Der Lügenbolzen

Norbert Bolz, von Beruf Vorzeigeintellektueller, hatte einst nach jahrelanger Kommunikationsforschung Überraschendes festgestellt:

„In der von den Massenmedien formatierten Öffentlichkeit ist Kritik durch Moralisierung ersetzt worden: Zwischen den Polen Lob und Tadel wird das Nachdenken eingespart, in Feuilletons und Talkshows wird längst nicht mehr diskutiert, sondern nur noch emotionalisiert.“

Ein detailreicher Befund, der anscheinend nicht unbedingt zur Umsetzung im eigenen Gerede führt. Sein neuester Gimmick ist ein Artikel in der Tageszeitung mit dem Titel „Linke Lebenslügen“. Gar nicht emotionalisierend wird der Titel mit einer Kopftuch tragenden Frau illustriert, die am Schild „Kottbusser Tor“ vorbeiläuft. Ob hier eine Selbstmordattentäterin auf dem Weg zur Arbeit abgebildet ist oder eine Kommunikationswissenschaftlerin mit Stipendium vom Goethe-Institut kann man nicht so genau sagen  – die Unterschrift suggeriert jedenfalls, hier gebe es laut Norbert Bolz keine Linken. Stattdessen gibt es da Fremde, schlimmer noch, Fremde, die nicht von hier sind und das führt Bolz zu seinem Ziel: Einer „Integrationsdebatte“.

Selbst wenn es eine solche Integrationsdebatte tatsächlich gäbe, man müsste befürchten, die Kritik daran in einem Zitat von Adorno/Horkheimer aufgehen lassen zu können:

„Das Wunder der Integration aber, der permanente Gnadenakt des Verfügenden, den Widerstandslosen aufzunehmen, der seine Renitenz herunterwürgt, meint den Faschismus.“ (Adorno/Horkheimer DdA 138)

Bolz entspricht in seinem narzisstisch verplombten, autoritären Charakter voll und ganz dem Verfügenden aus dem Zitat. Sein Urteil blendet zwangsläufig jegliche faschistoide Tendenzen aus, die er so sehr selbst vertritt:

„Dass es hier keine Fortschritte gibt, liegt nicht an den Dummen und Ewig-Gestrigen, die man an den Stammtischen vermutet, sondern an den Linken.“

Bolz muss erst gar nicht nachweisen, ob eine Relevanz einer „linken“ Position zur Integration überhaupt je in irgendeiner Gesetzgebung gegeben war. Er denkt in seiner Schlafmützigkeit ja selbst noch in Kategorien wie „rechts“ und „links“. Auch eine emische Entfaltung dieser Etiketten müsste schlüssig machen, dass Kulturalismus, Ethnozentrismus und eine verquere Toleranz tatsächlich der „Linken“ bevorzugt eigen wären. Diese Ideologeme prägen allerdings nicht minder die nationalistischen und islamistischen Bewegungen, die Toleranz vor allem für die eigene und fremde völkisch-bornierte Barbarei markieren wollen. Eine Arbeit an Gegenständen interessiert Bolz aber auch gar nicht, er will ja als Mythenzertrümmerer in die Geschichte eingehen:

„Erstens: der Mythos der Ausländerfeindlichkeit. Kranke Hirne unter Glatzen, Springerstiefel und Kampfhunde gibt es überall in der Welt. Aber diese Verrückten, für die wir in Deutschland aus historischen Gründen natürlich besonders sensibel sind, sollten doch nicht den Blick dafür trüben, dass wir in einem der ausländerfreundlichsten Länder leben“

Auch das muss der „Wir in Deutschland“ – Wissenschaftler nicht belegen. Er könnte es auch nicht, es ist nämlich schlichtweg falsch. Deutschland ist weder „besonders sensibel“ geworden, noch „eines der ausländerfreundlichsten Länder“. Wovon überhaupt? Der Welt? Wohl kaum. „Ausländerfeindlichkeit“ sei selbst gar ein „Mythos“: so trinkt Bolz sich Deutschland schön. Dabei erspart sich der Wissenschaftler nicht einmal die billigsten Platitüden, um größere gesellschaftliche Gruppen zu bauchpinseln:

„Denn fast jeder, der ein schulpflichtiges Kind hat, fängt an, vernünftig zu werden.“

Dicht beschrieben ist das wahrlich nicht. Fairerweise muss man notieren, dass Bolz wenig Zeit hat. Er muss, nachdem er mit einem im Stahlbad der Fakten und Argumente gehärteten Hammer den ersten Mythos siegreich zertrümmert hat flugs zum nächsten Mythos eilen:

„Zweitens: der Mythos des Multikulturalismus. Zwei Schlagworte markieren die festgefahrene Integrationsdebatte: „Multikulti“ auf der Linken und „Leitkultur“ auf der Rechten. Multikulturalismus ist das Fazit einer mit dem Kolonialismus des 19. Jahrhunderts beginnenden Selbstkritik des Westens, die das Abendland als einen Schuldzusammenhang konstruiert, aus dem uns nur „die Anderen“ erlösen können.

Aber dieser Multikulti-Kult der guten Anderen ist so undialektisch wie die Gegenparole „Leitkultur“. Am Multikulturalismus ist wahr, dass wir die Anderen brauchen. An der Leitkultur ist wahr, dass wir die Anderen nur anerkennen können, wenn wir unserer Toleranz eine Grenze setzen. Nur wer selbstbewusst ist, kann auch offen sein. Wer keine eigenen Werte zu verteidigen hat, kann auch nicht tolerant sein. Wahrer Multikulturalismus setzt eine Leitkultur voraus.“

Würde Bolz die „Anderen“ nicht „brauchen“, wäre der ganze Utilitarismus perdu, der seinen Pseudo-Liberalismus noch am Leben hält. Doch dazu später. Es steht noch ein Stein vom Mythos, der „Deutschenhass“:

„Es ist eigentlich eine ganz selbstverständliche Erwartung, dass Einwanderer sich mit dem Land ihrer Wahl identifizieren. Dass Linke ein solches Bekenntnis zu Deutschland nicht erwarten, ja geradezu verabscheuen, liegt an ihrem pathologischen Verhältnis zum Patriotismus. Gerade hinter ostentativer Ausländerfreundlichkeit versteckt sich oft nichts anderes als Deutschenhass.“

Wie „selbstverständlich“ diese Identifikation ist, bezeugen zahllose Austreibungen und Genozide, Pogrome und Mordbrennereien gegen Einwandernde: Chinesen in Indonesien, Nigerianer in Ghana, Ghanaer in Nigeria, Simbabwer in Südafrika, Zigeuner auf der ganzen Welt, Juden auf der ganzen Welt außerhalb Israels,  Palästinenser im Libanon und überhaupt Ausländer in Europa. Was an der Ablehnung von einer dümmlichen Ideologie für Ich-Schwache, dem Patriotismus, sowie einem Hass auf deutsche Patrioten pathologisch sei verschweigt Bolz – er will ganz unemotionalisierend das patriotische Nationalgefühl seiner prospektiven deutschen Leserschaft abernten. Und denen kann er dann auch mit viel Preisnachlass etwas Elitenduldung verkaufen:

„Drittens: der Mythos von der Unmenschlichkeit des ökonomischen Arguments. Wer heute nicht sieht, dass Deutschland Einwanderer braucht, ist einfach ignorant. Die Frage ist nur: welche? Dass an deutschen Universitäten brillante Köpfe aus dem Ausland ausgebildet werden, denen nach Studienabschluss dann Arbeit und Aufenthalt verweigert werden, ist natürlich ein Schildbürgerstreich. Wir brauchen Kinder und Inder. Vor produktiven Immigranten, die sich mit Deutschland identifizieren, hat niemand Angst.“

Würden sie sich tatsächlich wie Bolz mit Deutschland identifizieren, wäre Grund genug zum Fürchten – meistens fürchten sie sich selbst genug vor den täglich ausgespuckten Drohungen, der Toleranz demnächst Grenzen zu setzen. „Schildbürgerstreiche“ treffen die Schildbürger, was an Elend von derzeitigen Regelungen bei den tatsächlich Betroffenen angerichtet wird ist Bolz in seiner pathologischen Germanomanie schlichtweg unzugänglich.

„Die Akzeptanz der Einwanderer hängt daran, dass die Immigration nicht als Invasion erscheint. Der Eindruck der Invasion entsteht am leichtesten bei Wirtschaftsflüchtlingen und beim Nachzug von Großfamilien. Natürlich muss Deutschland stets politisch Verfolgten Asyl gewähren; aber die Kriterien dafür sollten dem gesunden Menschenverstand nachvollziehbar sein.“

Nicht nachvollziehbar sind die Kriterien für Bolz, wenn Flüchtlingswellen den Deutschen als Invasion erscheinen. Nachvollziehbar sind für Bolzens gesunden Menschenverstand wohl so zwei bis dreitausend Flüchtlinge pro Jahr, die dann aber gefälligst sich fügen und baldmöglichst wieder zurück zu ihren Großfamilien sollen. Das „natürlich“ ist schon Verrat an der langen Geschichte des Asylrechts, das erst erstritten werden musste, bevor es weitgehend abgeschafft wurde und daher eine gar nicht „natürliche“ Errungenschaft ist. Was für Bolz gar nicht geht: Wenn Leute die Chancengleichheit nicht nutzen und einfach zu „Wirtschaftsflüchtlingen“ mutieren, die also keine echten Flüchtlinge sind, sondern stinknormale Hungerleider ohne 66 000 € Jahreseinkommen. Und die werden zu Opfern gemacht, wenn man ihnen was zu Essen gibt:

„Der Wohlfahrtsstaat erwartet nicht, dass man etwas für sein Leben tut – und die Medien dokumentieren, dass man nichts für sein Leben tun kann. Gleichzeitig weiß jeder, dass er sich auf die Humanität unserer Gesellschaft verlassen kann, die ihm – zumindest materiell – ein halbwegs menschenwürdiges Leben ermöglicht. Insofern macht der Wohlfahrtsstaat die Betroffenen, die seine Profiteure sein sollten, zu seinen eigentlichen Opfern.“ (Bolz 2009)

Von was für einem Wohlfahrtsstaat und welcher Verlässlichkeit und welchen Medienbotschaften Bolz hier halluziniert, bleibt unbekannt. Der Wissenschaftler hat sich jedenfalls definitiv nicht mit deutschen Medieninhalten auch nur annähernd hinreichend befasst. Wer dazu Menschenwürde schon zum „halbwegs“ teilt und das dann noch als generöse „Humanität“ regelrecht anprangert, hat sich schon zu dem Formstahl gemacht aus dem auch NsdAP-Soziologen geschmiedet wurden. Bolz gliedert sich entsprechend ein, macht sich nützlich und schmeißt eine zünftige Überraschungsparty für alle, die er noch nicht ausgesiebt hat:

„Deutschland bekommt die Leute, die es braucht. Und die, die dann kommen, sind herzlich willkommen.“ (Bolz 2010)

Schön, dass der chancengleich im Lande geborene Grenzwissenschaftler Bolz das auch so gönnerhaft rüberbringen kann. Was mit den Übrigen geschehen soll, formuliert Bolz gar nicht erst aus, weil jedem ohnehin klar ist, was der derzeitige Usus vorsieht: Ausschaffen, ins Meer treiben oder an Ort und Stelle verhungern lassen.

Bolz, Norbert 2010: „Linke Lebenslügen.“ In: Tageszeitung: http://www.taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/linke-lebensluegen/

Bolz, Norbert 2008: „Modernes Leben – Geistiger Selbstmord.“ http://www.focus.de/kultur/leben/modernes-leben-geistiger-selbstmord_aid_299051.html

Bolz, Norbert: „Irgendwas kann man immer werden.“ http://www.wiwo.de/lifestyle/irgendwas-kann-man-immer-werden-397894/

Dem Rambo sei Gsicht

„Rambo zeigt sein Gesicht“ prollt es vom Fronttransparent der S21-GegnerInnen und von der taz-Titelseite. Im Fernsehen zeigen gealterte ErstdemonstrantInnen ihre Freude darüber, Mappus als „Rambo“ identifizieren zu können: „Des isch ein Rämbo, ein Rämbo isch des!“

Das Glückgefühl, das unheimliche Bedrohliche in einem Wort gebannt zu sehen, ersetzt den DemonstrantInnen jede weitere Denkarbeit. Rambo, das ist das Böse, das Feindliche, die Aggression, die sie selbst nur mühsam ihm Zaum halten, der Amerikaner – Gegen Rambo sein heißt gut sein. Fern der diskutablen Qualität ihrer Anliegen muss den StuttgarterInnen Stupidität konstatiert werden. Wären sie Revolutionäre, John J. Rambo wäre ihr Idol, nicht ihr Feindbild. Er, der langhaarige Hippie, wird schließlich in „First Blood“ von Polizisten gefoltert und probt dagegen den Aufstand, indem er einer spießigen amerikanischen Kleinstadt die Quittung für ihre xenophobe Beschränktheit präsentiert. In „First Blood II“ sieht er sich mit einem Komplott der Regierung konfrontiert, gegen das er obsiegt. In „Rambo III“ ist es ein folternder Sowjet-Offizier, den er in Afghanistan herausfordert. In „John Rambo“ zerlegt ein gealterter Haudegen die Infanterie der burmesischen Todesschwadronen und bringt den Rebellen Waffen. In jedem Film finden sich Matritzen des Machtmissbrauchs, keine wird von John J. Rambo vertreten, alle von ihm angegriffen. Das muss zumindest ein Teil der Demonstrierenden wissen – es liegt daher nahe, dass sie sich schon unbewusst mit dem Prinzip identifizieren, gegen das John J. Rambo antritt. Sie hausieren mit ihrem Konformismus, und dieses Hausieren wird nur verstärkt durch das Missverhältnis von Aufwand und Gegenstand.

Während die Streiks in Frankreich als „Chaos“ denunziert werden – sie sind mehr als alles andere die geordnete Organisation der Bürger – gehen die Kleinbürger im benachbarten Landstrich gegen einen Bahnhofs-Neubau auf die Straße. Der Satiriker Harald Schmidt spießte präzise aus, was er am Protest verachtenswert findet: Dass diese Leute stolz darauf sind, zum ersten Mal in ihrem Leben demonstrieren zu gehen. Sie tolerieren, dass Ghaddafi Milliarden für die Flüchtlingsbeseitigung zugeschoben bekommt. Sie dulden oder befördern Abschiebungen. Die Rente mit 67 wird geschluckt, ebenso alle milliardenschweren und sinnlosen Subventionen für Zuckerrüben, Mais, Weinbau, Viehzucht und sonstiges Agrobusiness, das die afrikanische Landwirtschaft in den Ruin treibt. In Baden-Württemberg bekommt jedes Schlafzimmer seine Umgehungsstraße und ein eigenes Gewerbegebiet mit Autobahnzubringer, Atomkraftwerk und Flughafen – im Zweifelsfall auch gerne im Hochmoor. Wenn im niedersächsischen Gorleben oder in der Asse Milliarden beerdigt werden für den schwäbisch-badischen Atommüll, demonstriert nur ein winziger Bruchteil der StuttgarterInnen. Sie haben die Relationen aus den Augen verloren – ihre dümmliche Identifizierung von John J. Rambo und Mappus ist nur ein weiterer Ausdruck dessen.

Siehe auch:

„Rambology – mit John J. Rambo durch die Dialektik der Aufklärung“

„Der Sohn von Rambow – Rezension“

„Dei Mudder sei Gsicht“ (Eine Alternativproduktion zur Kritik schwäbischer Disintegration in die Moderne)

MdB auf Dialogbereitschaft

vielen Dank für Ihre Mail.

In der Tat wird es in der kommenden Woche eine Delegationsreise des Unterausschusses Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik in den Iran geben. Diese Reise steht keinesfalls im Gegensatz zum gemeinsamen Interesse der SPD-Bundestagsfraktion, des Bundestages und der Bundesregierung, auf die Umsetzung der UN-Sanktionen durch den Iran zu beharren.

Wichtig dabei erscheint mir jedoch, dass weiterhin eine Dialogbereitschaft signalisiert wird. Der Kultur- und Bildungsbereich ist m.E. dafür sehr geeignet – insbesondere, wenn Verhandlungen im „politischen“ Bereich ins Stocken geraten.

Eine Aufwertung der iranischen Führung ist demgegenüber durch den Besuch in keiner Weise weder beabsichtigt noch gegeben.

Mit herzlichen Grüßen

Ihre Eva Högl

E-mail vom 14.10.2010

Peter Gauweiler, Eva Högl und noch einige andere MdBs dialogisieren demnächst also im iranischen „Kultur- und Bildungsbereich“.  Was dabei herauskommen soll, ist schon klar: Man spricht von der „iranischen Führung“ und nicht von Regime oder Diktatur. Man wertet die impertinenten Drohungen Ahmadinedschads zu „Verhandlungen“ auf, die „ins Stocken“ geraten seien – als habe es je ein einziges positives Ergebnis dieser Farcen gegeben. Man will „weiterhin Dialogbereitschaft“ zeigen – als sei das keine Aufwertung des islamistischen Regimes, das mitnichten mit seiner demokratischen Opposition „verhandelt“, sondern sie in Folterkellern verschwinden lässt.

Die letzte Tapferkeit

Es verwundert immer noch mehr: Sarrazin musste Amt und Würden hinter sich lassen. Menschen, die intellektuell Lichtjahre hinter seinem verquasten Kork zurückbleiben, bleiben Parteivorsitzender, Ministerin, Parteisekretär. Seehofer, Gabriel und Schröder wuchteten sich zuletzt prominent und ungeniert ins Licht der Öffentlichkeit. Alle drei gerieren sich gerne als sozialer Flügel der jeweiligen Partei. Aus den in Wirklichkeit von den liberalen Grünen angefressenen Parteien SPD und CDU/CSU war wiederholt Angst vor einer „rechten“ Konkurrenz zu vernehmen.

Die in letzter Zeit häufiger geäußerte Drohung, die CDU würde keine Partei rechts von der CDU erlauben, gibt allen Grund zur Unruhe. Rechts und links sind untaugliche Spielmarken, die dringlichst durch ihr jeweils gemeintes – faschistisch, konservativ-demokratisch, liberal, kommunistisch, stalinistisch, sozialdemokratisch, etc.  – ersetzt werden sollten. Tatsächlich lässt sich in allen Parteien ein staatsmonopolistischer und ein liberaler, ein antisemitischer und ein proisraelischer, ein völkischer und ein weltbürgerlicher, ein faschistischer und ein demokratischer Flügel finden. Die Unreinheit der Begriffe links und rechts lässt jedoch gerade Rückschlüsse auf das zu, was die CDU als rechts von sich befindlich ansieht und aufzufangen plant: die nationalsozialistische Position. Diese ist es, die Seehofer einnimmt, wenn er im Jargon Goebbels zur „letzten Tapferkeit“ im Kampf gegen vermeintliche Müßiggänger aufruft, denen das Existenzgeld und wohl noch die letzte Garantie, die sie noch haben, die Nahrungsmittelgutscheine zu streichen sind –  die also im industriellen Stande der paradiesischen Überproduktion ausgehungert werden sollen. Der Schlag nach unten passt zum Schlag nach außen. Wenn er über unverträgliche Kulturkreise spricht, meint er nicht die Troglodyten in bayrischen Vororten, die immer noch gern ihren Kaiser oder den Adolf wieder hätten. Seehofer attackiert einen diffusen Raum, der nicht das Extrem des Fremden ist, sondern den Beginn des Fremden, das eigentlich Verwandte markiert – der Orient. Im Prinzip vollzieht er das, was Sarrazin vorgeworfen wird: Rassismus. Die Herkunft aus einem Kulturkreis ersetzt rhetorisch das Gen und aus dieser Herkunft soll die Ausgrenzung geschlossen werden. Schröder wiederum nutzt die Gunst der Stunde und plätschert gegen „Deutschenfeindlichkeit“ in Schulen – ein ähnlich strukturiertes Konstrukt wie die „Islamphobie“. Eine winzige Sparte des Mobbings in der Schule, das sich an Akzidentiellem aufreibt und strukturell eher homophob als rassistisch ist, wird zum neuen Popanz eines drohenden Untergang des Deutschtums.

Die Maßnahmen sehen sich jeweils gleich: staatliche Zwangsmaßnahmen am Rande des Totalitären  (Kindergartenpflicht – als würde dort Aufklärung garantiert), Abschiebung, Einwanderungsstop.

Dringend nötig ist es, gegen die medial zurechtkastrierten Drei-Sekunden-Kommentare der Opposition, die Fakten zu klären. Einwanderung aus Nicht-EU-Staaten ist bei genauerer Betrachtung so gut wie unmöglich. Niemand kann aus dem sogenannten „arabischen Kulturkreis“ einfach so mit Sack und Pack einwandern und Deutscher werden. Flüchtlinge werden weitgehend durch die Dritt-Staaten-Regelung abgefangen. Eine Aufenthaltserlaubnis gilt ohnehin nur noch sechs Monate. Bleibt die Niederlassungserlaubnis. Die erhalten nur Menschen mit Arbeit, Wohnsitz, Deutschkenntnissen, Integrationstests und einem mehr als fünfjährigen Aufenthaltsowie einer langjährigen Beschäftigung in Deutschland. Was also von Seehofer eingefordert wird, ist ohnehin längst Gesetz: Es gibt keine effektive Einwanderung. Es gibt  lediglich ein marodes Asylrecht, das noch dazu durch Auslegungen untergraben wird. Und es gibt die für die Türkei nicht unbedingt randständige Möglichkeit, Menschen aus Nicht-EU-Staaten zu ehelichen und nach Prüfungen und Bewährungsauflagen dieser Person den deutschen Pass zu ermöglichen. Was für die Troglodyten aus Unterfranken noch lange nicht heißt, dass die Person nun Deutscher oder Deutsche sei.

Die Zahlen für Visa-Anträge konterkarieren Seehofer bereits im Ansatz. Von den erteilten Visa dürfte der allerkleinste Teil zu einer Niederlassungserlaubnis führen. Der Löwenanteil entfällt eher auf sehr wohlhabende Touristen und Geschäftsleute, die noch dazu mehrfach in den Zahlen auftauchen, wenn sie für Geschäftsreisen mehrere Visa benötigen.

Für Ankara hat sich die Zahl der jährlichen Visa seit 2000 konstant halbiert (von 73695 auf 38723) während die Ablehnungen bei um die 15 000 stagnieren. In Istanbul und Izmir gilt der gleiche Abfall. Ähnlich verhält es sich mit  Algier (10984 auf 5472 bei konstant um die 1500 Ablehnungen) und Tunis (18255 auf 7133).

Dubai hat zwar seit 2000 eine Verdoppelung von 21010 auf 41329 erfahren, seit 2007 stagnieren die Zahlen allerdings, gegenüber 2009 ist eine Abnahme zu verzeichnen. Das gleiche gilt für Abu Dhabi mit 6869 im Vergleich zu 12548.

Die insgesamt erteilte Visa-Zahl an allen Botschaften ist seit 2000 um etwa eine Million von 2607012 auf 1649392 gesunken, gegenüber einem leichten Anstieg der Ablehnungen von 167038 auf 177207.

(Quelle: Bundestag)

Ein Drittel weniger Menschen wollten überhaupt Deutschland besuchen, dem verbleibenden Rest steht man aber nicht weniger misstrauisch gegenüber. Und wer trotzdem noch in Deutschland verweilt, wird ausgeschafft: 2009 wurden 7289 Menschen aus Deutschland mit dem Flugzeug abgeschoben – auch in Diktaturen wie China, Irak,  Weissrussland, Vietnam oder Afghanistan. 536 weitere wurden über den Landweg und 5 mit dem Schiff weggeschafft. Sehr tapfer, das. (Quelle: Bundestag)

Das sind im Vergleich zu anderen, multiethnischen Staaten lächerliche Zahlen. In Ghana ist es selbstverständlich, dass 70 verschiedene Sprachen und Dialekte gesprochen werden und Nomaden im Norden wie auch Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten sich ansiedeln. Bei Fluchtbewegungen im Kongo-Krieg sind Hunderttausende auf der Flucht über die Grenzen in die Nachbarstaaten. Deutschland besitzt also die in Seehofer, Gabriel und Schröder kristallisierte Arroganz, zum einen nichts Effizientes gegen irgendeinen jüngeren Genozid oder Massenkrieg auf der Welt unternommen zu haben und zum Anderen sich taub und dumm zu stellen, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht. Es profitiert in unverschämter Weise von Diktaturen, etwa in Iran, und weist dann auch noch den Opfern dieser Dikaturen die Tür. Es diskutiert über die Schimäre „Einwanderung“ während noch nicht einmal ein Asylrecht errichtet und verteidigt wurde, das diesen Namen verdient. Seehofers Vorstoß zur letzten Tapferkeit ist nicht der letzte, den man erwarten darf. Solche sogenannten „Tabubrüche“ sind antidemokratisches Gift, das Fortbestehen des Nationalsozialismus in der Demokratie. Es wird bedrohlich bleiben, solange keine Opposition sich offen für ein Asylrecht im Wortsinne und eine Einwanderungsgesellschaft im weltbürgerlichen Sinne mit einer klaren Garantie der Auflösung des deutschen Volksfetischs hin zu einer weltbürgerlichen, demokratischen Gesellschaft einzusetzen wagt.

 

„3096 Tage“ – Eine Buchempfehlung

Der Satz, Natascha Kampusch hat ein Buch geschrieben, wäre fast gelogen. Kampusch wurde gezwungen, dieses Buch zu schreiben. Hinlänglich bekannt sind die Ressentiments und Phantasien, die sich an ihrer Person entzündeten. Der Entschluß, einen öffentlichen Beruf als Moderatorin einer Fernsehsendung auszuüben, wirkt weiterhin magnetisch auf jene vom unverhohlenen Neid Getriebenen. Solche Menschen agieren stereotyp in ihren immer gleichen Fixierungen auf eine gigantische Verschwörung hinter dem offensichtlich Entsetzlichen, in dem das Opfer zum Mitverschwörer wird und sie, die kleinen Leute hinter ihren Bildschirmen die Opfer der Opfer sind.

Doch auch die kleinen, journalistischen Spitzen sind bezeichnend. Rolf Leonhard titelte seine Rezension in der taz ganz unverschämt: „Eine ungleiche Zweierbeziehung.“ Im Artikel phantasiert er: „Immer wieder bekommt man den Eindruck, dass Kampusch, die sich im Laufe der Jahre zur stärkeren Partnerin in dieser ungleichen Zweierbeziehung entwickelte, für ihren Entführer Mitleid empfand.“

Mitleid, und das sagt Kampusch mehrfach ganz explizit, ist ein ganz zentrales Moment ihrer Strategie und ihres Reflexionsprozesses:

Es fiel mir in den folgenden Wochen und Monaten leichter, mit ihm umzugehen, wenn ich ihn mir als armes ungeliebtes Kind vorstellte. (Kapmusch, 123)

Mir tat dieser Mann, der mich über acht Jahre lang gequält hatte, in diesen Momenten unendlich leid. Ich wollte ihn nicht verletzen und gönnte ihm die rosige Zukunft, die er sich so sehr wünschte: er wirkte dann so verzweifelt und allein mit sich und seinem Verbrechen, dass ich manchmal fast vergaß, dass ich sein Opfer war – und nicht zuständig für sein Glück. (Kampusch, S. 257)

Es bedarf schon einiger Ignoranz, von solchen expliziten Stellen „den Eindruck“ zu bekommen. Schlichtweg frech ist es, die Folter als „Zweierbeziehung“ zu bezeichnen und darin auch noch Kampusch als „stärkere Partnerin“ zu halluzinieren, als gebe es die eingeschobenen akribischen Tagebuchaufzeichnungen nicht. Die sperren sich dem Zitat. Zitiert werden können allein Kampuschs nachträgliche Reflexionen in der Vergangenheitsform:

Mein Körper zeigte deutliche Spuren des Essens- und Lichtentzugs. Ich war nur noch Haut und Knochen, auf den Waden zeichneten sich schwarz-blaue Flecken auf meiner weißen Haut ab. Ich weiß nicht, ob sie vom Hunger oder von den langen Zeiten ohne Licht kamen – doch sie sahen beunruhigend aus, wie Leichenflecken. (Kampusch, S. 206)

Kampusch wurde von Priklopil durch ein ausgefeiltes System aus Isolationsfolter, Hungerfolter, Kontrollfolter und brutaler Quälerei unterworfen. Dass sie sich nicht brechen ließ, auch Erfolge gegen ihren Peiniger errang, macht sie noch lange nicht zur „stärkeren Partnerin“. Schlichtweg falsch ist auch Leonhards Behauptung:

„Sie erklärt das sogenannte Stockholm-Syndrom, das Opfer dazu bringt, sich mit ihren Peinigern zu solidarisieren.“

Kampusch erklärt nicht, sie kritisiert diesen Begriff vehement. Nach einer Silvesterfeier, bei der Geschenke mit Priklopil ausgetauscht wurden, reflektiert sie:

Wenn ich davon spreche, kann ich in den Gesichtern mancher Außenstehender Irritation und Ablehnung sehen. Die eben noch empathische Teilnahme an meinem Schicksal friert ein und wandelt sich in Abwehr. Menschen, die keinerlei Einblick in das Innere der Gefangenschaft haben, sprechen mir mit einem einzigen Wort die Urteilskraft über meine eigenen Erlebnisse ab: Stockholm-Syndrom. […] Eine kategorisierende Diagnose, die ich entschieden ablehne. Denn so mitleidsvoll die Blicke auch sein mögen, mit denen dieser Begriff aus dem Handgelenk geschüttelt wird, der Effekt ist grausam. Er macht das Opfer ein zweites Mal zum Opfer, indem er ihm die Interpretationshoheit über die eigene Geschichte nimmt – und die wichtigsten Erlebnisse darin zum Auswuchs eines Syndroms macht. Er rückt genau jenes Verhalten, das maßgeblich zum Überleben beiträgt, in die Nähe des Anrüchigen. Das Annähern an den Täter ist keine Krankheit. Sich im Rahmen eines Verbrechens einen Kokon aus Normalität zu schaffen ist kein Syndrom. Im Gegenteil. Es ist eine Strategie des Überlebens in einer ausweglosen Situation – und realitätsgetreuer als jene platte Kategorisierung von Tätern als blutrünstige Bestien und Opfern als hilflose Länner, bei der die Gesellschaft gerne stehen bleibt. (Kampusch, S. 176)

Und später vergleicht sie die ambivalente Gefühlslage „normaler“ Kinder mit jenem „Stockholm-Syndrom“:

Ich beobachte heute manchmal die Reaktion kleiner Kinder, wie sie sich auf ihre Eltern freuen, die sie den ganzen Tag nicht zu Gesicht bekommen haben und dann nur unfreundliche Worte, manchmal sogar Schläge für sie übrig haben. Man könnte jedem dieser Kinder ein Stockholm-Syndrom unterstellen. Sie lieben die Menschen, mit denen sie leben und von denen sie abhängig sind, auch wenn sie nicht gut von ihnen behandelt werden. (Kampusch, S. 193)

An einer weiteren Stelle wird die aggressive Patina solcher herumgeschleuderten Begriffe weiter bloßgelegt:

Wer anonym in Internetpostings reagieren kann, lädt seinen Hass direkt auf mir ab. Es ist der Selbsthass einer Gesellschaft, die auf sich selbst zurückgeworfen wird und sich fragen lassen muss, warum sie so etwas zulässt. Warum Menschen mitten unter uns so entgleiten können, ohne dass es jemand merkt. Über acht Jahre lang .Jene, die mir bei Interviews und Veranstaltungen gegenüberstehen, gehen subtiler vor: sie machen mich – der [sic] einzigen Person, die die Gefangenschaft erlebt hat  – mit einem kleinen Wort zum zweiten Mal zum Opfer. Sie sagen nur „Stockholm-Syndrom.“ (Kampusch, S. 194f)

In diesen Passagen tritt Kampusch – und an dieser Stelle ist es egal, ob sie selbst dies schreibt oder ihre Ghostwriterin –  als  avancierte Kritikerin eines entleerten Allgemeinbegriffes auf, die philosophisch gelesen werden will – was ihr die Journalisten in ihren Naivisierungen verweigern. Die FAZ reinigt das Werk von seiner gesellschaftskritischen Gewalt und fokussiert ausschließlich auf das Verhältnis zwischen Täter und Opfer. Kampusch leistet viel mehr als eine von der FAZ kolportierte „analytische Beschreibung des Lebens und der Nöte eines jungen Mädchens, das mit Unvorstellbarem konfrontiert wird.“ Ihre Analyse ist schon Gesellschaftskritik eines intellektuell reifen Individuums – von der will man in der FAZ naturgemäß nichts hören. Zu vieles ist Kampusch an der reaktionären Gesellschaft nicht geheuer. Merkwürdiges, allgemein übliches Gebaren mit Kindern sowie die autoritären Gesten der Züchtigung, die erst kürzlich gesellschaftliche Ächtung erfahren haben, werden ihr schon an ihren Eltern verdächtig .

Er [KampuschsVater] war ein jovialer Mann, der den großen Auftritt liebte, seine kleine Tochter in ihrem frisch gebügelten Kleidchen war ein perfektes Accessoire. (Kampusch, S. 22)

Es war diese fatale Mischung aus verbaler Unterdrückung und „klassischen“ Ohrfeigen, die mir zeigte, dass ich als Kind die Schwächere war. […] Im Hof konnte ich immer wieder Mütter beobachten, die ihre Kinder anbrüllten, zu Boden stießen und auf sie einprügelten. Das hätte meine Mutter nie getan, und ihre Art, mich nebenbei zu ohrfeigen, stießt nirgends auf Unverständnis. Selbst wenn sie mir in der Öffentlichkeit ins Gesicht schlug, mischte sich nie jemand ein. (Kampusch, S. 30)

Das später erlittene Verbrechen baut Kampusch bewusst als ins Riesenhafte gesteigerte Version dessen auf, was sich im Kleinen im österreichischen Alltag findet:

Sogar Kindern zumindest vorübergehend die Freiheit zu nehmen war nichts, was mir außerhalb des Denkbaren erschien. Auch wenn ich es selbst nicht erlebt hatte: Es war damals in manchen Familien noch eine gängige Erziehungsmethode, Kinder, die nicht gehorchten, in den dunklen Keller zu sperren. Und alte Frauen beschimpften in der Straßenbahn Mütter von lauten Kindern mit dem Satz: „Also wenn das meines wäre, würde ich es einsperren.(Kampusch, S. 89).

Kampusch sieht die Rezeption des an ihr begangenen Verbrechens in einem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang:

Diese Gesellschaft braucht Täter wie Wolfgang Priklopil, um dem Bösen, das in ihr wohnt, ein Gesicht zu geben und es von sich selbst abzuspalten. Sie benötigt die Bilder von Kellerverliesen, um nicht auf die vielen Wohnungen und Vorgärten sehen zu müssen, in denen die Gewalt ihr spießiges, bürgerliches Antlitz zeigt. Sie benutzt die Opfer spektakulärer Fälle wie mich, um sich der Verantwortung für die vielen namenlosen Opfer der alltäglichen Verbrechen zu entledigen, denen man nicht hilft – selbst wenn sie um Hilfe bitten.

Gar nicht zufällig ist daher ihr Engagement gegen Rassismus. Diese in den Ohren der FAZ sicherlich enervierend sirrende Kritik geht weiter in ihrer verächtlichen Denunziation Strasshofs als „gesichtsloser Ort ohne Geschichte. […] Am Wochenende surren die Rasenmäher, die Autos werden poliert, und die gute Stube bleibt hinter zugezogenen Stores und Jalousien im Halbdunkel versteckt. Hier zählt die Fassade, nicht der Blick dahinter. Ein perfekter Ort, um ein Doppelleben zu führen. Ein perfekter Ort für ein Verbrechen.“ (Kampusch, S. 154)

Es ist die faschistoide Struktur Deutschlands und seines Seelenverwandten Österreichs, das einen in der Beschreibung des Täters wie der Umgebung Kampuschs immer wieder anspringt.

Das Wohnzimmer schien mir wie die perfekte Spiegelung der „anderen“ Seite des Täters. Spießig und angepasst an der Oberfläche, die dunkle Ebene darunter nur dürftig überdeckend. (Kampusch, S. 156)

Lediglich die Frankfurter Rundschau erwähnt beiläufig, dass man „nebenher“ erfahre, Priklopil sei ein „Anhänger Hitlers und Haiders“. Kein Wort zuviel lässt die Presse zu, es scheint, als wäre die sich an vielen weiteren Stellen aufdrängende Verwandtschaft zwischen dem an Kampusch begangenen Verbrechen und der  nationalsozialistischen Gesinnung Priklopils der deutsch-österreichischen Gesellschaft zu peinlich, um sie zumindest für ebenso bemerkenswert zu finden wie Kampusch:

Eines der Bücher im Regal im Wohnzimmer, auf das der Täter besonderen Wert legte, war „Mein Kampf“ von Adolf Hitler. Er sprach oft und mit Bewunderung von Hitler und meinte: „Der hatte recht mit der Judenvergasung.“ Sein politisches Idol der Gegenwart war Jörg Haider […]. Priklopil zog gerne über Ausländer vom Leder, die er im Slang der Donaustadt „Tschibesen“ nannte – ein Wort, das mir von den rassistischen Tiraden der Kunden in den Geschäften meiner Mutter vertraut war. Als am 11. September 2001 die Flugzeuge in das World Trade Center flogen, freute er sich diebisch: Er sah „die amerikanische Ostküste“ und „das Weltjudentum“ getroffen. Auch wenn ich ihm die nationalsozialistische Einstellung nie ganz abnahm – sie wirkte aufgesetzt, wie nachgeplapperte Parolen -, gab es etwas, das er ganz tief verinnerlicht hatte. […] Er fühlte sich als Herrenmensch. Ich war der Mensch zweiter Klasse.(Kampusch, S. 167)

Ihre Analyse des Täters baut auf dieser Voraussetzung auf. Erst im folgenden Kapitel erwähnt sie seine überfürsorgliche Mutter, (Kampusch 178f) die Priklopil offensichtlich in seiner Misogynie kontrollieren wollte, indem er ein Mädchen einkerkerte und folterte, sich selbst in einer versorgenden Mutterrolle gefiel und zugleich bereits dem Mädchen Aufgaben zuwies, die wohl ansonsten seiner Mutter vorbehalten waren. Priklopil hatte offenen Größenwahn und die dem beigesellte Paranoia: Er fürchtete Abhörgeräte und hielt sich für einen ägyptischen Gott, wollte Maestro oder Gebieter genannt werden, was ihm Kampusch verweigerte. Dieser Einbruch der feudalistischen Herrschaft in das bürgerliche Abhängigkeitsverhältnis von weiblicher Reproduktion und männlicher Repräsentation ist kein zufälliger, sondern eine Steigerung, an deren grotesker, pathologischer Drastik sich viel über die vielen „normalen“ Formen häuslicher und männlicher Gewalt ablesen lässt.

Kampusch ist mit ihrer Autobiographie ein philosophisches Werk gelungen, dessen gesellschaftskritische Tiefe den dunklen Abgrund der bürgerlichen Gesellschaft auszuloten vermag.

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Nachsatz:

Ein früherer Artikel, den ich schrieb, trug den Titel „Natascha“ – heute weiß ich, dass Natascha Kampusch es zutiefst verabscheute, wenn sie in der Presse trotz ihrer Volljährigkeit als Kind wahrgenommen und bezeichnet wurde.  Ich entschuldige mich für den Titel. Vom Inhalt des Artikels ist wenig veraltet.

Quellen:

Kampusch, Natascha: „3096 Tage“. Berlin, List Verlag. 284 Seiten. 19,95 Euro.

http://www.natascha-kampusch.at/

FAZ: „3096 Tage im Kerker: Natascha Kampusch veröffentlicht Biographie.“

Faz.net: „Heile Welt, ist doch nichts passiert.“

Zeit: „Natascha Kampusch: Übersehene Qualen.“

FR: „Ich bleib‘ zum Trotz ich.“

Taz: „Eine ungleiche Zweierbeziehung.“

 

Aus dem Wald Geschalltes und Gerauchtes – Replik auf Wertmüllers Sieg

Einst war ich nach einer Konferenz in einer berliner Bar gefangen zwischen etwa 80 RaucherInnen, die an die 90 % der Gesamtpopulation dieser Ausschankstätte für Alkoholika ausmachten. Mir verschlug es mehr noch als üblich in solchen Etablissements Atem und Sprache und die einzige Wahl, die sich mir bot, war vor der Türe auszuharren, bis meine Freundinnen und Freunde ausgeraucht und -debattiert hatten. Ich war kurz davor, meinen Kornschnaps aus der ausgeleierten Jogginghose zu ziehen und Passanten über die Straßenverkehrsordnung zu belehren. Meine  Triebhaftigkeit, Luft zu holen, und meine dazugehörige Lust, wurden mir als Sünde bewusst, deren Predigt ich bislang wohl nicht gehört hatte:

Die Sprache der Predigt ist demokratisch, sie wendet sich an alle. Doch gehört es zu ihrem Sinn, daß Einzelne und ganze Gruppen grundsätzlich als die Bösen und Verstockten draußen bleiben. Zur Anforderung an die Masse, daß sie die adäquate Befriedigung ihrer Triebe sich versage und sie nach innen wende, gehört, gleichsam als Trost, als Kompensation, die fortwährend erneuerte Überzeugung, daß jene, welche den Verzicht und die Anstrengung nicht leisten, verworfen sind und ihrer furchtbaren Strafe nicht entgehen werden. (Horkheimer nach Wertmüller)

Auch hatte hier wohl ein Plebiszit stattgefunden, bei dem eine sich auserwählt fühlende Elite eine Kampagne gegen mich, dem man sein prospektiv längeres Leben gar nicht wünschte, gestartet hatte. Mein zum regelmäßigen Luftschnappen geöffneter Mund erinnerte wohl an Heiterkeit, Gelöstheit, vielleicht sogar Erotik. Durch mehrheitliche,  zwangsintegrative Akte  blieb mir, der Randgruppe, die Wahl zwischen dem Nichtraucherbereich vor der Gaststätte und der Askese.

Die demokratischen Eliten hatten noch wie Helmut Schmidt die autoritäre Gewohnheit inkorporiert, nach der ein Autokrat überall seinen Hautgout verbreiten müsse, um überhaupt wahrgenommen zu werden.

Dieses Schreckbild der Freiheit, dieser Zerrspiegel der Zivilisation macht den Westen in seinen Exzessen dem orientalischen Osten so unangenehm ähnlich. (Wertmüller)

Anfang der ’80-er tauchten allerdings dann Nichtraucher und Nichtraucherinnen nicht mehr nur als verweichlichte Männer auf, sondern erfreuten sich zusehender Popularität als tiefschichtige Individuen. Mit „First Blood“ wurde ein Nichtraucher zum Actionhelden, bei dem der rauchende Colt nicht automatisch durch Tabakspucken und die halbgerauchte Zigarette im Mundwinkel verziert werden musste. Emanzipierte Frauenrollen kamen auf einmal ohne die bis dahin für den  Tabubruch reservierte Zigarette aus.

„Hollywood hatte mit dem Zeigen eines alltäglichen und eigentlich banalen Vorgangs [Das Atmen, NI] – wenngleich dieser Vorgang sehr romantisch und mit raffinierter Beleuchtung in Szene gesetzt wurde – mehr für die Emanzipation der Frau getan als die gesamte Frauenbewegung.“ (Bittermann nach Wertmüller)

Gegen diese erste Zeichen einer Befreiung vom Muff der damals noch verrauchten Hörsäle und Konferenzräume baute das reaktionäre Bürgertum wenigstens die Kneipen zu Bollwerken aus:

Der Bürger war zu keinem Zeitpunkt seiner Existenz besonders liebenswert, sondern selbst in seinen großen Perioden, kleingläubig, geizig und paranoid. Er nannte sein home sein castle nicht nur um die Staatsbüttel draußen zu halten, sondern eben auch weil er wie sein feudaler Vorgänger in den Kategorien von Ringmauern und Schießscharten dachte. Zu verteidigen galt es das Eigentum und  die eigenen schlechten Manieren, deren schlechteste seine Beziehungsunfähigkeit, sein Mangel an Charme, sein Mangel an Geselligkeit waren. (Wertmüller)

Es vollzog sich wie üblich:

Die soziale und juristische Ächtung einer Minderheit, die im Verdacht steht, trotzdem Spaß zu haben, gibt einen Vorgeschmack auf eine weit umfassendere Diktatur des Verzichts, die mit der Natur die Unnatur, mit der kollektiv verfassten Demut menschliche Hybris austilgen soll. (Wertmüller)

Rufe nach Disziplin und Verzicht prägten die Kampagnen gegen die Nichtraucher. Jenen wurde nicht nur vorgeworfen, ihre Lust am Atmen auf Kosten der Mehrheit ausüben zu wollen, sondern auch, sich zur Rechtfertigung dessen auf Geist und Sinnlichkeit zu berufen.

Dass im Abweichlertum Vernunft und Sinnlichkeit bekämpft werden, scheint paradox. Und doch wendet sich die plebiszitär selbstorganisierte Ranküne gegen die Autorität von Wissen, Reflektion und Aktivität, die ihren Namen verdient, genauso wie gegen die ihnen scheinbar entgegengesetzt sündhafte Ausschweifung und die exklusive, dem konkreten Ergebnis abholde Kontemplation. (Wertmüller)

Und so findet sich abschließend in den Kampagnen der Raucher

[…] die obszöne Lust am Dabeisein in einem Akt der physischen und moralischen Selbstauflösung eines Individuums, also die Feier jenes „Gefühl(s) der eigenen absoluten Nichtigkeit, das die Mitglieder der Masse beherrscht“. (Horkheimer, S. 73) Und, es sei hinzugefügt, eines Gefühls, das von jenen, die als Gesellschaft geadelt sich über sie stellen, inzwischen ebenso geteilt wird wie von den unteren Millionen. Die gesellschaftliche Moral ist auf den Stand nekrophilen Voyeurismus regrediert und will „ganzheitlich“, „überzeugend authentisch“ teilhaben nicht am Glück, sondern am Tod der anderen. (Wertmüller)

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Zitate aus: „Dieser Sieg ist ein Sieg des Volkes – Protestantische Elite und Tugendterror“ (Justus Wertmüller, Bahamas Nr. 60)

Um die Polemik abzubrechen, drei Stichworte:

1. Rauchen als Lust und das Interesse anderer an Nichtteilhabe am Laster des Anderen als Askese zu definieren beinhaltet eben jenes Verhalten, das ich im Artikel „Rauchen als Verkehrung“ als „Raucherdjihad“ mit der Parole „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod“ verkürzte.

2. Die paranoische Überfrachtung, die aus einem Plebiszit einer reaktionären Partei  für ein Rauchverbot in Gaststätten eine „Kampagne gegen die Raucher“ macht, die Raucher in der Imagination schon als erste Opfer eines wiederauferstehenden Faschismus wertet, habe ich bereits in meinem Artikel „Der Raucher-Shylock von der taz“ kritisiert.

3. Die konsequente Nichtentfaltung der konkreten Bedingungen der Ausübung des spezifischen Lasters bedingt die Lücke in der Volte gegen den Plebiszit. Gasförmigkeit und heftige olfaktorische Zähigkeit der konsumierten Substanz wären ebenso hinzuzurechnen wie die gesellschaftlich getragenen Folgen des Konsums: Auswaschung der Nervengifte ins Grundwasser, Therapien von Kindern von notorischen Rauchereltern, Therapien von  Erkrankungen, die in überaus hoher Wahrscheinlichkeit im Zusammenhang mit dem direkten Konsum von Tabak stehen. Im Ignorieren dessen kocht Wertmüllers mitunter ausgezeichnete Kritik der asketischen Tendenzen über. Der bedeutenden und hochaktuellen Dialektik vom Bewusstsein physischer Zusammenhänge und den daraus resultierenden Folgen für die Psychopathologie der Individuen (gültig etwa  für die gesamte Präventionsmedizin) stellt sich Wertmüller nicht. Er ist einfach nur sauer, weil man ihn in Bayern zum Rauchen vor die Tür oder in das Séparée des Restaurants seiner Wahl bittet. Ob er  allerdings nun Tabak schnupft oder kaut oder seine beliebten Vorträge unter der Einwirkung einer handelsüblichen Dosis Lysergsäurediethylamid hält, wird dem so „lustfeindlichen“ Mob herzlich egal sein.

Die Bombe und das Erinnern

Als die deutschen Heimatvertriebenenorganisationen das 60-jährige Jubiläum ihrer Charta feierten, sagte Ralph Giordano, die Vertreibung würde in der Charta so dargestellt, als habe sie in einem „historischen Vakuum“ stattgefunden. Dieser Begriff „historisches Vakuum“ trifft jenen verbreiteten Gestus des Erinnerns recht gut, der Kriegsereignisse aus den historischen Ereignissen isoliert und dadurch Schuldfragen und Ursachensuche im besten Falle neutralisiert, im gewöhnlichen verschiebt und verbiegt.

Ein solches Verhältnis prägt auch das Erinnern an die Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki. Im nachträglichen Entsetzen über das genozidale Potential dieser Waffe wurde schon jenes Entsetzen über die mit primitivsten Waffen (Hunger, Schläge, Krankheiten, Gas) durchgeführten Massenmorde des Holocaust eher getilgt als erinnert. Die in den folgenden 50 Jahren stattfindenden 2 000 Atomwaffentests (davon ca. 622 oberirdisch) und der Anstieg des weltweiten Arsenals auf möglicherweise 70 000 Atomsprengköpfe sorgten für zusätzliche und  trotz ihrer  Assoziation mit einer gewissen paranoischen Struktur sehr gerechtfertigte Bedrohungsängste, die mit dazu beitrugen, das Grauen des zweiten Weltkrieges in der amerikanischen und europäischen Wahrnehmung verblassen zu lassen. Die Opfer eines perhorreszierten „nuklearen Holocaust“ waren nunmehr „wir alle“ und dieser globale Genozid hatte bereits begonnen: in Hiroshima und Nagasaki.

So konnte man in der Retrospektive der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki als initiale Agression betrachten und darüber vergessen, dass dort ein Krieg beendet wurde. Ein Krieg, der in der öffentlichen Wahrnehmung abseits von exotistischer und ambivalenter Begeisterung für die Kamikaze-Flieger kaum je Beachtung fand. Nie erreichte man ein geschichtliches Bewusstsein davon, wie sehr die japanische Ideologie der deutschen ähnelte und wie gigantisch, mörderisch und genozidal diese Front war. Anstelle von unqualifizierten Co-Referaten verweise ich zu diesem Komplex auf das hervorragende Blog „USA-erklärt“ mit der Beitragsreihe „Der Krieg gegen Japan„.

Und auf den Wikipedia-Artikel über japanische Kriegsverbrechen, der die Zahl der Todesopfer des japanischen rassistischen Raubzuges mit dem Historiker Chalmers Johnson auf 30 Millionen Menschen schätzt. Eingesetzt wurden biologische Waffen, konventionelle Waffen und primitivere Waffen wie Bajonette, deren massenhafter Einsatz ein hohes Maß an individueller Täterschaft und aggressiver Ideologie voraussetzt. Hunger und Durst wurden systematisch gegen Kriegsgefangene eingesetzt, von denen 30 % unter grauenvollen Umständen starben.  Darüber hinaus arbeiteten Japan wie auch Deutschland an einer eigenen Atombombe.

Wenn man sich 2010 der Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki erinnert, ist es unmöglich, nicht die Geschichte der nuklearen Aufrüstung, der Strahlenkrankheit und des Grauens, das diese in die Individuen pflanzte mitzudenken. Es sollte aber gleichfalls erwartet werden können, die genozidale Aggression des japanischen Faschismus  zu reflektieren. Dann muss man der amerikanischen Seite ein nahezu ausschließlich militärisches Kalkül zugestehen, das unter dem Vorzeichen stand, einen  für beide Seiten extrem verlustreichen Krieg in einer Machtdemonstration, die sich gegen zwei stark militärisch geprägte Ziele richtete, zu beenden. Bis heute wird die Erinnerung an Hiroshima und Nagasaki beherrscht von einer Imagination, nach der zwei menschlich erkaltete amerikanische Bomberpiloten  einfach so zwei Massenvernichtungswaffen über zwei friedlichen japanischen Städten abwarfen. Am treffsichersten ist diese Wahrnehmung in der Kapitulationserklärung des japanischen Kaisers vorgeprägt:

„Der Feind hat jüngst eine unmenschliche Waffe eingesetzt und unserem unschuldigen Volk schlimme Wunden zugefügt. Die Verwüstung hat unberechenbare Dimensionen erreicht. Den Krieg unter diesen Umständen fortzusetzen, würde nicht nur zur völligen Vernichtung unserer Nation führen, sondern zur Zerstörung der menschlichen Zivilisation … Deshalb haben wir angeordnet, die gemeinsame Erklärung der Mächte anzunehmen.“

Die, wenn nicht schon im ersten Weltkrieg, in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern und den japanischen Massakern untergegangene Zivilisation wurde auf einmal gerettet durch den japanischen Kaiser in seiner Fürsorge für sein „unschuldiges Volk“, das er wenige Tage zuvor im Konsens mit seiner Armeeführung noch in Millionen opfern lassen wollte, unter anderem mit dem Plan, mit Bambusspeeren bewaffnete Kinder und Frauen im Endkampf auf amerikanische (oder mit dem Kriegseintritt der Sowjetunion auch „kommunistische“) Soldaten zu hetzen. Alle Schuld, alle Täterschaft wurde an die USA übertragen – ein Erfolgsrezept, das sich später als bequeme Umgehung jeder tiefergehenden Beschäftigung mit dem historischen Rahmen globalisierte.

So zog ich im Alter von etwa dreizehn Jahren mit einem halben Dutzend anderer AktivistInnen am Jahrestag der Bombardierung von Hiroshima und Nagasaki mit Mehl geschminkt als Hibakusha-Mime durch eine süddeutsche Fußgängerzone. Ein wütender Amerikaner brüllte uns an: „Pearl Harbor! Pearl Harbor!“ Ich wusste damals nicht einmal, was er mit diesen fremdartigen Worten wohl meinen könnte. Im geschichtlichen Vakuum war Hiroshima nun mal das Opfer eines unwahrscheinlich zynischen Aktes der Amerikaner. Jede historische Rationalisierung dieses Aktes wurde abgewehrt und im Kalten Krieg hatte noch dies sein Recht: Es durfte keine einzige Legitimation mehr geben für den Einsatz einer Atomwaffe, weil dies den Untergang aller in einem dritten Weltkrieg zur Folge gehabt hätte. Das Tabu folgte einer gewissen Logik. Logik ist aber noch nicht Vernunft und daher muss man diese Verdrängungsleistung mit dem chronischen Antiamerikanismus und dem rassistischen und narzisstischen Desinteresse an Asien synchronlesen.

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Drei Literaturempfehlungen:

„Unsere Bombe“. Robert del Tredici. Zweitausendeins, 1988. (Bildband zur Atomwaffenproduktion in den USA)

„Die letzten Glühwürmchen“. Hayo Miyazaki. 1988. Anime. (Melodram im Kriegs-Japan)

„Der kubistische Krieg“. Stephen Kern. In: Kultur & Geschichte – neue Einblicke in eine alte Beziehung. Reclam, 1998. (Artikel über die bis dato beispiellose Fragmentierung von Individuen, Raum und Zeit im Zuge des ersten Weltkrieges)

Schuld und Abwehr nach der Massenpanik

Nach dem Tod von 20  Opfern der Massenpanik in Duisburg werden Verantwortliche gesucht – mit allen Merkmalen einer kollektiven Verdrängungsleistung.

Da ist zunächst die Rationalisierung durch Naturalisierung. Ein Psychologe erklärt im Fernsehen die Wirkung von Panik: In der Umgehung des Großhirns gelangen angsterregende Informationen direkt zur Amygdala und lösen dort reflexionslose Handlungen aus. Auf dem gleichen Niveau bewegen sich die zahlreichen „effects“, die angeblich natürlich in Menschenmassen stattfänden.

Ein anderes Symptom ist die durchaus zu befürwortende Suche nach Verantwortlichen auf höherer Ebene: aus ökonomischen Gründen seien Sicherheitsbedenken, die vorher im Internet geäußert wurden, von Veranstaltern und Stadtpolitik nicht berücksichtigt worden. Mal ist es der Oberbürgermeister, mal wieder der Veranstalter.

Und nicht zuletzt richten sich krude reaktionäre Ideologien am Ereignis auf. Eva Hermann (bereits früher Thema) will in Sexualität und Dekadenz die Ursache für die Panik sehen und projiziert die Schuld auf die 68-er. Die Junge Welt projiziert ihre eigenen Qualitäten auf die Raver:  unintelligent und dumpf seien die, hätten es kaum besser verdient.

Was bislang unbesprochen bleibt: Die Schuld der Masse, die sich nicht spontan auf eine erkennbare Bedrohung hin zu organisieren wusste. Jede und jeder der da mal im pubertären Scherz, mal in der freudigen Erwartung bald mit Oliver Pocher und Vladimir Klitschko zu raven, mal aus unbändiger Angst heraus drückte, schob und trampelte hat seinen Teil beigetragen zum Tod der 20. Dadurch wird eine für das Selbstbild unerträgliche Schuld aufgehäuft, was in Verdrängung und Projektion mündet. (vgl. Theodor W. Adorno: „Schuld und Abwehr“)

In dem gewaltsamen Paroxysmus erschrickt die neobürgerliche Gesellschaft vor ihrem entschleierten Gesicht. Hier haben alle gegen ihre Interessen gehandelt indem sie ihr Interesse, das eigene Überleben, vertraten. Die Einzelaktionen entfalten in der Masse eine Gewalt, die jedes Individuum für sich machtlos werden lässt, es unter tonnenschweren Druckwellen von den Beinen reißt, wo es selbst nur ein paar Kilogramm nach vorne drückte. Die eigene Ohnmacht dem gegenüber wird internalisiert.

Und so folgt zwangsläufig der Appell an den Staat, solche Massen besser zu überwachen, damit sie sich nicht selbst gefährden. Das setzt ein Bild von Unmündigkeit voraus, das gar nicht einmal falsch ist in der Diagnose sondern in seiner Zementierung der Verhältnisse. Keiner suggeriert, dass es nicht so sein müsste. Dass sich Millionen lustvoll und selbstbewusst treffen könnten ohne vor der Macht, die diese Menge ausstrahlt in Verzückung oder Panik zu verfallen, ohne dieser Masse für die Entbindung von Strafinstanzen zu bedürfen und demzufolge von ihr auch das schlimmste  – Bestrafung – zu erwarten. Die Sicherheit, nicht aus dieser Masse herauszufallen wird erst durch eine tief empfundene Angst zur Lust, wobei die Lust nur noch jene der Strafvermeidung ist und nicht mehr an ihr ursprüngliches Begehren gebunden ist. (vgl. Theodor W. Adorno: „The stars down to earth“)

Fest etabliert sich so die Unmöglichkeit der abhängigen Individuen zur massenhaften Solidarität, zur Bewusstwerdung der Gewalt angehäufter Einzel-Entscheidungen. Die Massen können Stahlgitter verbiegen und sprengen aber nicht jenen Schwächeren helfen, die straucheln und zurückbleiben.

Johannes M. Becker reitet wieder – für China

Wenn Johannes M. Becker sich zu Konflikten äußert, kann man fachliche Kompetenz ebenso sicher vermissen wie humanistische Integrität. Da er über die Jahre seine Position (Unterzeichnen des Manifests der 25, Hetzen gegen Israel, Lobbying für Hamas und Iran) nicht hinterfragte oder irgend änderte, kann man die Beschäftigung mit ihm hier kaum kritisch nennen – dazu fehlt die potentielle Beweglichkeit des Gegenübers. Meine Absicht ist, seine Argumentation in ihrem denunziatorischen Charakter zu denunzieren und das stets dann, wenn sie zu Tage tritt.

Seit Neuestem bemüht sich der Konfliktforscher Becker darum, das Ressentiment gegen den Afghanistaneinsatz der NATO auf eine Art und Weise zu schüren, die an Widerwärtigkeit keine Grenzen kennt. Er appelliert als Patriot an den Kostenfaktor:

„Stiege unser [sic!] Land 2011 aus dem Krieg aus, würden sich die wahren Kosten auf 18 bis 33 Milliarden Euro summiert haben.“

Würde man einem Becker vorrechnen, dass die Pressefreiheit, Frauenrechte und das freie Wahlrecht bis 2011 einige Milliarden Unkosten verursacht, er würde sich wohl zum Maoisten umtaufen lassen. Wenn die Sicherung einer Mädchenschule mehr als 2000 Euro kostet, opfert Becker bereitwillig deren Schulbildung jeder Umgestaltung des deutschen Haushaltes. Die „Irakisierung Afghanistans“ schritte laut Becker ausgerechnet unter Petraeus fort, dem er die Schuld am Terror der im Irak von Al-Quaida und Iran unterstützten Milizen unterschiebt. Gerade Petraeus steht für die effektive Bekämpfung des Terrorismus in einer intellektuellen Kombination von Projekten, interkulturell geschulten SoldatInnen und dem Aufbau von Polizeipräsenz. Becker schwebt indes ein anderes Modell vor, das wesentlich profitabler ist:

„An den Bodenschätzen unter der Erde des geschundenen Landes, von denen die Wissenschaft übrigens bereits seit langen Jahren Kenntnis hat, beweist ein anderes Land, wie Politik zu gestalten ist. Die VR China, die nicht einen Soldaten in Afghanistan stationiert hat, investiert viele Milliarden für die Bergung der ungeheuer großen Schätze. Und dies ist keineswegs ausschließlich zum eigenen Vorteil.“

Dass China nun Kupfer in Afghanistan fördert ohne die Kosten für die Sicherung der Zufahrtswege und Einrichtungen zu tragen ist in der Tat ein kaum zu übersehendes Faktum, dass zum Beispiel in den USA für Zähneknirschen sorgt. Wie unverschämt Becker China zum Vorbild der deutschen Politik befiehlt („wie Politik zu gestalten ist“), bezeugt hingegen seine Skrupellosigkeit im Umgang mit der eigenen Ideologie: Wenn man schon mit jedem terroristischem misogynen genozidalen und antidemokratischen Regime auf der Welt sympathisiert sollte man wenigstens auch etwas davon haben dürfen. Mit Becker könnte man wunderbar die Ausbeutung sudanesischer und iranischer Ölvorräte vorantreiben und im UN-Sicherheitsrat dann Bashir und Ahmadinejad absichern – „keineswegs ausschließlich zum eigenen Vorteil“. Auf so einen geschäftsfeindlichen Unsinn wie Menschenrechte zieht sich der Professor Becker lediglich dann zurück, wenn es gegen Israel und die USA geht. Es fehlt wie immer: Jede Auseinandersetzung mit der Komplexität der Konflikte, jede Analyse der Akteure, jede Überprüfung der Tragfähigkeit der vorgeschlagenen „Lösungswege“ und jede Empathie für  das antifaschistische Engagement seiner einstigen Bundeswehr-Kollegen in Afghanistan.

Quelle: Johannes M. Becker: „Die „Irakisierung Afghanistans““. In: Oberhessische Presse, 28.6.2010, S. 14.

Weiteres zum Thema Johannes M. Becker:

Mit Friedensforschung zum intellektuellen Paläolithikum

Vom Zwang zum Urteil – Beckers notorisch antiisraelische Konfliktanalyse

„Vernunftresistent tiefer in den afghanischen Krieg“ – neue Forschungsergebnisse aus dem Marburger Institut für Friedens- und Konfliktforschung.

Friedensnazis und Konfliktforschung

Friedensnazis als Kriegsgewinnler

Krieg um Rohstoffe oder Nichtkrieg um Rohstoffe?

Vincent will Meer und die Anorexie

Zwangsneurose, Tourette-Syndrom und Anorexie werden in „Vincent will Meer“ zusammengeführt. Der  unterstellte Anspruch, nicht in Publikumsbelustigung zu verfallen schlägt fehl. Im zahlreichen Publikum flackert zu oft und an zu programmierten Stellen ungutes Gelächter auf. Das Beängstigende an allen Krankheiten rückt ins Behagliche, kein Bruch lässt etwas zu nahe kommen, alles ist berechenbar oder irgendwie niedlich. Der Zwangsneurotiker ist erstaunlich kompromissbereit – was echte Zwangsneurotiker und das Leiden derer, die von ihren Neurosen wie etwa der Waschzwang terrorisiert werden verharmlost. Der Tourettiker kommt so jungdynamisch daher, dass man mit ihm über ihn lachen darf – die Gewalt, die ein heftiges Tourette-Syndrom hat, bleibt unbesprochen im berechtigten Versuch, Akzeptanz für ein mildes Tourette-Syndrom einzuwerben. Mir begegnete einmal im Zug ein vollständig verwahrloster Mann, der von einem schrecklichen Zwang getrieben stets den gleichen, nur gering variierten Fluch vor sich hinbrüllen zu müssen – ohne Pause und stundenlang. Ein Film über einen solchen Menschen wäre ein Melodram und ein solches ist außerhalb Afrikas allenfalls für die Sparte der pseudointellektuellen Dramen vorgesehen.

Am glaubhaftesten und interessantesten kreist der Film um die Figur der Anorektikerin. Hier leistet der Film Aufklärungsarbeit an einem sehr entscheidenden Punkt: Die Protagonistin lehnt das Essen ab nicht weil ihr jemand wie in der Modebranche befiehlt zu hungern, sondern im Gegenteil: Weil ihr jemand befiehlt zu essen.

Lookism-AktivistInnen finden in Plakatwerbungen eine Quelle für Anorexie und machen so aus den Leidenden passive, von patriarchalen Blick-Regimes gelenkte Objekte, die man vor der Manipulation schützen müsse. „Vincent will Meer“ lenkt den Blick auf die hochnarzisstischen Aspekte, denen eine Magersucht folgen kann. Der Ekel, den die Filmfigur vor dem Essen hat, wird zu einem vor der körperlichen Abhängigkeit der „Anderen“ erklärt, die „das Essen so in sich hineinstopfen“. Die Kontrollen des Pflegers und der Heimleiterin erregen nur zwangsläufig Trotz. Wahnhafte Autonomie wird mit Selbstverletzung erkauft.

Und noch ein zweiter Aspekt ist möglich – im Verzicht auf das Essen wird narzisstische Libido erhalten. Wer auf die Verlockungen der mit kulinarischen Köstlichkeiten mehr denn je gesegneten westlichen Welt mit Ablehnung reagiert, muss eine andere, innere Quelle für diese Lust haben. Dass man von Luft und Liebe leben könne ist nicht nur ein Sprichwort – die Anorektikerin im Film scheint Selbstliebe nur behaupten zu können, indem sie vorgibt, sich selbst genug zu sein und somit in sich selbst einen adäquaten Ersatz für das Essen gefunden zu haben. Der Ekel vor sich selbst kann dann als einer auf das Essen und „die Anderen“, die die Einzigartigkeit in Frage stellen, artikuliert werden. Fatalerweise führt dieser Komplex dann auch in den Kollaps und die tödlichste der Krankheiten bleibt auch im Film ungeheilt. Während Vincent seine Wunschprojektion auf das Meer, ein Fremdes und im Film zugleich die Mutter repräsentierendes, richtet, bricht die Anorektikerin beim Anblick desselben zusammen. Die Liebe der Anderen ist kein Heilmittel, solange nicht der Narzissmus einen anderen Weg zur Selbsterhaltung gefunden hat als über den eigenen Körper und in Akzeptanz der eigenen Verwundbarkeit und Sterblichkeit. Die verleugnete Suizidalität auf Raten sucht im Film Komplizen – was allein der expressive Zwangsneurotiker erkennen kann, der seinen Narzissmus vollständig an der Außenwelt ausagiert und nicht gnostisch nach innen richtet. Ihm wiederum wirft die Anorektikerin vor, „nichts zu sein“ ohne seine überkontrollierte Außenwelt.

Im antipsychiatrischen Gestus spekuliert die Geschichte auf die heilsame Kraft eines Ausbruchs. Diejenigen, die darunter leiden müssen, werden zu verschrobenen Figuren verkitscht, denen es halt an Anpassungsfähigkeit mangelt. Dass es dem Tankwart überhaupt keinen Spaß macht, überfallen zu werden und somit seinen Arbeitsalltag auf lange Sicht von zusätzlichen Stressoren begleitet sehen muss, ist ihm in seinem ungastliches Äußeren aberkannt. Das Publikum soll mit dem Extralegalen als prozessual Erlaubtem im Liminalen sympathisieren dürfen, das ist das Gesetz eines jeden Roadmovies von den drogenschmuggelnden Easy-Riders über die RäuberInnen Bonny & Clyde und Thelma & Louise bis hin zu Baise moi. Da die angedeutete Heilung zweier Charaktere am Ende des Filmes stattfindet, wird das Leiden der Bystanders als notwendiges Übel oder schlimmer noch als gerechtes Exempel definiert, das Strafe ist für die generelle Inkompetenz der Gesellschaft im Umgang mit psycho-affinen Störungen. Die Geschichte braucht die Schrulle des asexuellen Tankwartes, der nur durch politischen Druck eingeschüchtert werden kann, mehr als ihr bewusst ist. Nur so kann sie den Übertritt angemessen inszenieren, den das Publikum sich mehr wünscht als echte Zwangsneurotiker und Tourettiker. Leiden wird subversiv und zugleich Krankheit relativ. Eine solche pubertäre Subversivität ist eine Unterstellung für langjährige Leidende. Dennoch, und darin ist der Film wiederum gut: Die Adoleszenzkrise wird als eigene Dimension hinter den Symptomen verhandelt. Heilung bedeutet für den Tourettiker primär Autonomie von der Diktatur des Vaters und das Trennen des Syndroms von den damit assoziierten Komplexen der Umwelt. Somit folgt der Film als gegen die Verhaltenstherapie gerichteter implizit dem psychoanalytischen Paradigma: Eigene und fremde Anteile am Leiden zu trennen und somit die fremdverursachten Probleme und gesellschaftlichen Konfliktebenen besser konfrontieren zu können.

Früheres zu Anorexie:

Pro-Ana: Eine Erweckungsbewegung?

Die Abwehr des Genießens in der H&M-Werbung und der Hartz IV-Debatte.