zu verhindern.
Jeder Vernunft ist evident, dass man zumindest an den schlimmsten Fluchtländern Eritrea, Syrien und Afghanistan Botschaftsasyl und Aufnahmestellen einrichten müsste, damit Flüchtlinge ihr Recht wahrnehmen können, ohne ihr Leben zu riskieren. Die aktive Aufnahme von einer Million Flüchtlingen binnen eines Jahres wäre noch zu kleingeistig gedacht. Die EU denkt, sie könnte sich sowohl das Befrieden des syrisch-irakischen Gemetzels sparen, von iranischer und saudischer Diktatur profitieren, und dann noch zehntausende von so erzeugten Flüchtlingen in Lebensgefahr, Folter, Vergewaltigung und Armut zwingen. Weil man jedem, der einen derart raffinierten Grenzzaun so gründlich und vorausschauend plant und errichtet auch eines Plans hinter den verursachten Folgen verdächtigen darf, sollte man hier grundsätzlich von einer Dezimierungsabsicht ausgehen, die an alle Stationen bis in die stumme libysche Wüste reicht. Und weil der Psychologie kein Abgrund fremd ist, sollte man auch eine sadistische Motivation bei den Funktionären der EU und deren Wählern vermuten, die Lust aus dem seriell und bewusst produzierten Elend, den sogenannten „Flüchtlingsdramen“ gewinnen, von denen man offenbar nicht genug bekommen kann.

Praxis gegen eine solche stummen und dummen Massen lässt sich kaum noch denken. Zum Möglichen gehört noch, den Menschen, die in den Heimen von Bürokraten und Polizei weiter gequält werden, beizustehen und ihnen zuzuhören. Hilfe brauchen sie jetzt erst recht.

Im Gastland

Der italienische Außenminister Paolo Gentiloni und Frank-Walter Steinmeier formulieren in der Frankfurter Rundschau den dernier cri der Asylpolitik: „Abschottung reicht nicht„.

Abschottung also, so der drohende Subtext, sei schon recht. Man müsse aber mehr tun, so die beiden unter Verweis auf einen ominösen „Karthum-Prozess“. Der Karthum-Prozess war eine Tagung vom 13. bis zum 16. Oktober in Karthoum, eine Tagung, wie es sie auch schon zu Hunderten zur Abschaffung von Hunger, Klimawandel, Umweltschäden und Armut gab, ohne dass dieselben sich verflüchtigt hätten.

In Karthoum lockten die üblichen Lunch- und Coffeebreaks, die Tagungen interessant machen, und man konsumierte viertelstündige Referate von Staatsvertretern. Letztlich hatte man dann auch eine Stunde vorgesehen für Lösungen:

11:30 – 12:30:    Ministerial Dialogue
Ministers are expected to discuss the realities and fundamental reasons
for irregular migration (including human trafficking and smuggling) and
how  to  effectively  address  the  issues  through  cooperation,  as  well  as
dealing  with  the  challenges  in  ensuring  legitimate  labour  migration
through effective labour migration management.  

Moderator:     Prof. Adebayo OLUKOSHI, Director of IDEP
Discussants:   Ministers from participating countries

Und was Steinmeier und Gentiloni in dieser Stunde alles beschlossen haben, ist wahrhaft messianisch:

Nicht nur das Horn von Afrika, sondern auch die „Transitländer“ werden eine Verbesserung ihrer „sozio-ökonomischen und rechtlichen Bedingungen“ erfahren, so dass Flüchtlinge fortan gar nicht weg müssen. Nur ein Spaßverderber würde jetzt einwenden, dass einem eine solche geniale Idee eigentlich früher hätte einfallen müssen. Steinmeier und Gentiloni haben schon mehr in der Auslage als Altbackenes:

Ein „umfassender“ und „partnerschaftlicher“ Ansatz wurde entworfen, man wird, nein fast hat man es schon vollbracht: die „Stabilitätsdiplomatie in der Region intensivieren“. Aufgrund der vielen Erfolge solcher Diplomatie in letzter Zeit (Stichwort: Syrien bleibt stabil) gibt es auch hier wieder „Mediation zur Beilegung von Konflikten“ satt, natürlich irgendwie in allen Ländern, nur „z.B. in Sudan und in Somalia“. Warum das so übertragbare Geheimrezept nicht auch gegen Boko Haram, Islamischer Staat, Taliban und Abu Sayyaf angewendet werden kann, ist wohl der schon sehr ausgefeilten Raffinesse der Strategie geschuldet, die man ins Blaue hinein kompetenten EU-Politikern wohl unterstellen darf.

Beim Thema „Unterstützung von Friedensmissionen der Vereinten Nationen und der EU“ könnte man aus dem Lullaby aufhorchen, aber Spezifik ist der Todfeind des Wohlfühlprogramms, auch für Assad und Afewerki werden vermutlich dieselben Mediationen reichen müssen wie für Al Shabaab, AQIM, Boko Haram und IS.

Aus dem gleichen Fortunatussäckel prasseln dann ganze „Initiativen gegen Kleinwaffenhandel und für Abrüstung“. Entworfen hat man spezielle „Programme“, denn: „Wenn die Menschen bereits in ihren Ländern die Chance auf akzeptable Lebensalternativen vorfinden, kann das den Druck mindern, immer weiter ziehen zu müssen.“

Damit die „Programme“ funktionieren, will man „helfen“, also: „Gastländer dazu befähigen, Migranten den Zugang zu staatlichen Dienstleistungen wie Bildung und Gesundheitsvorsorge zu eröffnen“ und „die örtlichen Behörden bei der Umsetzung von Asyl- und Ausländerrecht beraten“.

Auf deutsch, der Sprache des Gastlandes, das Migranten in der Vergangenheit ja sehr üppigen Zugang zu Bildung und allem Schnickschnack wie Lebensmittelpakete, Residenzpflicht und Arbeitsverbot eröffnete, also auf deutsch übersetzt heißt das vermutlich die Wiedereröffnung der libyschen Wüstenlager, die man in der EU seit Gaddafis Sturz doch schmerzlichst vermisst.

Das alles sei, so wird noch einmal vergewissert: ein Beitrag zur Stabilisierung „schwacher staatlicher Institutionen“ und dies könne „eine Tür öffnen für einen Dialog über gute Regierungsführung“.

Diese Prahlhanselei, die sich vor allem selbst in Sachen „guter Regierungsführung“ über den grünen Klee lobt, vertüncht, dass Steinmeier wie die Regierungsparteien der letzten 20 Jahre Verantwortung trägt für die 20.000 Toten an den EU-Außengrenzen. Dass mit „Mare Nostrum“ und der aufgrund des Erfolges erheblich abgespeckten „Triton“-Mission erst 2014 effektive Rettungsmaßnahmen für Flüchtlinge angelaufen sind, die man schon in den 90-ern forderte.

Heute maskieren sich Steinmeier und Gentiloni mit Wortgirlanden als Wohltäter und Strategen, wo sie sich zuallererst der EU-Schuld stellen müssten. Hier will ein Staatenbündnis, das 20.000 Menschen in den Tod trieb und in Syrien ein morbides, ekelhaftes Szenario zulässt, also nun afrikanischen Staaten Regierungsführung erklären.

Es sei daher nur der Korrektheit halber darauf hingewiesen, dass die afrikanischen Staaten Niger, Tschad, Ghana, Tansania, Nigeria, Kenia einen Großteil der 15 Millionen afrikanischen Flüchtlinge bereits beherbergen, ohne besonders stabil und in den meisten Fällen auch ohne demokratische Musterländer zu sein. Die arabischen Staaten Libanon und Jordanien gewähren zwar Arabern mit Vorfahren in Israel oder Westjordanland keine Rechte, haben aber immerhin einen Großteil der 2,6 Millionen Syrer aufgenommen, die es außer Landes geschafft haben, während innerhalb Syriens noch einmal 9 Millionen als „auf der Flucht“ befindlich gelten.

Aus der europäischen Erfahrung heraus müssten eigentlich Wohlstand und Demokratie diese Länder dazu bewegen, sich gegen Flüchtlinge stärker abzuschotten, nationalistisch zu werden und um ihren Wohlstand zu fürchten. Dafür spricht auch das Beispiel Südafrika, das gegen Flüchtlinge aus Simbabwe doch zusehends allergisch reagiert, während man im vergleichsweise armen Ghana liberianische Flüchtlinge als Brüder herzlich willkommen heißt (was wiederum nicht für Nigerianer gilt). Selbst in der äußersten Krise können Flüchtlinge in Afrika auf mehr Hilfe durch ihre Nachbarn hoffen als in der reichen EU. Zu einem Preis von 9,3 Millionen Euro hat die die Operation „Mare Nostrum“ binnen 8 Monaten 80.000 Menschen aus dem Mittelmeer gerettet. Das ist, soviel weiß man nun, ein halbes Prozent der Flüchtlinge, die afrikanische Staaten bereits beherbergen.

Der Trick der medienwirksamen Aktion Steinmeiers ist, das optimistische Selbstbild Europas auf Kosten der Abwertung Anderer aufzupolieren. Der Wohlklang der einzelnen Strategeme zerfällt zu einer tausendmal gehörten Werbemelodie. Nicht um Flüchtlinge geht es, sondern um die Illusion, dass in Europa alles zum Besten stehe, während draußen, vor den Mauern, die Barbarenstaaten nicht wissen würden, wie man Flüchtlinge menschlich behandelt. Über Jahrzehnte hat Europa mit afrikanischen und arabischen Diktatoren kooperiert, zuletzt mit Gaddafi in Sachen Asylpolitik.
Wo man von Assad und Afewerki nicht sprechen will, die für die meisten der ohnehin zum Asyl berechtigten Flüchtlinge sorgen, wo man Afghanistan am liebsten schon zum sicheren Drittland erklären würde, wo ganze europäische Staaten in den Faschismus abgleiten, ohne dass es Konzepte dagegen gäbe, da hat man wenig Recht, afrikanischen Staaten zu erklären, wie Demokratie mit ein paar „Programmen“ hergestellt werden soll.

Vorzugsbehandlung und Erpressung

Asylsuchende hatten das harmonistische Bayern schon vor einiger Zeit verstört, als sie ihre Münder zunähten. Wer den Stellenwert des Essens in dieser Region kennt, weiß, welche unbewussten Ängste und Aggressionen das auslösen muss. Das gemeinsame Mahl wird in der Psychoanalyse als eine der ältesten Institutionen zur Unterdrückung von Aggressionen bewertet. Dagegen zu verstoßen – zum Beispiel aufgrund anderer Speisegebote – fördert archaische Aggressionen zu Tage.

Die Empörung, mit der Hungerstreiks in Deutschland bedacht werden, verweist auf diese unbewusste Gemengelage. In Berlin und in Würzburg (Welt) gab es bereits Hungerstreiks von Flüchtlingen. Gestern wurde der Hungerstreik in München abgebrochen. Mit Fürsorglichkeit wird auf einmal nicht gegeizt:

„Dass eine schwangere Frau in den Hungerstreik geht und damit ihr Ungeborenes gefährdet, muss sofort beendet werden, hier sollten sich alle einig sein“, forderte Haderthauer. „Es ist keine schwangere Frau an dem Hungerstreik beteiligt“, erklärte anschließend einer der Unterstützer.“ (Welt)

„Ude ließ keinen Zweifel, dass der Krisenstab von Stadt und Staatsregierung Tote in München verhindern will: „Der absolute Vorrang gebührt dem Schutz von Leib und Leben“, sagte er.“ (taz)

Dabei wird verschwiegen, dass Ärzte nach der bindenden „Declaration of Tokio“ der „World Medical Association“ gar keine Zwangsernährung vornehmen dürfen. Dort heißt es in Artikel 6:

„Where a prisoner refuses nourishment and is considered by the physician as capable of forming an unimpaired and rational judgment concerning the consequences of such a voluntary refusal of nourishment, he or she shall not be fed artificially. The decision as to the capacity of the prisoner to form such a judgment should be confirmed by at least one other independent physician. The consequences of the refusal of nourishment shall be explained by the physician to the prisoner.“

Und in der Declaration of Malta on Hunger Strikers steht:

„Physicians need to satisfy themselves that food or treatment refusal is the individual’s voluntary choice. Hunger strikers should be protected from coercion. […] Physicians or other health care personnel may not apply undue pressure of any sort on the hunger striker to suspend the strike. Treatment or care of the hunger striker must not be conditional upon suspension of the hunger strike.“

Allemal verschoben wird die Aggression der Asylpolitik, die Flüchtlinge vom prall gefüllten gemeinsamen Tisch mit billigsten Essenspaketen und drakonischen Strafen auf Verletzung der Residenzpflicht wegdrängt. Wenn deutsche Behörden traumatisierte Flüchtlinge, die in Gefängnissen gefoltert wurden, hier wieder in trostlose Gefängnisse stecken, dann ist das angesichts des aktuellen Standes der Traumaforschung mehr als nachlässig, es ist der mehr oder weniger systematische Versuch, Menschen in Selbstmorde zu treiben oder, was offener artikuliert wird, mit aller Gewalt und unter Billigung der regelmäßigen Suizide wegzuekelen. Während in allen europäischen Staaten menschenleere Peripherien entstanden sind, beispielsweise aus Ostdeutschland umso mehr Leute wegziehen, je mehr man dort glaubt, dass das Boot voll sei, währenddessen sperren Deutsche Flüchtlinge in Baracken und belegen sie mit Berufsverbot und Gefängniskost. Diese Aggression wird zur Wohltätigkeit noch umgelogen in den deutschen Köpfen. Der absolute Vorrang gebührt in der mörderischen Flüchtlingspolitik gewiss nicht dem Schutz von Leib und Leben.

Altväterlich versuchen Mitverantwortliche für diese Situation, die Aktion zu psychiatrisieren und zu verniedlichen. „Ude und Herrmann äußerten starke Zweifel, ob sich alle von ihnen darüber klar gewesen seien und ob sie nicht instrumentalisiert worden seien.“ (Zeit)

Sehr klar war auch der SPD, wen und was sie instrumentalisierte mit ihrer Flüchtlingspolitik. Ausgerechnet die Achse des Guten schwadroniert aber von spezifisch deutscher Übersensibilität: „Die Organisatoren des Hungerstreiks wissen um die Dialektik im Herzen der deutschen Bestie: Die Hebelwirkung der moralischen Erpressung ist umso größer, Trauma und Schuld sei Dank.“

Natürlich stürzen sich die Konservativen sofort auf linke Prosa: „Schon beim Hungerstreik von Asylbewerbern vorm Brandenburger Tor in Berlin war schnell klar geworden, dass sogenannte deutsche „Unterstützer“ ein Aktions-Drehbuch in der Tasche hatten.“ (AchGut)

Mit solcher Marktschreierei kann man wahrscheinlich FAZ-Leser darüber hinwegtäuschen, dass Flüchtlinge nun einmal keine anderen Unterstützer gefunden haben in Deutschland und dass, wie berechtigt ein Anliegen auch sein mag, gewiss kein Konservativer oder Liberaler irgend ein „Aktions-Drehbuch“ in der Tasche hat, zumindest keines, in dem die Flüchtlinge gut weg kommen.

Die Unterstützer und Organisatoren der Aktion hätten sich natürlich besser Louis Lecoin zum Vorbild genommen, dessen Hungerstreik in Frankreich zur Legalisierung der Kriegsdienstverweigerung führte. Oder jenen großen Hungerstreik von Häftlingen, der 2008 in 39 deutschen Gefängnissen durchgeführt wurde. (Telepolis)

Haderthauer und ihre Klientel hätte das aber auch nicht gekümmert: „Hierzulande ist Politik nicht erpressbar, wir leben in einem Rechtsstaat, wo man sich nicht durch Hungerstreiks eine Vorzugsbehandlung erzwingen kann.“ (SPON)

Für Behördengänge gibt es aber auch in Deutschland allemal Interventions- und Beschleunigungsmöglichkeiten, zu denen auch die vergessene Form der Petition zählt. Man hätte sich weniger Erpressbarkeit gewünscht, als vor 20 Jahren nach Pogromen und Terror von Neonazis das Recht auf Asyl abgeschafft wurde. (Das Erste) Wenn in Italien Flüchtlinge ihre Baracken anzünden, dann hat man dafür schon deshalb kein Verständnis, weil das Anzünden von Flüchtlingsbaracken in Europa ausschließlich durch Neonazis zu erfolgen hat.

Die deutsche Gesellschaft hat unterm Primat des Harmonismus jegliche ernstere Konflikte abgeschafft. Daher wünscht man sich in allen globalen Konflikten auch nichts mehr als „Verhandlungslösungen“, jeder Unternehmer gibt sich routiniert beleidigt über Streikende, die „Verhandlungsangebote“ ausgeschlagen hätten. Selbst Abschiebungen werden noch zum Wohl des Flüchtlings mit Handschlag und „Alles Gute in der Heimat“ vom berufsmäßig mitfühlenden Abschiebebegleiter abgeschlossen. Und wohl nur aus Fürsorge wurde ein recht deutscher Witz von der Berliner Polizei sehr ernst genommen: Keiner soll hungern, ohne zu frieren.

In dieser Kultur der zensierten, passiven oder kollektiv sanktionierten Aggression erscheint es überbordend und deplaziert, wenn mit dem Leben bedrohte Flüchtlinge ein so radikales Mittel wie den Hungerstreik wählen. Dass sie sich nicht an der Kasse vordrängeln möchten, sondern um den Unterschied zwischen vegetieren und leben, fressen und essen, Gefangenschaft und Freiheit, Asyl und Tod kämpfen, das können saturierte Bayern niemals verstehen. Daher ist die zynische Rede von der „Vorzugsbehandlung“ primär projiziertes Unbehagen über die eigene privilegierte Position und Abstiegsangst. Die wird in den Flüchtlingen ohnehin bekämpft, gerade die Dimension des Hungers aber versetzt die zu beispiellosem Wohlstand gekommenen Bauern in den Großstädten in Angst und Schrecken.

Kritische Rezension: „Interventionen gegen die deutsche „Beschneidungsdebatte““

Zülfukar Çetin/ Heinz-Jürgen Voß/ Salih Alexander Wolter

Münster 2012: edition assemblage

 92 Seiten; 9,80 Euro

Die Beschneidungsdebatte, die keine war, produzierte manche merkwürdige Blüte. Sicherlich das sonderbarste Gewächs liegt nun mit den Interventionen gegen die deutsche „Beschneidungsdebatte“ vor. Dankenswerterweise ist das Buch so kurz gehalten, dass man alle falschen Sätze darin rasch abgeschrieben hat – und das sind ungefähr alle. An diesem Buch gibt es nichts zu retten. Wenn es hier dennoch eine ausführliche Kritik erhält, dann nur, weil es beispielhaft gleich zwei Phänomene vereint: den Doppelcharakter des neuen deutschen kulturalistischen Antisemitismus, der sich in der Beschneidungsdebatte ein weiteres Mal herauskristallisierte, und den emanzipationsfeindlichen Zynismus einer innerhalb des akademischen Feminismus grassierenden identitären Ideologie.

Der Verlag warnt den Leser in einer verlegerischen Notiz:

Wir haben uns für die Veröffentlichung dieses Buches entschieden, um die rassistische und antisemitische ‚Beschneidungsdebatte’ anzugreifen und zu dekonstruieren.

Der Titel spricht ähnlich Bände über das autoritäre Zensur-Bedürfnis: „gegen“ eine Debatte, die ohnehin keine war, wollen Çetin /Voß/Wolter „intervenieren“.

Über die Autoren erhält der Leser keine Informationen. Ein Blick ins Netz stellt Klarheit her. Die drei publizieren regelmäßig zusammen. Jürgen Voß ist Biologe und schrieb über Intersexualität, Zülfukar Çetin promovierte über Intersektionen von Homophobie und „Islamophobie“, und den Namen Salih Alexander Wolter findet man beispielsweise über einen Link der BDS-Campaign.

Diese hat sich den internationalen Boykott Israels auf die Flagge geschrieben. 2009 erfolgte der bislang größte Schlag des Bündnisses: der britische Gewerkschaftsbund UCU beendete die Zusammenarbeit mit dem israelischen Gewerkschaftsbund Histadrut.[1]

2010 unterschrieb Wolter zusammen mit der BDS-Gruppe Berlin einen offenen Brief, der sich darüber empört, dass am Gedenktag der Reichspogromsnacht in Berlin der israelische Botschafter sich in Berlin über Rüstungsprodukte informieren ließ. An dem Tag, der dem Aufruf zufolge dazu mahne, dass „Menschen“ nicht „noch einmal“ Opfer von „staatlicher Gewalt“ würden – verharmlosender Stalinisten-Sprech zur Umdichtung der Shoah in eine Art Klassenkampf von oben – an jenem Tag also zelebriere der israelische Botschafter eine „Kultur des Tötens“. Der Text setzt Nazis und Israel gleich, weil eben jene Reichspogromnacht Anlass dazu liefert, ausschließlich Israel zu verurteilen für

[…] die permanenten Verstöße aller israelischen Regierungen ebenso wie der israelischen Armee gegen das Völkerrecht und die Menschenrechte.

Der Aufruf endet mit den Worten:

Keine Waffenlieferungen nach Israel. [2]

Das ist für den vorliegenden Band nicht ganz unbedeutend, weil es den Doppelcharakter des kulturalistischen Antisemitismus illustriert: Für den Judaismus als marginale Folklore ist in Deutschland ein Plätzchen freigeräumt worden, man findet allseits Gefallen an Klezmer, Hummus und Hitler-Filme mit „Success-story“ (Claussen) und Happy End. Antisemitismus verurteilt man natürlich. Gegen den jüdischen Staat aber heißt es von allen Seiten „Auf die Barrikaden“. Einstimmig wie nie wurde 2009 vom Bundestag eine Propagandaaktion der Hamas unterstützt, der Überfall der Besatzung der „Mavi Marmara“ auf Israel. Und eine solide Mehrheit hält Israel für das bedrohlichste Land der Welt.

Von solchen hegemonialen Diskursen wissen die Autoren nichts, weil sie daran teil haben. Ihr Begriff von Antisemitismus bleibt zwangsläufig eindimensional:

In der breiten Ablehnung der Knabenbeschneidung durch die mehrheitsdeutsche Öffentlichkeit verschmelzen Elemente des Antimuslimischen Rassismus und des stets latent gebliebenen Antisemitismus. (21)

Nun blieb der Antisemitismus im offenen Brief, den Wolter unterschrieb, sicher nicht latent, er will praktisch werden und Waffen für Israel boykottieren. somit Israel der Vernichtung preisgeben und lüstern-friedlich dabei zusehen. Was Wolter und seine beiden Mitstreiter im Zitat wohl gemeint hatten, war ein „stets vorhandener latenter Antisemitismus“, den zu entdecken sie anscheinend ohne Verdacht auf sich selbst im Bereich ihrer Kernkompetenzen verorten. Sie lokalisieren ihn dann auch am Anderen:  hinter der „offiziellen Rhetorik von den „jüdisch-christlichen Wurzeln unserer abendländischen Kultur“.

Geschickt verband solches Pathos die „Aufarbeitung“ der Schoah mit den gemeinsamen global-strategischen Interessen „des Westens“. Doch nun, da es nicht um die von der Bundeskanzlerin zur Staatsraison erklärte Sicherheit Israels geht, sondern um einen Angriff auf spezifisch jüdisches, wie muslimisches Leben hierzulande, erweist sich der Bindestrich [zwischen jüdisch und christlich, FR] als die geschichtsvergessene „abstruse Konstuktion“, die Almut Shulamith Bruckstein Çoruh (2010) schon auf dem Höhepunkt des Sarrazin-Hypes zurückwies. (22)

Was auch immer damit gesagt werden sollte, außer der Klage darüber, dass die Bundeskanzlerin die Sicherheit Israels für nicht komplett unwichtig hält, bleibt verborgen: Schließlich erwies sich die Kanzlerin mit ihrem Bonmot von der „Komikernation“ als regelrechte Schutzpatronin der religiösen Vorhautamputation im Kindesalter. In völliger Verkehrung der historischen Befunde wird weiter behauptet:

Die europäische Mission der Zivilisation, die „barbarischen“ Jüd_innen und Muslim_innen zu säkularisieren, wird durch die Debatte um die Vorhaut und ihr ‚grausames‘ Ende verstärkt.

Historisch hat die Säkularisierung Europas den Juden die Möglichkeit zur Assimilation eröffnet, und dadurch Juden wiederum in Konflikt zum Judaismus treten lassen: Entstehungspunkt unter anderem des säkularen Zionismus und des Reformjudentums. Den gängigen Forschungsbefunden zufolge war es dieser Assimilationsprozess, den die modernen Antisemiten abwehrten und der für diese die nachträgliche rassistische Bestimmung des Jüdischen als Körpereigenschaft erforderlich machte – wozu die Beschneidung den Antisemiten ein eher willkommenes Hilfmittel war. Man kann sich angesichts dieser komplexeren Hintergründe der „Diskurse“ natürlich auch in die Tasche lügen. Die Autoren schrecken jedenfalls nicht davor zurück, Adorno/Horkheimer als Schmuckzitat über ihren Text zu setzen:

„Das Wunder der Integration aber, der permanente Gnadenakt des Verfügenden, den Widerstandslosen aufzunehmen, der seine Renitenz hinunterwürgt, meint den Faschismus.“

 Adorno/Horkheimer meinten im Kontext des Kulturindustrie-Kapitels, in dem sich das Zitat findet, mit Integration gewiss nicht eine fiktive deutsche Bereitschaft zur Integration von assimilierten Juden, sondern ein kulturindustrielles Prinzip, das die Außenseiter abschleift und zurichtet. Nicht das Verhältnis von Kollektiven zueinander steht hier zur Disposition, sondern das Verhältnis vom Kollektiv zum Individuum: „Einmal war der Gegensatz des Einzelnen zur Gesellschaft ihre Substanz.“ heißt es einige Zeilen vorher bei Adorno/Horkheimer, ein Satz, der für die drei Apologeten anscheinend völlig belanglos ist.

Es liegt nun Çetin/Voß/Wolter nämlich gänzlich fern, im Gefolge Adorno/Horkheimers eine individualistische, säkularistische Position zu vertreten: Säkularismus und Individualismus werden von Çetin/Voß/Wolter systematisch mit dem Westen und dieser mit dem Faschismus oder wahlweise Imperialismus identifiziert. Die Beschneidung kann so implizit zum subversiven Akt der Renitenz gegen den Faschismus verklärt werden. Çetin /Voß/Wolter sehen daher auch in dem Verweis des Beschneidungskritikers Putzke auf die statistische Erfassbarkeit von etwaigen Beschneidungen in immigrierten Familien und Gemeinden eine Wiederkunft des Nationalsozialismus:

Die Migrant_innen, denen die Gruppenidentifikation als kulturell-religiöse verwehrt sein soll, unterliegen ihr also im Sinn einer rassistischen Fremdzuschreibung weiterhin: Nichts anderes war die historische Erfahrung der jüdischen Assimilation in Deutschland.

Wenn nämlich die Beschneidung verboten werde, müsse man zu rassistischen Befragungstechniken greifen, die auf den religiösen oder kulturellen Kontext zurückgreifen, um überhaupt noch stattfindende Beschneidungen in eingewanderten religiösen Kollektiven zu erfassen. Das sei dann sowohl die – im Falle der jüdischen Assimilation gar nicht relevante – „Verwehrung“ einer „kulturell-religiösen“ Gruppenidentifikation, und zugleich die Erfahrung, dass diese Identifikation als Fremdzuschreibung doch stattfände. So setzen die Autoren – wohl in Ermangelung tatsächlich antisemitischer Kommentare, die aufzuspüren man für zu arbeitsintensiv befand – die Diskussion des Beschneidungskritikers Putzke mit primitivem Rassismus gleich, schlimmer, mit Nationalsozialismus.

Völlig beliebig wird nämlich nun von Çetin /Voß/Wolter ein weiteres Zitat von Adorno/Horkheimer eingestreut:

„Die den Individualismus, das abstrakte Recht, den Begriff der Person propagierten, sind nun zur Spezies degradiert. Die das Bürgerrecht, das ihnen die Qualität der Menschheit zusprechen sollte, nie ganz ohne Sorge besitzen durften, heißen wieder Der Jude, ohne Unterschied.“ (24)

Genau das ist aber das Geschäft von Çetin /Voß/Wolter, die den Individualismus, das abstrakte Recht und den Begriff der Person zu einer Spezies, nämlich einer westlich-imperialistischen Kultur degradieren und dann selbst die Gesellschaft in Beschnittene und Unbeschnittene einteilen, indem sie ständig nach der Zugehörigkeit der Diskursteilnehmer fragen:

Es geht uns dabei insbesondere darum, aufzuzeigen, wie die betroffenen Jüd_innen und Muslim_innen sich zu dem antisemitischen und antimuslimischen Diskurs äußern, bzw. positionieren.

Das tun sie aber noch  nicht einmal, nur zwei Muslime und etwa zwei Juden kommen zusätzlich zu den Autoren zu Wort. Im Kapitel Der schlechte Sex der Anderen skandalisiert man dafür den angeblichen „Blick in die Hose“ durch Beschneidungskritiker. Denen, sofern „mehrheitsdeutsch“ schauen die Autoren aber nun selbst in die Hosen, das abzuschaffende Leiden werde „von diesen offensichtlich gar nicht empfunden“ – sie seien nämlich nicht beschnitten. (29) Laut Voß fände eine „Hexenverfolgung“ statt, in der zum einen „Menschen aus jüdischen und muslimischen Familien“ sich in der Debatte zurückhalten müssten, wenn sie denn eine beschneidungskritische Position tatsächlich vertreten würden, dagegen aber

„atheistische, junge Menschen, die über einen mehrheitsdeutschen sozialen Hintergrund verfügen, unentwegt über den Verlust der Vorhaut klagen (können), die sie selbst aber in der Regel noch besitzen. (12)

Anstelle einer „Stellvertreter-Diskussion“ sollten sich „beschnittene Jungen und Männer selbst äußern (können)“. Allein:

Es ließ sich im deutschen Sprachraum keine innerjüdische oder im weitesten Sinn innermuslimische Initiative von Zirkumzisionsgegnern ausfindig machen, und ein Beschnittener, der sich während der Debatte dann doch negativ äußerte, sprach sich zugleich gegen ein Verbot aus (s.u.). (29)

Dass sich beschnittene Beschneidungskritiker trotz der „einladenden Debattenkultur“ nicht so kritisch äußerten, dass die Autoren etwas davon gehört hätten, läge an der „von ihnen wahrgenommenen rassistischen Tendenz“. (30) Lediglich Ali Utlu konnten Çetin/Voß/Wolter nicht ignorieren. Dreimal wird er zum Kronzeugen aufgebauscht, für die These, dass den beschnittenen Beschneidungskritikern der Rassismus der „mehrheitsdeutschen“ Beschneidungskritiker allemal mehr Angst einflößt als die Beschneidung und dass Utlu sich aus diesem Grunde gegen ein Verbot ausgesprochen habe. Von Utlus tatsächlich sehr detaillierter und drastischer Kritik der Beschneidung bleibt wenig übrig, an ihm interessiert vor allem seine Homosexualität, nicht seine leidvolle Erfahrung. Dreimal müssen die Autoren noch betonen, dass er in der Berliner „Siegessäule“ schrieb.

Utlus Stellungnahme unterschied sich damit vom Gros des zirkumzisionskritischen Diskurses, in dem kaum thematisiert wurde, dass auch jeder wissenschaftlichen Bewertung der Beschneidung bestimmte kulturelle Normen zugrunde liegen, und die Ausrichtung der rezipierten Forschung ausschließlich auf ein heterosexuelles Funktionieren der Beschnittenen stillschweigend akzeptiert schien. (35)

Hatten sie den Beschneidungsgegnern unterstellt, die Gesellschaft würde in „Beschnittene und Nicht-Beschnittene polarisiert“, (39) so erweisen sich Çetin/Voß/Wolter als die eifrigsten Polarisierer und Hosenkontrolleure. Das hat natürlich System: Von Argumenten kann bequem abgesehen werden wenn Zugehörigkeit entscheidet. Wie „einladend“ die Debatte war, davon zeugten die zahlreichen hasserfüllten Kommentare unter Artikeln von Beschneidungsgegnern, die sich dem panoptischen Blick in die Hose verweigerten und so den rassistischen Blick provozierten, der sie aufgrund vager Anhaltspunkte als Unbeschnittene einsortierte. Ihnen diagnostizierte man pathologischen Vorhautfetischismus, Fixierung auf „das stinkende, eklige Hautfetzchen“, kündigte „Hausbesuche“ wie bei Neonazis an, empfahl die Kastration mittels Backsteinen und wirklich alles was an „einladendem“ pathologischem Material zum Vorschein kommen wollte, erhielt hier Einlaß.

Stoßen Çetin/Voß/Wolter in jedem ihrer Strohmannargumente auf einen Selbstwiderspruch, so zwangsläufig auch, wenn sie es mit feministischer Kritik versuchen. Der Entwurf von Beschnittenen als Verstümmelten folge dem Stereotyp der Verweiblichung/Kastration von „de-maskulinisierten „Orientalen““, „“jüdischer Männlichkeit“. Bei Çetin/Voß/Wolter hat die Zivilisation heteronormativen Charakter, um den Preis jeder Ehrlichkeit im Argument:

In dieser Debatte wird also wieder ein Opfer präsentiert, ein Opfer des Judentums und des Islams: es ist der Mann als „ein vollständiger Mensch“ (Oestreich 2012). (43)

Und Juden und Muslime würden zu Tätern gemacht. (42) Was interessiert es, dass die Beschneidungs-Kritik gerade das Mannbarkeitsritual in Frage stellte und die Verwundbarkeit von Jungen unterstrich, gegen die sich die Befürworter allzu häufig barbarisch hart machten. Und dass wohl niemand den christlichen oder den abstrakten Mann als Opfer jüdischer oder muslimischer Beschneidung entwarf, sondern das muslimische und jüdische Kind in Schutz genommen werden sollte. Die Beschneidungskritiker müssen nun mal heteronormativ sein, und so schreckt man vor keiner Peinlichkeit zurück:

Dadurch dass in der Beschneidungsdebatte die Existenz der abendländischen Zivilisation von der Existenz der Vorhaut des Mannes abhängig gemacht wird, erscheint diese Zivilisation bewusst oder unbewusst als „Männersache“. (39)

An der Vernunft, an Adorno/Horkheimer, aber auch an Foucault halten sie sich schadlos. Religionsfreiheit als Freiheit von Religion habe religiöse Wurzeln. (24) Adorno/Horkheimers Kritik an Kultur die „den Körper als Ding, das man besitzen kann“ kennt (26) verwursten diese Genderforscher zum Argument, an der Beschneidungskritik sei der Besitzanspruch auf den eigenen Körper verdächtig. Und nun kommen Foucaults Untersuchungen zur Gouvernementalität „die im deutschen Sprachraum neuerdings für queerfeministische Beiträge zur Staatstheorie bedeutsam werden.“ (26) Neuerdings ist natürlich ein dehnbarer Begriff und kann natürlich auch die letzten 20-30 Jahre meinen. Gegen das folgende Attentat jedenfalls ist selbst Foucault noch in Schutz zu nehmen. Man muss das schon in Länge zitieren:

Mittels des Versprechens von Freiheit und Souveränität wird Regieren erst ermöglicht und zugleich konstitutiert sich so das Subjekt als ‚freies’ und ‚souveränes’. Diese Bewegung des Regierbarmachens setzt, so Foucault, ein spezifisches Körperverhältnis der Subjekte voraus: […] Nur wenn die Subjekte lernen, einen ‚eigenen’ Körper zu besitzen, können diese als freie und souveräne regiert werden, da dieses Besitzverhältnis über den Körper zur Grundlage von Freiheit und Souveränität wird.“ (Ludwig 2012:105f) Die Kritische Theorie hat das Herrschaftsverhältnis herausgearbeitet, das dem zugrunde liegt, was Foucault als diffuse „Macht“ behandelt. Gerade mit [sic!] Bezug auf die laufenden diskursiven Aushandlungen zur Zirkumzision sollte nicht vergessen werden, dass sich die Normen der modernen kapitalistischen „Zivilgesellschaft“ in einer Geschichte der Klassenherrschaft und des Kolonialismus, des Rassismus und des Antisemitismus gebildet haben, die ebenso die Geschichte der Heteronormativität ist. (26)

Ein flottes Stück Impertinenz, das ihnen selbst nicht ganz geheuer scheint. Weil das mit der Herrschaft so gar nicht zum Abstimmungsverhalten im Bundestag passt, kommt auf einmal folgendes Argument um die Ecke:

Indes zeigt die aktuelle Debatte, dass sich „Expert_innen“ im Kampf um die Deutungshoheit über diese Normen mit der „Volksmeinung“ gegen die Regierenden verbinden können. Denn in dem Maß, in dem das Recht, einen eigenen Körper zu „besitzen“, von wenigen Oberen im Prinzip auf alle – zunächst: europäischen, männlichen – Menschen ausgeweitet wurde, etablierte sich die Macht der dafür als sachverständig angesehenen Wissenschaft. (27)

Diese „Medizinisierung“ ist den Autoren nun grundsätzlich verdächtig, obwohl sie sich selbst für die besseren Mediziner halten. Wenn Voß in seiner Einleitung auf zwei Seiten gleich viermal „Unwissen“ bzw. „Unwissenheit“ beklagt, meint er damit gewiss nicht das antiisraelische Ressentiment seines Co-Autoren, sondern er beruft in offenbarstem Selbstwiderspruch die Medizin, die er später als „neue Art hegemonialer „Religion““ verurteilt.(6f) Dass – von Medizinern wohlgemerkt – die Beschneidung mit FGM vermengt werde, sei „wissenschaftlich nicht haltbar“. Wer diese Voß’schen Quellen der Wissenschaft dann aufsuchen will, stößt auf zwei Blogeinträge von Voß, die Altbekanntes summieren,[3][4] aber gewiss keine wissenschaftliche Diskussion der Argumente der Gegner darstellen. Tatsächlich massiert der letzte Teil des Buches etwas ausführlicher einige medizinische Studien.

Was den Vergleich von FGM und Jungenbeschneidung angeht, haben sich Aktivisten gegen FGM inzwischen fast durchweg auf den Vergleich von FGM Typ I (Ritzen oder Exzision der Klitorisvorhaut) und der Amputation der männlichen Vorhaut eingelassen, so z.B. Ayaan Hirsi Ali und Thomas Osten-Sacken. Und diese haben darauf hingewiesen, dass die Legalisierung der Beschneidung im Extremfall auch die Legalisierung, aber zumindest Legitimierung von FGM enthält, zumal in islamischen Staaten mit noch unklarer Rechtslage. Bei Çetin/Voß/Wolter werden solche Befürchtungen gar nicht erst  beachtet. Von Bedeutung erscheint ihnen allein die Abgrenzung zur zwangsweisen Geschlechtsumwandlung im Kindesalter oder zu FGM Typ II und III, der Entfernung von Klitoris und Schamlippen. So würden im Falle der Beschneidung weder Eichel noch Keimdrüsen entfernt und auch keine Hormonbehandlung oder Vaginalplastik wie bei Geschlechtsumwandlungen fände statt. Nun auf einmal solle in einer weiter gefassten Allgemeinheit im „Dialog“ eine Diskussion stattfinden darüber

[…] wie die engen Geschlechternormen und die Eingriffe in die Selbstbestimmung von Geschlecht grundlegend geändert werden können. Das träfe aber alle gesellschaftlichen Normen, es würde bedeuten, dass grundlegend etwas gegen die Gewalt gegen Frauen getan werden müsste, grundlegend Geschlechterstereotype angegriffen werden müssten, grundlegend etwas gegen die Medizinisierung und Psychiatrisierung der Menschen getan werden müsste. (36)

Aber vorsicht:

So gesehen geht es gar nicht um ein Missverhältnis in der Abwägung eines „Unrechts“ gegen ein anderes, sondern der öffentliche Aufschrei über die Zirkumzision entspricht genau der allgemeinen Unempfindlichkeit für das Leid der Intersexe. Beiden liegt die unerbittliche Norm zugrunde, der sich nichts entziehen darf. (38)

Die Beschneidungskritik ist also unempfindlich für das „Martyrium der Zwischengeschlechtlichen“ (36), sie wird dergestalt Täter und eine Kooperation mit ihr schließt sich Çetin/Voß/Wolter geradezu aus. Sie widerspreche nämlich der Medizin, die sie zuvor als gouvernementales Instrument benannt haben. Die nichtheteronormative Beschneidung gegen den Hegemon aus Medizin und faschistischer „Zivilisierungsmission“ zu verteidigen, und das mit medizinischen Argumenten, das ist in schärfster Kürze das Programm von Voß/Çetin/Wolter.

Kulturalismus, mit dem islamische Rechtswissenschaftler FGM rechtfertigen, ist zwangsläufig das Gärprodukt einer solchen abenteuerlichen Melange:

Durch die Argumente „Traumatisierung, sexuelle Störung und Körperverletzung“ werden religiös und gesellschaftlich bedingte Riten psychologisiert, medizinisiert und kriminalisiert und als „archaisch“ eingestuft. (43)

Daher greifen die Autoren hier auf eine wirkliche Autorität zurück, Aiman Mazyek, Vorstand des „Zentralrat der Muslime“:

Geht es um Hygiene, Krebsvorsorge […] und um die Vorbeugung von Geschlechtskrankheiten, so ist aus medizinischer Sicht die Sachlage unumstößlich zugunsten der Beschneidung. […]Die menschliche Gesundheit hat Priorität im Islam, die Bewahrung der menschlichen Unversehrtheit ist ein ebenso göttliches Gebot. (44)

Solange nur „existentielle Relevanz“ (41) über die Jahrtausende zugrunde liegt, ist Religion schon ok so:

Die kollektive sexualmedizinische Online-Erörterung bewegt sich also gänzlich innerhalb des Horizonts einer post-christlichen deutschen Mehrheitsgesellschaft, die sich zwar nicht mit ihrem besonders antisemitischen, dafür aber mit dem gesamt-westlichen kulturellen Erbe einer „Zugehörigkeit der Lust zum gefährlichen Bereich des Übels“ (Foucault 1986: 315) auseinandersetzt. Es liegt offenbar jenseits der Vorstellungskraft, dass Sex schon im vorkolonialen Islam „als etwas uneingeschränkt Positives gesehen“ wurde (Bauer 2011: 278). (32)

Nach dieser umfassenden Eliminierung kritischer Vernunft versucht der abschließende Artikel von Voß Zirkumzision – die deutsche Debatte und die medizinische Basis noch einmal ausführlicher, eben jene Medizinisierung, diesmal freilich der Beschneidung zu verteidigen. Komplikationen bewegen sich den zitierten Studien zufolge im Bereich von maximal 2%, davon seien fast keine schwerwiegend. Verluste der Empfindsamkeit seien wahlweise nicht nachgewiesen oder nicht relevant. Die präventiven Vorteile der Beschneidung seien nachgewiesen für HIV, Eichelentzündungen und Harnwegsinfekte. Wenigstens gesteht er noch negative Folgen für den Fall zu, dass die Beschneidung als „Mittel“ gegen HIV das Kondom ersetzen könnte.

Die Rezitation ausgewählter wissenschaftlicher Studien ist zwar positivistisch, aber kaum wissenschaftlich zu nennen. Es fehlt jede Reflexion auf Methode und Fragestellung. Studien gerade im medizinischen Bereich haben sich zuallererst durch ihre Unabhängigkeit von Pharma-Unternehmen und anderen Lobbyisten zu legitimieren. So fällt bei Voß bemerkenswerterweise die vorher regelrecht gebrüllte Frage unter den Tisch, ob die jeweiligen Studienleiter selbst beschnitten sind oder (religiösen) Organisationen angehören, die Beschneidungen einfordern. Es werden Ergebnisse präsentiert, an die man dann glauben soll. So sieht tatsächlich Medizin als Religion aus und so funktioniert Biomacht: Die invasive Herrschaft über Individuen zu ihrem vermeintlichen Besten.

Dass die Vorhaut ein zentraler Teil eines Sexualorgans ist, ein komplexes Hautsystem mit zahlreichen Nervenendungen und biologischen Funktionen, dass also die, zumal schmerzhafte, Entfernung desselben eine gewaltsame Eroberung des Individuums durch das religiöse Kollektiv bedeutet, diesem Machtverhältnis verschließt sich Voß völlig. Von diesem Grundproblem aber ist auszugehen, wenn Prävention überhaupt diskutiert wird. Kein ähnliches Organ würde vorsorglich entfernt werden, relativistische Vergleiche mit Blinddarm, Polypen oder Mandeln (sehr beliebt ist auch der Haarschnitt) haben den Sexualakt schon völlig entwertet. Diese spezifische präventive Organentfernung ist eben nicht mit dem hippokratischen Eid zu rechtfertigen und daher wird Kritik daran von beschneidenden Ärzten so heftig abgewehrt: Es geht um Schuld.

Bleibt man aber im statistischen Argument, dann gibt es für alle der Befunde, die Voß anführt, heftigste Widersprüche von anderen Studien. Gänzlich wertlos werden die zitierten Studienergebnisse auf der Metaebene, wenn entsprechenden Krankheitsraten für Länder, in denen Beschneidungen mehrheitlich stattfinden (USA, islamische Staaten, Israel, Teile des südlichen Afrikas) mit denen jener Ländern verglichen werden, in denen die Beschneidung sehr selten ist (z.B. Dänemark). Voß, dem Kritiker der zwangsweisen Geschlechtsumwandlung, genügen jedoch ein paar Studien und eine Komplikationsrate von „nur“ 2 %, damit er die Amputation der Vorhaut im Kindesalter für unbedenklich erklärt.

Die drei Autoren haben es geschafft, auf 90 Seiten Adorno/Horkheimer und Foucault für ihren Aufklärungsverrat als Geiseln zu nehmen. Es bleibt zu hoffen, dass dieses durchsichtige, zynische Manöver nicht nur Laien auffällt, sondern auch der akademischen Kaste, an die sich der Band richtet und dass aus dem Entsetzen über diese besonders offensichtliche und krasse Ent-Kritisierung von Theorie heraus ein Begreifen einsetzt darüber, wie akademische feministische Theorie wieder eine kritische werden könnte. Eine wirklich wissenschaftliche Analyse antisemitischer Kommentare zur Beschneidungsdebatte (tatsächlich gab es auch einige harte antisemitische Beschneidungsbefürworter) und eine medizinische Diskussion, die nicht in positivistischem Zauber aufgeht, stehen leider noch aus.

Beiträge auf „Nichtidentisches“ zum Thema:

Ein Beitrag zur Beschneidungsdebatte

“Die latente Unehrlichkeit ihres positiven Israel-Knacks” – Eine Diskussion der Gegner der Gegner der Beschneidung

Schuld und Vorhaut

Der Reflexionsausfall der Antisemitismuskritik am Beispiel Dershowitz

Das Recht des Kindes


[1] http://de.wikipedia.org/wiki/Boycott,_Divestment_and_Sanctions

[2] http://www.antiimperialista.org/node/6665; http://www.bds-kampagne.de/articles/2010/11/11/keine-waffenlieferungen-nach-israel/

[3] http://dasendedessex.blogsport.de/2012/09/21/vorhautbeschneidung-bei-jungen-weg-von-vorannahmen-hin-zu-fundierter-diskussion/

[4] http://dasendedessex.blogsport.de/2012/06/29/die-gleichsetzung-beschneidung-der-vorhaut-bei-jungen-gewalttaetige-medizinische-eingriffe-gegen-intersexe-funktioniert-nicht/

„Landfrieden“ der Bäume

Als zum Jahrestag des Pogroms von Rostock-Lichtenhagen Joachim Gauck, die aktuelle Personifizierung des deutschen Staates, eine Eiche pflanzte, war das ein rätselhaftes Ritual: Ist denn dieser Baum nun ein Jubiläumsbaum, eine Siegeseiche? Und selbst wenn es eine „Friedenseiche“ sein muss, mit wem wurde dieser Friede geschlossen? Mit den Rostocker Bürgern, die damals sich vor Lust am Verfolgen kaum einkriegten? Mit den Einwanderern, die niemals Krieg führten? Mit den Neonazis, die gewiss unbeeindruckt von irgendwelchen Eichen immer noch Krieg führen?

Wer von Staates wegen den nazistischen Terror bekämpfen wollte, dem stünde ein einziges probates und wirksames Mittel bereit: Die „Illegalen“ sofort legalisieren, Residenzpflicht, Sammelunterkunft und Gutscheinzwang abschaffen, das Asylrecht wieder herstellen und für jeden nachweislich von Nazis ermordeten Flüchtling, Juden, Einwanderer, Antifaschisten, Obdachlosen 100.000 bedingungslose Einwanderungsgenehmigungen im Trikont verteilen. Das wäre eine Geste, die tatsächlich Frieden mit der Einwanderung schaffen würde und den Nazis den Krieg erklärte. Die deutschen Konservativen, Grünen, Liberalen und Sozialdemokraten aber glauben, mit einem einzigen gepflanzten Bäumchen sei das überhaupt nicht heimliche Bündnis von Neonazis und Abschiebestaat so einfach zuzudecken.

Das glaubt auch Götz Ali. Unter dem markigen Titel „Der Landfriede muss geschützt werden“ regt er sich auf. Vor allem darüber, dass eine Rostocker Antifa in einer nächtlichen Aktion just diesen „Friedenseiche“ genannten Triumphbaum des Neonazismus gefällt hatte. Für ihn steht das am Beginn einer Reihe, in der das Attentat auf einen Rabbi in Berlin und der Überfall von Neonazis auf ein Tanzcafé in Zwickau folgen, bei beiden Vorfällen wurden insgesamt drei Personen schwer verletzt.

Die Untaten von Rostock, Berlin und Zwickau weisen Unterschiede in den Zielen auf und, was Rostock betrifft, in der Wahl des Mittels, aber einiges haben sie gemein. Die Täter verletzten mehrere Grundrechte anderer. Sie agierten in Gesinnungsgemeinschaften und aus weltanschaulichen Motiven. Ihre aggressiven Akte verübten sie nicht gegen Individuen, mit denen ein spezieller Streit entstanden war, sondern gegen Angehörige einer als feindlich oder als andersdenkend angesehenen Gruppe. Damit schädigten sie das auf zivile Konfliktregelung bedachte Zusammenleben aller. Sie förderten den Großgruppenhass, der ein Gemeinwesen dauerhaft unterhöhlen kann.

Für Götz Aly ist also diese Eiche eine „Angehörige einer als feindlich oder als andersdenkend angesehenen Gruppe“ mit „Grundrechten„. Das gerbsäureproduzierende Laubholzwächs kann nun nicht mehr heiraten, wen es will, und sich nicht mehr frei versammeln. Auch Artikel 16 und 20 der Grundrechte kann der Baum nicht mehr wahrnehmen, Götz Aly hält offenbar von beiden zu wenig, um hier einen Zusammenhang zu erstellen. Aus einer minderen Sachbeschädigung, eventuell noch einem Verstoß gegen irgendwelche Baumgesetze, wird für ihn ein „Landfriedensbruch“. Weil man nun, so Aly, nicht mit „Toleranzkursen“ den Antifaschismus auf Friedlichkeit verpflichten könne, gebe es für alle drei Beispiele von Landfriedensbruch nur ein Mittel:

Es geht darum, Grenzen zu ziehen und die Verletzung des Landfriedens aus politischen und weltanschaulichen Motiven – insbesondere das Schlagen, Treten und Morden von Menschen, weil sie nicht der eigenen, sondern einer anderen Gruppe zugerechnet werden – unnachsichtig zu verfolgen und hart zu bestrafen.

Gerade einem Experten der Geschichte des Nationalsozialismus sollte so ein Aufruf als Verharmlosung nachgetragen werden. Die platte Formulierung „Großgruppenhass“ hat schon ihren eigenen Frieden gemacht mit dem Hass auf Kleingruppen wie Juden, Obdachlose, Flüchtlinge oder eben jene Vietnamnesen im Rostocker Sonnenblumenhaus. Dieser infame und zynische Aufruf zur Verfolgung eines gelungenen Streichs gegen einen der dümmlichsten, pervertiertesten, infamsten Akte des „Staatsantifaschismus“ seit Jahrzehnten als Landfriedensbruch trägt gewiss nicht zu einer freieren und gerechteren Gesellschaft bei, er suggeriert vielmehr, dass soweit alles in friedlicher Ordnung sei, solange nur genügend Bäume gepflanzt werden.

Schuld und Vorhaut

 Der folgende Artikel bildet den vorläufigen Abschluss einer Trilogie. Die Beschneidungsdebatte, die keine ist, verläuft entlang tiefenpsychologischer Verwerfungslinien. In zwei weiteren Beiträgen (1, 2) problematisierte ich die Sexualneiddimension: Sobald der Vorhaut ein Wert zugesprochen wird, werden zwangsläufig bisherige Kompensationsformen der Differenz in Frage gestellt. Verdrängter Neid und Kastrationsangst beherrschen dann die Abneigung gegen die jeweils andere Position.

Die zweite Ebene ist die einer allgemeinen analen Abwehr der Vorhaut als Zeichen zu intensiver Körperlichkeit: Sie stinke, sehe hässlich aus, sei wertlos, überflüssig, ein Irrtum der Evolution, befördere Krankheiten und in den puritanischen Ländern symbolisiert sie die Onanie. Für die symbolische Aufladung der Vorhaut und der Beschneidung gibt es zwei mediale Beispiele.

Ein populärer Film über Katharina die Große stellt der edlen Schönheit Katharina einen infantilen, perversen, hässlichen Peter gegenüber, der wegen seiner Phimose kein Kind mit der Zarin zeugen könne. Die wird aber von ihrem Liebhaber schwanger. Es muss also schleunigst ein Akt mit dem Zar Peter stattfinden, damit man ihm das Kind unterschieben kann. Man macht ihn betrunken und beschneidet ihn, in der nächsten Szene lässt er sich dann endlich verführen. Die Vorhaut symbolisiert hier das Elend eines ganzen Reiches, ihre Beseitigung bereitet die Beseitigung des Zaren vor und damit die „Befreiung“ Russlands.

Der Film trägt jenseits dieser symbolischen Dimension zum populären Irrtum bei, eine Beschneidung sei ein winziger Eingriff, den man im Zustand durchschnittlicher Trunkenheit kaum bemerke und dem am nächsten Tag Sex folgen könne: Der Film-Schnitt legt zumindest diese Abfolge nahe.

Ein weiterer Film, in dem die Beschneidung verharmlost wird, ist „Robin Hood – Helden in Strumpfhosen“. Wir sehen eine satirische Gestalt eines missionierenden Juden, der Beschneidungen mit dem Werbeträger verkauft, die Frauen seien ganz wild drauf. Er führt eine Art Guilliotine vor, mit der es in Sekundenbruchteilen vonstatten gehe und danach solle man ein bisschen Wasser drauftun. Der Film ist natürlich nicht ernstzunehmen, dürfte aber durchaus das verzerrte Bild einer Beschneidung von Millionen darstellen: Kurzer Schnitt mit einer Art Guilliotine und kaum Schmerzen.

Tatsächlich werden die wenigsten Menschen außerhalb eines abgehärteten medizinischen Personals Filmaufnahmen einer Beschneidung ertragen können, ohne Phantomschmerzen am eigenen Genital und Übelkeit zu verspüren. Man schneidet sorgfältig einmal senkrecht bis zum Eichelrand und von da mit einer kleinen Operationsschere oder einem Skalpell direkt am Rand zwischen Eichel und Vorhaut entlang. Danach wird alles mit einem selbstzersetzenden Faden vernäht. Der Rand muss genau getroffen werden, da die Oberhaut auch mal verziehen kann und dann zuviel Haut fehlen würde. Bei Erwachsenen dauert die Wundheilung leicht vier Wochen, die Narbenbildung und Veränderung der Eichelhaut erheblich länger und bis zu Jahre später können noch Veränderungen auftreten: vor allem das Abschuppen der verhornenden Eichelhaut, brüchige Hautübergänge zwischen Narbe und Eichel aber auch klassische Narbenschmerzen, Missempfindungen am nunmehr offen liegenden unbefeuchteten Übergang von Harnröhre zur Eichel. Wer die in Lokalanästhesie vorgenommene Operation bewusst mitansieht, kann auch einen reaktualisierten Kastrationskomplex und eine temporäre, tiefenpsychologisch begründete erektile Dysfunktion erleiden. Alle Symptome lassen sich relativ gut nachbehandeln, werden aber von Ärzten selten als Nebenwirkung erwähnt oder nachuntersucht. Verabreicht wird in der Regel eine Lanolincreme, um die Hautveränderung zu erleichtern. Keloide kommen vor. Bei der klassischen Hand-Masturbation kommt es insbesondere in der Frühphase der Narbenbildung durch den stärkeren Zug am Gewebe leichter zum Aufreiben des Narbengewebes und auch nach vollständiger Heilung ist die Penishaut aufgrund des wegfallenden Spielraums zugempfindlich. Wer als Kind beschnitten wurde, hat in der Regel bereits vollständig angepasste Masturbationstechniken entwickelt und natürlich gibt es Kompensierungsmöglichkeiten wie die Anwendung von Hautcremes oder Gleitgels.

Die allgemeine Verharmlosung der Beschneidung war bis vor wenigen Wochen noch so dominant, dass Beschneidungsgegner, sogenannte Intaktivisten, als obskure Sekte mit einem massiven Kastrationskomplex verlacht wurden, die aus einer Mücke einen Elefanten machen. Es gab Studien, die eine (durchaus mögliche) narzisstische Besetzung der Vorhaut in toto pathologisierten und die Akzeptanz der Beschneidung zum Beweis einer gesunden Psyche nahmen.

Wenn in wenigen Wochen ein Gesetz verabschiedet sein wird, das Beschneidungen unter bestimmten Maßgaben legalisiert, geschieht das mit dem Argument „jüdisches und muslimisches Leben in Deutschland zu ermöglichen“. Diese Formulierung ist bezeichnend. Eine religiöse Praxis wird mit „Leben“ in eins gesetzt, darauf zu verzichten würde den Tod bedeuten. Nicht nachgewiesen ist, wie das Leben von Juden und Muslimen sowohl von der Religion wie auch von der Beschneidung und wie Religion von der Beschneidung zwangsläufig und auf ewig abhängen sollen.

Schreckensszenarien werden entworfen: Die fraglichen Gruppen könnten nach Polen (!) oder in noch barbarischere Regionen gehen und dort in unsauberen Hinterhofkliniken ihre Beschneidung vornehmen lassen. Das deutsche Medizinsystem war noch nie in der europaweiten Bestenliste, auf einmal gehören polnische Krankenhäuser, in denen sich  Deutsche ganz gern mal die Zähne oder die Brüste „machen“ lassen, zum medizintechnologischen „Anderen“. Wahrscheinlich wissen Menschen, die solche Ängste vor polnischen Krankenhäusern schüren, nicht, dass rituelle Beschneidungen bei Muslimen recht häufig in der Türkei durch traditionelle Beschneider vorgenommen werden (ein Grund, die Verwandten zu besuchen und manchmal kommen ein paar Dutzend oder Hundert Knaben hintereinander in einem rauschenden Fest dran), oder in Deutschland auch auf dem Küchentisch. Gering dürfte die Zahl der Ärzte sein, die in Deutschland überhaupt noch eigene Operationserfahrungen mit Beschneidungen haben, von Routine ganz zu schweigen. Daran wird auch eine entsprechende „Aufsichts“-Regelung der Bundesregierung nichts ändern, weshalb die Zeit bis zur Gesetzgebung die einzige Gelegenheit bietet, über Beschneidungen aufzuklären und so tatsächlich diese Zustände zu problematisieren.

Bei der Aufklärung stößt man allerdings auf ein tiefenpsychologisches Problem, das sehr viel schwerer fassbar ist, als die bislang angesprochenen Abwehrmechanismen: der Schuldkomplex.

Schuldgefühle löst die Beschneidungsdiskussion auf drei Ebenen aus.

1. Die individuelle Ebene. Eltern haben gegenüber ihren Kindern Schuldgefühle, müssen diese abwehren und sich vergewissern, dass die konkrete Beschneidung ein harmloser Akt war. Die Kinder wiederum haben Angst, ihre Eltern bezichtigen zu müssen und nehmen sie aus Konfliktvermeidung vorauseilend in Schutz. Resultat ist in beiden Fällen die Verharmlosung der Beschneidung, das Verdrängen von negativen Folgen und das Überidealisieren von positiven Folgen.

2. Die historische Ebene: Da Beschneidungen kollektivbildende Akte sind, bedeutet ihre Kritik auch Kritik am Kollektiv, dem aktuellen wie dem historisch sich reproduzierenden. Zu sagen, dass die Beschneidung heute überflüssig, falsch und Genitalverstümmelung ist, bedeutet die Aussage, dass alle Eltern der Geschichte, die diesen Akt vollzogen haben, mindestens im Irrtum und schlimmstenfalls „böse“ Menschen waren. Es ist übrigens fraglich, ob unter historischen Bedingungen eine Beschneidung je präventiven Charakter vor allem bezüglich der Phimose haben konnte. Aus dem Pentateuch ist das Wundfieber als Folge der Beschneidungen überliefert und es wird als Grund angeführt, dass Moses ihr aus dem Weg zu gehen suchte.

Unabhängig davon müssen diese beiden Ebenen in den jeweiligen Konstellationen gelöst werden: In der Familie und im religiösen/säkularen Kollektiv. Wirklich gravierend erscheint mir die für den jüdischen Ritus spezifische dritte Ebene:

3. Die antisemitische Ebene. Wenn, wie Freud nahelegte, die Imaginierung der Beschneidung beim Antisemiten Kastrationsängste auslöst und diese den Kern seines Antisemitismus ausmachen, so war es bislang bequem, zu sagen, dass die Beschneidung ja in Wirklichkeit harmlos ist und der Antisemit schlichtweg irrt über die Beschneidung.

Auf der gleichen Ebene wurden noch die Argumente der Intaktivisten als pathische Projektionen in den Wind geschlagen. Wenn nun die Beschneidung als Akt der Genitalverstümmelung anerkannt wird, erhalten nicht nur die Intaktivisten Recht, sondern auf einer subdiskursiven, unbewussten symbolischen Ebene auch die Antisemiten und deren historische Verbrechen.

Die Beschneidung als Akt der Genitalverstümmelung anzuerkennen bedeutet dann die unbewusste Assoziation der antisemitischen Gewaltakte mit einer Bestrafung für dieses Verhalten. Die Abwehr der Beschneidungsdebatte ist demgemäß die Abwehr der illegitimen Rationalisierung des Antisemitismus an der Beschneidung, letztlich des Antisemitismus selbst und nicht bloß das Eintreten für die Religionsfreiheit oder für ein theologisches, literalistisches Konstrukt des Bundes.

Träfe diese verkürzte und in Reinform schwer nachweisbare Deutung zu, würde sie eine kaum erträgliche Spannung zwischen Bestrafungsphantasie, abgewehrte Identifikation mit dem Aggressor, Kastrationsangst, Schuldvorwurf an die Eltern und Infragestellung des positiven kollektiven Selbstbildes diagnostizieren, die in Verdrängung und Verfolgungsangst münden kann. Die wütenden Ineinssetzungen von Nazismus und Beschneidungsverbot sprechen für die Existenz einer solchen tiefenpsychologischen Problemlage. Der offensichtliche Unterschied, dass der Nazismus nie das Recht des Individuums gegen das Kollektiv vertreten hat, dass also ein individualistisch begründetes Beschneidungsverbot nicht nur dem Kollektivrecht der Religionen sondern auch der suprematistischen Kollektivideologie des Nazismus diametral entgegensteht, wird ausgeblendet. Anstelle theologischer Diskussionen um die (Un-)Möglichkeit der Abschaffung der Beschneidung unter Erhaltung des religiösen Kollektivs tritt eine dualistische Radikalopposition, in der es nur Beschneidungsrecht oder den „Tod“ des jüdischen/muslimischen „Lebens“ zu geben scheint.

Die strukturell antisemitische, aber staatsantifaschistische Mehrheit im Bundestag kann ihrerseits die Drohung nicht aushalten, hier mit der konsequenten Abwertung eines spezifischen jüdischen und muslimischen Rituals dem ganzen in sich selbst tabuierten, aber nie abgeschafften Antisemitismus und Rassismus ein Einfallstor zu schaffen. Die Gesetzesinitiative antizipiert in der Formulierung vom „jüdischen und muslimischen Leben“ den Dammbruch des eigenen Ressentiments und den Umschlag von mühsam aufrechterhaltenem, begriffslosem Staatsantirassismus (dem die Realpolitik ohnehin Hohn spricht) in vernichtenden Antisemitismus. Weil man zu viele der vielfältigen Morphen des Antisemitismus in sich trägt, darf es keinen Makel am Judentum geben, an dem dieser in den deutschen Menschen auf der Lauer liegende Antisemitismus wieder Kraft gewinnen könnte. Die vermeintliche Toleranz ist mühsam durch Idealisierung verdrängtes Ressentiment, für die ernsthafte Bearbeitung von medizinischen, rechtlichen und theologischen Problemlagen bleibt kein Raum.

Wenn der Antisemitismus in dieser Debatte seine Kastrationsphantasien an der Beschneidung rationalisiert, so bedeutet doch die Anerkennung der Beschneidung als Kastration nicht die Legitimation der antisemitischen Kastrationsängste. Die Psychoanalyse des Antisemitismus weist keinen Irrtum über die Juden nach: Der Antisemitismus ist die „gewusste Lüge“, er geht gesellschafltichen Konflikten aus dem Weg und anstatt dort die Kastration zu riskieren, identifiziert er sich mit dem, was ihm als Individuum feindlich ist, dem nationalen oder antinationalen Kollektiv, und projiziert das von diesem als Negatives, Kastrierendes Erfahrene auf „die Juden“. Mit der Beschneidung hat das historisch wenig zu tun, auch wenn sie hin und wieder als Projektionsfläche aufscheint. Gemeinhin bekannt ist, dass der Antisemitismus sich sein Bild vom Juden aus sich selbst heraus schafft. Ein Beschneidungsverbot wird er ebenso inkorporieren wie die Legalisierung – und umgekehrt wird kein Antisemit durch ein Beschneidungsverbot oder eine Legalisierung von seinem Antisemitismus geheilt werden.

Mit der gleichen Begründung lässt sich auch die reaktualisierte Vermutung widerlegen, die Ritualmordlegenden seien an dem wohl ausgestorbenen Ritual entstanden, in dem der Mohel die Beschneidungswunde aussaugte um die Wundreinigung zu fördern und Blutungen zu stillen. Dann wären historisch entsprechende negative Berichte über konkrete Beschneidungsrituale häufiger. Auch in den antiken Antisemitismen findet sich die Beschneidung nur selten als Ideologem gegen das Judentum und wenn, ist es einer Reihe von anderen Ressentiments untergeordnet und tritt als Akzidentielles hinzu. Die europäischen Ritualmordlegenden erwähnen die Beschneidung nicht als verwerfliches Verhalten – dafür aber die Hostienschändung, die Hexensynagoge, den Hexensabbath und die Blut-Geldmagie.

Freud bietet eine zweite, weitaus schlüssigere Deutung des Antisemitismus an: Die von Antisemiten als „schlecht getauften Christen“, die das Negative und die unausgehaltene Widersprüchliche des unbegriffenen, weil unbegreiflichen Christentums auf das Judentum projizieren, allen voran dem christologisch notwendigem Gottesmord und dem magischen, virtuellen Kannibalismus der Eucharistie (projiziert als Hostienschändung und Ritualmord). Daher kam es zu Kreuzzugspogromen und Karfreitagspogromen, Pogrome in Folge von jüdischen oder islamischen Beschneidungsfesten sind jedoch nicht bekannt. Mit dem Hinzutreten des islamischen Antisemitismus wird die Beschneidungsthese Freuds noch unwahrscheinlicher, seine Taufthese ließe sich allerdings problemlos auf den Islam übertragen.

Während also die Freud’sche These zweifelhaft ist, dass der Antisemit seinen zweifellos gegebenen Kastrationskomplex an der Beschneidung bildet (wohingegen nachgewiesen werden kann, dass er ihn daran gelegentlich auflädt), besteht die wahrscheinliche Möglichkeit, dass für jüdische Individuen durchaus eine Abwertung der Beschneidung intrapsychisch Selbsthass und unbewusste Identifikation mit den Antisemiten auslöst, die wiederum abgewehrt werden muss.

Dahingehend ist den Beschneidungsgegnern anzuraten, angesichts der Drastik der hier formulierten Spannung ein Verständnis für diese Überreaktion einzuüben, auch wenn es schwer auszuhalten sein mag, sich nun selbst als Antisemit bezeichnet zu sehen. Weil man den modernen Antisemiten die Klage darüber, zu Unrecht als Antisemit diffamiert worden zu sein, leicht als Verdrängung nachweisen kann und die analytischen Begriffe zur Bestimmung des spezifischen Antisemitismus‘ parat hat, ist es nun umso bedeutender, sich nun selbst nicht analog idiosynkratisch zu verhalten, sondern diesen Verdacht und Vorwurf ernst zu nehmen, zu reflektieren, zu kontextualisieren und die zugrunde liegenden, möglichen Verdrängungsmechanismen ins Bewusstsein zu überführen. In keinem Fall wäre aber dem überkommenen Anspruch der Religionen, nach Belieben mit den Körpern ihrer Kinder zu verfahren, nachzugeben. Das religiöse und noch so orthodoxe Judentum gegen jeden Antisemitismus zu verteidigen ist der kategorische Imperativ. Er bedeutet nicht, eine Religion, und sei es die jüdische, vor zwangsläufigen Konflikten mit dem Realitätsprinzip zu bewahren.

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Die gesamte Trilogie zur Beschneidung auf Nichtidentisches ist über folgende Links abrufbar:

Ein Beitrag zur Beschneidungsdebatte

„Die latente Unehrlichkeit ihres positiven Israel-Knacks“ – Eine Diskussion der Gegner der Gegner der Beschneidung

Schuld und Vorhaut

„Afro-Faschismus“ und Hexenjagden

„some of you gyys are hypocrites when we take a stand against evil people that do witchcraft,obia,voodoo what ever u wana call it these people put curse on youmake bad things happen two they steal your kids kill them for sacrifice ther just gething back a taste of ther own medicine we have two get rid of them ther evil Demonic people look at jamaica they used two say no batyy mon [„Batty boys“: Slangwort für Homosexuelle, NI] you used fight against them Hard now you guys make them walk free ly in the country they take over the island thats why so much batty mon in jamaica now & running things cause you guys cant take a stand against them. look when people from Haiti came two jamaica when the Earthquake strike theycame & started two kill the kids doing ther Voodoo ritual nobody did nuthing some victims that escape said they were Haitiens so why not kill does who try kill you you wana proteck them two Thats why jamaica cant go nowere 50 year anyversay 7 nuthing two show for it et rid off the Obia man dem NOW“

Dieser Kommentar findet sich in einigen Varianten des gleichen Stils unter einer Filmaufnahme eines Mordes, der unter Lynchmord schon zu schlecht gefasst wäre. Einige mit Autorität ausgestattete Hexenjäger verbrennen fünf Menschen.

http://www.wickedhype.com/videos/details/13832/Five-People-Suspected-Of-Witchcraft-Burnt-Alive-In-Kenya-Very-Graphic-NSFL

Sehr ähnliche Bildsequenzen fanden sich bereits vor einem Jahr, entweder wird die Verfolgungstechnik von der gleichen Bande immer noch reproduziert, oder es handelt sich um das gleiche Ereignis. Sowohl Traditionalität als auch Masse solcher Vorfälle sind insbesondere in Kenia hinreichend belegt und diskutiert.

Leider erfahren wir im konkreten Fall nichts über die Kamera. Handelt es sich um die Verfolger selbst, um Entwicklungshelfer, um skrupellose Journalisten, besonders skrupellose Ethnologen, Ethnologen oder Journalisten, die blindwütig einem Objektivitätsdiktat folgen? Dörfliche Lynchmobs werden in aller Regel von einzelnen Individuen gestoppt, um so mehr, wenn ein gewisser Status an die im Lynchmord durchgestrichenen rechtlichen Instanzen erinnert.

Während also der Dokumentation schon ein Hautgout der Exploitation anhängt, zeigt sie doch einen Einblick in eine afrikanische Realität: Den dörflichen und urbanen Terror gegen willkürlich ausgewählte Individuen. Immer öfter wird dieser Terror, sobald medialisierte Bilder davon entstehen, von einer spezifischen Ideologie begleitet, die im Kommentar oben enthalten ist. Die vier Nerven, an denen der afrikanische autoritäre Charakter sich gereizt fühlt, sind die Behandlung von Kindern, Frauen, Homosexuellen und als Hexen angeklagten Individuen. Für bestimmte Individuen ist die Misshandlung dieser Gruppen unverhandelbares Recht und der Widerspruch dagegen kolonialer Eingriff. Was wiederum seine eigene, pervertierte Wahrheit erfährt in Kommentaren wie diesem:

„all ypu african fucks are so stupid! witchcraft ? really? its 2012people! this is some ones mother and family! hell is definitely real for ppl like you… you africans always taking up my commercial time with flies & shit on your face talking bout feed a child for a $1 a day …FUCK NO! how did you guys come accross a camera then? how bout you sell it.. or if youre all so hungry…gwan guh cook ya mudda and eat her!“

Sich von beiden aggressiven Ideologemen nicht irritieren zu lassen ist die Herausforderung, der sich leider kaum jemand stellen mag. Eine Argumentation findet in keinem Fall statt.

Alles freigeräumt. Freiheit und Sicherheit im linken Haus

Die kulturelle Dialektik von Alkohol, Arbeit, Halbbildung und reglementiertem Vergnügen manifestiert sich in Kombination mit individueller Psychopathologie bisweilen in einem unschönen Kneipenszario: Jemand ist betrunken, belästigt andere Gäste, faselt rassistische Monologe oder verletzt die körperliche Integrität von Frauen oder Männern. Natürlich möchten andere Gäste lieber in Ruhe ihren Abend verbringen und daher erteilt jeder halbwegs geschäftstüchtige und vernünftige Kneipenbetrieb solchen auffällig gewordenen Personen ein Hausverbot, um zumindest Wiederholungen von solchen Unannehmlichkeiten vorzubeugen.

Nun gibt es aber auch eine andere Szene, die in Kneipen passieren könnte: Ein politisch aktiver Mensch, vielleicht hat er einen örtlichen Parteienfilz aufgedeckt, vielleicht ist er nur Engländer, schwarz oder schwul oder ein Hergezogener, möchte in einer Kneipe sein Bier trinken. Die Stammtische murren, der Wirt verweigert ihm Getränk und Service. Ein klarer Fall von Diskriminierung. Es steht zwar jedem Verein frei, eine Zielgruppe zu definieren. Wenn an Diskotheken und prinzipiell öffentlichen Kneipen von vornherein eine Selektion stattfindet, wirkt das ein wenig spießig und elitär. Wo Türsteher nach Äußerlichkeiten das Publikum sortieren, entstehen fließende Übergänge zum immerhin heute strafbaren Rassismus.

In sich links oder alternativ nennenden Szenetreffs wiederum findet sich noch nicht allzu lange das Versprechen eines sogenannten „Freiraums“. Die BetreiberInnen solcher Lokalitäten versichern auf Wandanschlägen und Getränkekarten allen Gästen, dass „Sexisten, Rassisten und Antisemiten“ nicht erwünscht seien. In einer Universitätsstadt ergänzt man die Liste der Unerwünschten gerne um Verbindungsstudenten. Wer darüber hinaus sexuell oder verbal belästigt werde oder Belästigungen bezeuge, wird ans Thekenpersonal verwiesen.

Der abgesteckte Katalog von Tatbeständen ist offen für relativ beliebige Modifikationen: von sehr unangenehmen Verhaltensweisen bis hin zur privaten Meinung. Insinuiert wird, dass die inkriminierten Ideologien trennscharf und eindeutig zu bestimmen seien, als gäbe es nicht innerhalb der Linken sehr unterschiedliche Definitionen beispielsweise des Antisemitismus. Das in der Häufung suggerierte Bedrohungspotential erzeugt eine ängstlich-drohende Grundstimmung, der permanenten Angst vor Infiltrierung. Einige Aspekte dieser Angst will diese begrenzt fundierte Analyse begrifflich erfassen und zur Diskussion stellen.

Zunächst wird der eigentlich selbstverständliche Grundsatz des gegenseitigen Respekts und der Höflichkeit zur erwähnenswerten Ausnahme, zum Alleinstellungsmerkmal hochstilisiert. In politischen Institutionen bezeugt eine solche Aufwertungsstrategie ein angekränkelten Selbstbewusstsein. Zwei Elemente kommunizieren doch bereits die Gesinnung dieser Einrichtungen nach außen: Das Veranstaltungsprogramm und die Ästhetik. Wenn nun mit dem Hausverbot für Andersgesinnte ein Drittes hinzutritt, spricht das dafür, dass weder die Ästhetik noch die inhaltliche Präsentation von den linken Orten selbst wirklich ernst genommen werden, dass an ihre kombinierte Wirkung insgeheim gar nicht geglaubt wird.

Bereits die Ästhetik wird durch Kontrolle abgedichtet. Seit Jahren häufen sich Berichte über systematische Diskriminierungen in Szenelokalen. Wenn sie auf zulässige Insignien und Dresscodes verzichteten und dann noch geringfügig eleganter in H&M oder Boheme-Sakko eintreten wollten, wurden gestandene Antifaschisten vom Thekenpersonal unter Generalverdacht gestellt: „Bist du ein Burschi oder was?“

Weil gerade Zugehörigkeit und Gesinnung immer auch unsichtbar sind, sozusagen im schönsten Stressmob-Actionwear-Schafspelz ein Wolf verborgen sein könnte, mahnen zusätzlich Plakate und Bierdeckel-Aufdrucke zur permanenten Wachsamkeit gegen sexuelle Übergriffe und Verbrechen. Die „antisexistischen Bierdeckel“ sind besonders interessant und können stellvertretend für den Umschlag von Solidarität in Paternalismus und Kontrolle analysiert werden. In fünf abgebildeten „Übergriff“-Szenarios wird die Passivität der jeweils viktimisierten Frau als total imaginiert, die Ratschläge richten sich nicht an das prospektive Opfer sondern empfehlen einer dritten Person Handlungs- und Wahrnehmungsweisen an, die meistens selbst übergriffig sind. Die Bierdeckel sind allein ihrer Form nach Propaganda. Mit jedem Schluck soll ein moralisches Wahrnehmungmuster ins Unbewusste transportiert werden. Was an Komplexität solche Situationen ausmacht, wird in Bild und Wiederholung geplättet.

Zunächst aber wäre zu klären: Woher aber kommt diese relativ junge Angst, dieses Gefühl, sich in einem permanenten Abwehrkampf gegen sexuelle Übergriffe zu befinden? Wer in eine bürgerliche Kneipe geht, wird möglicherweise einen Rassisten am Nachbartisch vom Leder ziehen hören. In aller, wirklich aller Regel aber kann jede und jeder in einer durchschnittlichen Kneipe friedlich sein Getränk zu sich nehmen und muss schlimmstenfalls befürchten, vom Nachbartisch von endlosen Belanglosigkeiten und grausam inhaltsleerem Geschwätz oder einer Junggesellinenparty belästigt zu werden.  Die Bierdeckel gestehen das implizit ein: Es wird überhaupt nicht jene rituelle sexuelle Belästigung visualisiert, wie sie tatsächlich in manchen rückständigeren Orten gerade unter Alkoholeinfluß noch usus ist und wie sie auch der männliche Autor dieses Textes am eigenen Leib erfahren hat. Strategien gegen sexuelle Belästigung und Vergewaltigung zu denken und zu üben macht Sinn, aber deren permanente Visualisierung im öffentlichen Raum ist der Instrumentalisierung für andere Zwecke verdächtig.

 „Eigentlich wissen wir es ja. Auch an Orten wie diesem suchen Täter ihre Opfer aus und treten in Aktion – vor unser aller Augen. […] Blicke, Nachgehen, anzügliche Bemerkungen und vieles mehr können jedoch schon Übergriffe sein. Nicht selten gehen sie einer Vergewaltigung voraus.“

Die Bierdeckel-Szenen stilisieren noch Blicke zu „häufigen“ Vorläufern von Gewalttaten und Schaulust hoch. Eine versonnene ästhetische Betrachtung des Anderen wird der grinsenden, abgefeimten Gewalt verdächtig, die des regulierenden Eingriffs einer aufmerksamen, bierdeckelsensibilisierten Person bedürfe, unter Umständen selbst dann, wenn es der oder die Betrachtete selbst nicht bemerkt oder stört. Diszipliniert wird nicht erst durch konkrete Situationen, sondern durch ein Panoptikum, in dem alle sich gegenseitig überwachen und kontrollieren. Mit dem so erzeugten generellen Verbot der optischen Anbetung des Schönen aber wird das Schöne selbst unbewusst durchgestrichen, seine Attraktivität beneidet. Etwas darf schön sein, aber niemand anderes darf es zu lange betrachten. Ein mythologisches Verhältnis spannt sich da auf, das des Medusenhauptes auf der einen und des bösen Blicks auf der anderen Seite. KünstlerInnen und Verliebte studieren Gesichter und Körper, können sich darin verlieren und mitunter vergessen, dass sie mit ihrer bornierten, ewig blickenden Sprachlosigkeit hinter der Oberfläche ein Individuum verunsichern und zum Mittel für ihren Zweck machen. Diese ambivalente und durchaus latent „übergriffige“ Blickerotik wird auf einmal als Vorbote der extremen Gewalt verdächtig, man muss sie daher überall erblicken, erkennen, überwachen und verfolgen, in keinem Fall tolerieren: „Aber wir sehen keine Alternative.“ Auch wo ein lüsterner, älterer Mann jungen Frauen beim Gespräch nur zusieht, und diese sich daran stören, ohne es verbalisieren zu können, steht am Rand des Bierdeckels eine bezeichnende Reihe von Universalrezepten: „feuer rufen, eineinsnull, hilfe holen, öffentlich machen, laut werden, zuschlagen.“ Wie eine angemessene Kritik der Schaulustigen und ein reifer Umgang der männlichen oder weiblichen Schönen mit neidischer oder lüsternerner Schaulust der Anderen zu gestalten sei, denken auch die ausformulierteren Texten über „Blickregimes“ oder „Lookism“ nicht an. Wahlweise ist ihnen der Blick aufs Schöne oder das Schöne selbst verdächtig. Suggeriert wird eine Welt ohne Übergriffe, ohne die alltägliche Zumutung, dass eine Gesellschaft vermittels des Kapitals auf Körper und Geist zugreift, diese für ihre Zwecke verwendet und meist nur ein klägliches Äquivalent dafür bietet. Aufstehen müssen, Bus fahren, seine Arbeit begutachten lassen, sich von nicht so schönen Menschen ansehen, das heißt konsumieren lassen, in einer Kneipe der einzige Nichtraucher sein – das alles heißt Übergriffe am eigenen Leib zu erleiden, die regressive Ausflucht ist die Monade, der Schutzraum, das private, in dem niemand mehr irgendwie übergreift.

Zu begrüßen wäre, wenn tatsächlich betroffene Individuen zu Kommunikationsstrategien und Wehrhaftigkeit gegenüber sexueller Belästigung ermutigt würden, idealerweise in Workshops oder irgend dialogisch. Antisexistische Bierdeckel definieren aber eher neue Formen des Unzumutbaren (Blicke vom Nachbartisch, ein Augenzwinkern, nicht allein auf einer nächtlichen Straße unterwegs zu sein), sie fühlen in steter Wiederholung vor, was Individuen widerwärtig oder verängstigend zu finden haben, und sie steigern so zuallererst die Angst der potentiellen Opfer. Das unterscheidet die wünschenswerte, selbstverständliche und doch nicht zwangsläufige Solidarität mit Opfern vom Paternalismus, der die „Hilfe“ immer mit narzisstischen Boni belohnt und sein Objekt gewiss nicht zur Emanzipation führt.

Einer Frau, die ganz gut brüllen, drohen, einen „Candywrapper“ anwenden oder an entsprechender Stelle zutreten könnte, versichert Bierdeckel Nr. 1, man würde ihr diesen Akt der Aggression abnehmen. Sie soll so wehrlos bleiben, wie man sie erzogen hat. Emanzipation bedeutet aber auch den anstrengenden Verzicht auf die allzu selbstverständliche feminin-passive Auslagerung von Aggression an Dritte, eine Strategie der Kollusion. Aggression und Gewalt darf und soll in dieser Konstellation nur männlich sein – das weibliche Ideal bleibt narzisstisch rein von verfemter Aggressivität. Diese zutiefst patriarchale und ökofeministische Erbschaft aufzukündigen ist nur durch ein Zurückführen von Frauen an den verlernten strategischen Einsatz von Aggressionen möglich, nicht aber durch die regressive Bestätigung ihrer angeblich ontologischen Wehrlosigkeit auf Bierdeckeln.

Wahrscheinlicher will die permanent evozierte Bedrohung auch etwas anderes erreichen, einen Distinktionsgewinn. Wenn die invasive Außenwelt nur noch als Hort von Vergewaltigung, unreglementierten Trieben und Gewalt imaginiert wird, kann dadurch die eigene Burg gefestigt werden. Foucault hat in seinen lesbarsten Stellen ein tiefes Misstrauen gegen eine Strategie formuliert, die einen Herrschaftsanspruch als Fürsorge tarnt. An den Hausordnungen der linken Räume ist bemerkenswert, dass Verantwortung gern departementalisiert wird: Stets ist die Versicherung da, dass man sich kümmern werde. Die Vermittlung durch das Thekenpersonal ist nun nicht aus dessen besonderer Schulung im Umgang mit sexueller Gewalt oder Konfliktmediation abgeleitet, sondern aus der Machtposition.

Diese Macht verspricht den Anwesenden Ruhe und Identität. Die in den Kneipen versprochene Sicherheit muss aber kontinuierlich durch Ermahnungen auf Getränkekarten, Plakaten, Bierdeckeln gestört werden. Um Ruhe zu schaffen, wird die Bedrohung permanent, mit jedem Getränk, visualisiert, exerziert und zelebriert. Dass dadurch tatsächlich Traumatisierte in ihrem Ruhebedürfnis ernst genommen werden, ist zweifelhaft. Die allgemeine Folge einer solchen Ritualisierung ist eine stets aufgereizte, stimulierte Angstlust und insgeheim womöglich eine Identifikation mit den bildlich vorgeführten Vergehen.

Historisch war die autoritäre Inbetriebnahme von  sexuellen Gewaltängsten/-phantasien  Teil der fürchterlichsten Regimes, allen voran der Nationalsozialismus. Dessen Nacktkörperkultur und Natürlichkeitswahn, von Fetischismus und Aggression vermeintlich gereinigte Sexualität, ging mit dem Wahnbild einer invasiven Außenwelt einher, in der Afrikaner und Juden ihr sexuelles Unwesen treiben würden. Das Verhältnis von Sexualneid und Rassismus wurde hinlänglich analysiert. Der puritanischere Ku Klux Klan lynchte vor allem schwarze Männer, der konstruierte Vorwurf war fast immer die „Vergewaltigung einer weißen Frau“. Im Kambodscha der roten Khmer galt jegliches Private verdächtig, Familien wurden zerrissen, die dünne Reiswassersuppe musste in den schlimmsten Distrikten im Kollektiv eingenommen werden, um die allseitige Kontrolle auszuüben und bei geringsten Delikten „im Interesse der Allgemeinheit“ Menschen zu liquidieren. Die „fürsorgliche“ Überwachung des Privaten hat eine so perfide Tradition, dass ihr äußerstes Misstrauen selbst dort entgegen zu bringen ist, wo sie sich antitotalitär gibt. Anzusetzen wäre zuerst an der Schimäre der Außergewöhnlichkeit, der narzisstische Überhöhung, dass diese „Sensibilisierung“ für die Linke neu und spezifisch sei. Jeder „Tatort“ und jeder Horrorfilm kultiviert schließlich die Angst davor, dass auf neugierige Frauen nur Vergewaltigung und Tod warten, dass das liebenswerte Date sich als Psychopath entpuppt, dass die Wälder von kindsentführenden Mafiosi wimmeln und hinter jeder dunklen Ecke ein Monstrum auf sein Opfer lauert.

Der linksautonome Antisexismus schlug mehrfach schon in verfolgenden Autoritarismus um. Als einige gegen „den Sexismus“ Protestierende in Marburg einen mit fadenscheinigen Argumenten als sexistisch identifizierten Vortrag verhinderten, entwarfen sie spontan ein Submissions-Ritual. Wer den universitären Veranstaltungsraum betreten wollte, sollte unter einem aufgespannten Transparent hindurchkriechen. Dieses Ritual ist so alt wie archaisch: In Gallien wurde das römische Heer von den Tigurinern besiegt, diese schickten die besiegten Soldaten unter einem Joch hindurch. Herrschaft über Andere in deren Körper einzuschreiben ist eine der perfidesten und ältesten Machtstrategien. Vermeintliche Herrschaftskritik schlug in Marburg um in unreflektierteste Herrschaftsausübung, in Heimzahlung und Zurichtung des Anderen durch dessen gebeugten Körper.

Solche Rituale zeugen von einem erschütterten Selbstvertrauen in die sprachlichen Fähigkeiten, in den Begriff. Die wütende Aktion folgte begriffsloser Identifizierung. Man will, gegen die Freudsche Kränkung aufbegehrend, Herr im „eigenen“ Haus sein und lässt gerade dadurch seinen niedrigsten Lüsten – Häme, Heimtücke, Rache, Verfolungslust – freien Lauf. Einer der Veranstalter wurde denunziert, ein Anruf bei seinem Chef sollte seinen „Rassismus und Sexismus“ bloß stellen, was fast zu seiner Entlassung geführt hatte. Natürlich haben die Aggressiven „keinen Verdacht auf sich selbst“, wie man in der Psychotherapie umgangssprachlich sagt. Sie sind „unschuldige Verfolger“, in gerechter Sache aggressiv, es läuft alles ganz logisch auf Notwehr hinaus, denn „wir sind die Guten“, wie man auf Demonstrationen gerne skandiert. Mit dem gleichen Argument wurde in einem Szenelokal das Hausverbot gegen einen der verhinderten Veranstalter ausgesprochen, der Begründung zufolge hätten der ausgewiesene Mensch „beschissene Texte“ in einem Blog geschrieben, die das avantgardistische Selbstbild offenbar so tief kränkten, dass der Nachweis für sexistische, rassistische oder antisemitische Zitate gar nicht mehr erbracht musste. Aus dem Vorwand des Schutzes von potentiellen Opfern von Sexismus und Rassismus wurde ganz konkret ein systematisches und organisiertes Verfolgen von Andersdenkenden. Das gleiche Phänomen spielt sich überall ab, wo Bahamas-Autoren in Dialog mit Kritikern und Anhängern treten wollen – die bundesweite Verfolgungsjagd auf diese Kritiker der Linken ist längst Realität.

Es ginge, wenn Begreifenwollen einsetzte, auch anders. Man könnte den Individuen ihre Selbstverantwortung zurück geben, statt sie erst durch die Imagination übermächtiger Bedrohungen einzuschüchtern, und ihnen dann als einzigen Ausweg die Autorität des Kollektivs anzuempfehlen. Anstatt Plakate aufzuhängen, die sich sinngemäß an potentielle Vergewaltiger richten, und dadurch Vergewaltigungsopfern suggerieren, eine Missverständnis auf der Kommunikationsebene oder theoretische Unbildung habe beim Täter vorgelegen; anstatt mit solchen Plakaten die Vergewaltigung als alltägliche Imagination zu inszenieren, wie jene prüde Kirchen-Pornographie, die ihre Lust an Abbildungenen als Denunziation abnormalen Verhaltens tarnt; anstelle einer solchen Veralltäglichung des Sexualverbrechens könnte man Frauen und Männer analytisch bilden, ihnen komplexere Begriffe anempfehlen durch ausgearbeitete Texte, ihnen Strategien aufzeigen, Nein- und Ja-Anteile an sich selbst und an anderen zu erkennen, abzuwägen und angemessen zu artikulieren, schlichtweg ihnen beizubringen, nett zueinander zu sein, ohne gleich den immer riskanten und kränkungsgefährdeten Verführungsversuch oder die sexuelle Dimension aller zwischenmenschlichen Beziehungen zu kriminalisieren.

Das Missverhältnis zwischen der Arbeit an Begriffen und Tanzveranstaltungen ist allerdings eklatant. Gut möglich ist, dass dadurch erst die Angst genährt wird. Es fehlen Begriffe und Worte, wenn Kommunikation durch Lautstärke und Alkohol unterdrückt wird und letztendlich nur noch begriffslose somatische Emotion herrscht und allenfalls mit Tanzstilen Attraktion und Attraktivität, Zugehörigkeit und Ablehnung kommuniziert werden kann. Sprache und Körper verfließen, die Angst vor der sprachlichen Verletzung gleicht sich der Angst vor dem körperlichen Übergriff an, wer „beschissen“ schreibt, beginnt plötzlich tatsächlich zu stinken und muss weggespült, verwiesen, verboten werden.

Was wäre der politischen Sache verloren, wenn nicht nur die mit Hausverbot bedachten antifaschistischen Feministen und Kritiker der Linken sondern vielleicht sogar ein Verbindungsstudent in einer solchen Örtlichkeit gelegentlich sein Bier trinken würde. Wäre man sich seiner intellektuellen Überlegenheit zutiefst gewiss, man könnte freudig eine Gelegenheit wahrnehmen, das rhetorische Geschick am willkommenen Gegner zu testen. Das beinhaltet aber die Gefahr, auf religiöse Anteile der eigenen Ideologie zu stoßen, unbegriffene Natürlichkeiten erschüttert zu sehen. Glaubt man denn wirklich, dass ohne Verbote die Infiltration der stickerbewehrte Institution – die allein durch die Aufkleber und die ranzigen Kritzeleien so oft an ein Kinderzimmer erinnern, das vor den Eltern geschützt werden muss – glaubt man also wirklich dass die Invasion der verrauchten Schuppen durch Burschenschafter anstünde oder macht man sich insgeheim die Welt durch ein sattes Stück Unfreiheit, Intoleranz und Unehrlichkeit vor sich selbst erträglicher?

Kritik an der derzeitigen Praxis ist selbst dort zu leisten, wenn sie ihr Recht hat, bei tatsächlichen Übergriffen. Die notwendige Abwehr „Hausverbot“ masst sich mitunter an, das Strafrecht zu ersetzen: In Frankfurt wurde einem als geständig bezeichneten Vergewaltiger ein Hausverbot erteilt – von einer Strafanzeige wird dem Opfer implizit abgeraten, das linke Recht sei dem bürgerlich-politischen durch die „Definitionsmacht“ überlegen.  Ein solches Verhalten ist perfide: Das Opfer wird „geschützt“ – solange es sich ans Kollektiv bindet und in dessen Räumen aufhält. Es wird an diesem Punkt mit Leib und Seele abhängig gemacht von seiner politischen Gesinnung. Im konkreten Fall wird noch ein Kollektivgewinn herausgeschürft: „Bei einer Vergewaltigung sind alle betroffen. Sie ist keine Privatangelegenheit, sondern muss als politische, nämlich sexistische Gewalt politisch geächtet werden.“

Das Hausverbot schickt sich nicht nur an, bürgerliche Rechtsgrundsätze wie das „in dubio pro reo“ oder das Grundgebot eines festgesetzten Strafmaßes, sondern auch jede Analyse zu ersetzen. Das höchste Interesse der kritischen Theorie lag darin, herauszufinden, wie die Menschen zu dem geworden sind, was sie sind und wie man es sich und anderen begreiflich macht – auch und gerade an den ärgsten der nationalsozialistischen Massenmörder. Das bedeutet nicht den pazifistischen Ausschluß von Notwehr und Aktion, sondern das Primat der Analyse und der Trauer um die Verlorenen.

Ein solches Primat würde endlich auch jenes abscheuliche Identifizieren abstellen, das aus Individuen, die vielleicht in einer schlechten Polemik wirklich danebengehauen haben, auf Lebenszeit einen „Sexisten“ oder „Rassisten“ in toto macht. Wer das einmal „ist“, hat so schnell kein Auskommen. Kontagiös verbreitet sich das Gerücht und es erweitert sich.  Hatte sich jemand am ersten Ort wegen einer Plakatzerstörung einen Verweis eingetragen, eilt ihm rasch die Identifizierungswut hinterher und treibt ihn als Gesinnungstäter und prospektiven Vergewaltigungsbefürworter aus allen Institutionen, deren das linke Kollektiv habhaft werden konnte. Es scheint erneut so, als könnte das Selbstbild einer aggressionsbereinigten besseren Gesellschaftsform, der neuen Menschen, nur aufrechterhalten werden, wenn man diesen neuen Menschen hin und wieder einen richtigen Verbrecher präsentiert, der wie die Manifestationen des Verdrängten im Horrorfilm an den Fenstern kratzt. Symptomatisch für diese Form des Identifizierens ist die zeitliche Entfristung von Hausverboten. Nicht wird versucht, zu disziplinieren, gerecht zu sein, Kritik wirken zu lassen, vorzubeugen – das Hausverbot will in seiner derzeitigen Form Identität schaffen und das Kollektiv begründen, das keine anderen Argumente mehr hat und zulässt und in sich schon jene Deprivation ahnt, die es den anderen, willkommenen oder dem Bild zurechtgelogenen Objekten angedeiht, um sie nicht zu schmerzhaft selbst zu fühlen.

Der aparte Genosse

Sigmar Gabriel hat bekanntermaßen nach einem Besuch Hebron mit einem Apartheidstaat verglichen. Erfahrenere Blogger nehmen wieder einmal die Arbeit auf sich, Klarstellungen über die Lage in Hebron zu verfassen, in der palästinensische Terroristen Juden und Palästinenser spalteten und für Interaktionen straften. Über die generelle Unsinnigkeit des Vergleiches kann das folgende Video ein paar Einsichten erlauben.

Die Widerlegung im Empirischen scheitert aber meistens an der Zirkularität des Vorurteils: Wenn dies nicht gilt, so greift man eben zu etwas anderem und wenn sich irgendwo dann doch ein terroristischer, böser, dummer, verbrecherischer Jude findet, so haften gewiss alle dafür und überhaupt hat nun mal Israel auch Atomwaffen und in der Bibel schon Unrecht gehabt.

Würde man den Vergleich Gabriels aber inhärent kritisieren, dann träte erst seine Dummheit ganz ans Licht. Zwei Kritikfronten stellen sich dann in etwa so dar:

1. Wenn Israel auch nur annähernd der Apartheid ähnlich wäre, was würde Deutschland es kümmern? Deutschland war Hauptfinanzierer des südafrikanischen Apartheid-Regimes. Noch keine faschistische Diktatur zwischen Colonia Dignidad, Argentinien, Spanien, Irak und Iran musste sich vor diplomatischen Bösartigkeiten Deutschlands fürchten. Die erste Frage, der sich Gabriel stellen muss, wäre also: Wenn Hebron/Israel ein rassistisches und faschistisches autoritäres Regime wäre – würde es dann gerade der deutschen diplomatischen Tradition nicht explizit zu Gesicht stehen, diesem Handelsbeziehungen, Hochtechnologie, Giftgas und ideologische Schützenhilfe anzubieten?

2. Gabriel unternimmt eine Differenzierung zwischen Israel als „Apartheid“ und Deutschland als „Nicht-Apartheid“, dem es unter der nicht gegebenen Voraussetzung eines israelischen rassistischem Regime dann zustünde, dieses moralisch zu verurteilen. Diese Behauptung eines „besseren“ Deutschlands oder zumindest eines „besseren“ Genossen Sigmar Gabriels entlarvt sein wahltaktisches Gestänker gegen Israel als primitive Projektion eigener Befindlichkeiten, gegen die nicht einmal die Lage in Hebron diskutiert werden müsste.

Bekanntermaßen trat Gabriel nicht aus der SPD aus, als diese unter Schröder und Schily die „Zuwanderungs“-debatte lostrat und im Verein mit willfährigen Grünen und CDU den bis heute andauernden rassistischen Normal-Zustand zementierte. Gabriel ist Vorsitzender der Partei, die in zahllosen kommunalen Ämtern es in der Hand hätte, Flüchtlinge menschenwürdig zu behandeln. Er ist Vorsitzender einer Partei, die während der zahlreichen Regierungen des letzten Jahrzehntes die Todeszahlen von Flüchtlingen im Mittelmeer stetig ansteigen ließ. Seit 1988 starben mindestens 17.000 Menschen an den EU-Außengrenzen. 287 davon sind von Grenzpolizisten erschossen worden. Mit dem Abkommen mit dem Ghaddafi-Regime in Libyen setzte die von Deutschland dominierte EU Flüchtlinge wissentlich Folter und Tod aus.

Das sozialdemokratische und das konservative Europa errichteten einen gigantischen Segregationsapparat, der auf Unbewaffnete, Hilflose, Ausgehungerte, Hilfsuchende abzielt. Die werden, wo sie nicht schon in Bergen, Flüssen und Meeren sterben, gejagt, gefasst und unter zynischer Anwendung von Beruhigungsmitteln und Folter abgeschoben in nachweislich lebensgefährliche Zustände. Das ist die Warte von der aus Gabriel den weitgehend im Rahmen der Menschenrechte stattfindenden Schutz der körperlichen Unversehrtheit von Juden vor terroristischen, rassistischen und antisemitischen Angriffen als rassistisch bezeichnet.

Ich werde nicht wählen. Alle deutschen Regierungs-Parteien haben den rassistischen Konsens mitgetragen, keine macht irgend Anzeichen, Regierungsbeteiligung von einer sofortigen Auflösung der mörderischen Grenzpolitik in Deutschland und an den Außengrenzen der EU abhängig zu machen.

Der deutsche Hass auf Flüchtlinge

Zu einem Kuriosum, das einem als Reisender begegnen kann, zählt die altruistische Gastfreundschaft in sehr armen Staaten. Das sprichwörtliche letzte Schwein wird geschlachtet, um dem alten Gastrecht keinen Makel zuzufügen. Deutsche reisen mit Motorrädern und Fahrrädern entlang irgendwelcher nostalgischer Handelsrouten. Sie werden beschenkt und eingeladen, im Austausch für ein wenig Plausch und auch mal eine Adresse. Wehe den Gastgebern, wenn sie selbst nicht einmal aus Abenteuerlust sondern schon von Folter und Hunger vertrieben Zuflucht in Deutschland suchen sollten. Was man Gästen und Flüchtlingen in Deutschland anzutun vermag, geht weit über Erkaltung oder Geiz hinaus, es ist schon Hass auf jene, die es wagen, hier auf ein Gast- und Asylrecht zu pochen, das noch in den ärmsten Staaten Afrikas Millionen einlösen können:

„Dreimal am Tag bekamen die Asylbewerber Brot mit Käse, mittags noch eine Suppe dazu. Das Brot wurde rationiert. Wenn die Heimbewohner nach mehr fragten, hieß es, es gebe für jeden nur zwei Scheiben. Aus Protest traten die Afghanen in einen Hungerstreik und randalierten in der Küche. „An so vielen Abenden bin ich hungrig zu Bett gegangen“, erzählt Sepehr. „Es waren übrigens auch schwangere Frauen dort, für die das bedrohlich war.“

Von Schneeberg im Erzgebirge ging es später nach Neustadt in der Sächsischen Schweiz. Dort wohnten die Asylbewerber in Containern. Einige der Bewohner waren schon seit Jahren hier. „Ein total verlassenes Dorf“, meint Sepehr. Nur alte Menschen auf den Straßen. Ständig wurde er angestarrt, im Supermarkt folgte ihm das Sicherheitspersonal. Die Vorstellung, an diesem Ort womöglich Monate verbringen zu müssen, quälte ihn.“

„Homosexualität: Ich bin ein Niemand.“ V. Marian Brehmer: http://www.berliner-zeitung.de/gesellschaft/homosexualitaet–ich-bin-ein-niemand-,10808022,11376420.html