Alles freigeräumt. Freiheit und Sicherheit im linken Haus

Die kulturelle Dialektik von Alkohol, Arbeit, Halbbildung und reglementiertem Vergnügen manifestiert sich in Kombination mit individueller Psychopathologie bisweilen in einem unschönen Kneipenszario: Jemand ist betrunken, belästigt andere Gäste, faselt rassistische Monologe oder verletzt die körperliche Integrität von Frauen oder Männern. Natürlich möchten andere Gäste lieber in Ruhe ihren Abend verbringen und daher erteilt jeder halbwegs geschäftstüchtige und vernünftige Kneipenbetrieb solchen auffällig gewordenen Personen ein Hausverbot, um zumindest Wiederholungen von solchen Unannehmlichkeiten vorzubeugen.

Nun gibt es aber auch eine andere Szene, die in Kneipen passieren könnte: Ein politisch aktiver Mensch, vielleicht hat er einen örtlichen Parteienfilz aufgedeckt, vielleicht ist er nur Engländer, schwarz oder schwul oder ein Hergezogener, möchte in einer Kneipe sein Bier trinken. Die Stammtische murren, der Wirt verweigert ihm Getränk und Service. Ein klarer Fall von Diskriminierung. Es steht zwar jedem Verein frei, eine Zielgruppe zu definieren. Wenn an Diskotheken und prinzipiell öffentlichen Kneipen von vornherein eine Selektion stattfindet, wirkt das ein wenig spießig und elitär. Wo Türsteher nach Äußerlichkeiten das Publikum sortieren, entstehen fließende Übergänge zum immerhin heute strafbaren Rassismus.

In sich links oder alternativ nennenden Szenetreffs wiederum findet sich noch nicht allzu lange das Versprechen eines sogenannten „Freiraums“. Die BetreiberInnen solcher Lokalitäten versichern auf Wandanschlägen und Getränkekarten allen Gästen, dass „Sexisten, Rassisten und Antisemiten“ nicht erwünscht seien. In einer Universitätsstadt ergänzt man die Liste der Unerwünschten gerne um Verbindungsstudenten. Wer darüber hinaus sexuell oder verbal belästigt werde oder Belästigungen bezeuge, wird ans Thekenpersonal verwiesen.

Der abgesteckte Katalog von Tatbeständen ist offen für relativ beliebige Modifikationen: von sehr unangenehmen Verhaltensweisen bis hin zur privaten Meinung. Insinuiert wird, dass die inkriminierten Ideologien trennscharf und eindeutig zu bestimmen seien, als gäbe es nicht innerhalb der Linken sehr unterschiedliche Definitionen beispielsweise des Antisemitismus. Das in der Häufung suggerierte Bedrohungspotential erzeugt eine ängstlich-drohende Grundstimmung, der permanenten Angst vor Infiltrierung. Einige Aspekte dieser Angst will diese begrenzt fundierte Analyse begrifflich erfassen und zur Diskussion stellen.

Zunächst wird der eigentlich selbstverständliche Grundsatz des gegenseitigen Respekts und der Höflichkeit zur erwähnenswerten Ausnahme, zum Alleinstellungsmerkmal hochstilisiert. In politischen Institutionen bezeugt eine solche Aufwertungsstrategie ein angekränkelten Selbstbewusstsein. Zwei Elemente kommunizieren doch bereits die Gesinnung dieser Einrichtungen nach außen: Das Veranstaltungsprogramm und die Ästhetik. Wenn nun mit dem Hausverbot für Andersgesinnte ein Drittes hinzutritt, spricht das dafür, dass weder die Ästhetik noch die inhaltliche Präsentation von den linken Orten selbst wirklich ernst genommen werden, dass an ihre kombinierte Wirkung insgeheim gar nicht geglaubt wird.

Bereits die Ästhetik wird durch Kontrolle abgedichtet. Seit Jahren häufen sich Berichte über systematische Diskriminierungen in Szenelokalen. Wenn sie auf zulässige Insignien und Dresscodes verzichteten und dann noch geringfügig eleganter in H&M oder Boheme-Sakko eintreten wollten, wurden gestandene Antifaschisten vom Thekenpersonal unter Generalverdacht gestellt: „Bist du ein Burschi oder was?“

Weil gerade Zugehörigkeit und Gesinnung immer auch unsichtbar sind, sozusagen im schönsten Stressmob-Actionwear-Schafspelz ein Wolf verborgen sein könnte, mahnen zusätzlich Plakate und Bierdeckel-Aufdrucke zur permanenten Wachsamkeit gegen sexuelle Übergriffe und Verbrechen. Die „antisexistischen Bierdeckel“ sind besonders interessant und können stellvertretend für den Umschlag von Solidarität in Paternalismus und Kontrolle analysiert werden. In fünf abgebildeten „Übergriff“-Szenarios wird die Passivität der jeweils viktimisierten Frau als total imaginiert, die Ratschläge richten sich nicht an das prospektive Opfer sondern empfehlen einer dritten Person Handlungs- und Wahrnehmungsweisen an, die meistens selbst übergriffig sind. Die Bierdeckel sind allein ihrer Form nach Propaganda. Mit jedem Schluck soll ein moralisches Wahrnehmungmuster ins Unbewusste transportiert werden. Was an Komplexität solche Situationen ausmacht, wird in Bild und Wiederholung geplättet.

Zunächst aber wäre zu klären: Woher aber kommt diese relativ junge Angst, dieses Gefühl, sich in einem permanenten Abwehrkampf gegen sexuelle Übergriffe zu befinden? Wer in eine bürgerliche Kneipe geht, wird möglicherweise einen Rassisten am Nachbartisch vom Leder ziehen hören. In aller, wirklich aller Regel aber kann jede und jeder in einer durchschnittlichen Kneipe friedlich sein Getränk zu sich nehmen und muss schlimmstenfalls befürchten, vom Nachbartisch von endlosen Belanglosigkeiten und grausam inhaltsleerem Geschwätz oder einer Junggesellinenparty belästigt zu werden.  Die Bierdeckel gestehen das implizit ein: Es wird überhaupt nicht jene rituelle sexuelle Belästigung visualisiert, wie sie tatsächlich in manchen rückständigeren Orten gerade unter Alkoholeinfluß noch usus ist und wie sie auch der männliche Autor dieses Textes am eigenen Leib erfahren hat. Strategien gegen sexuelle Belästigung und Vergewaltigung zu denken und zu üben macht Sinn, aber deren permanente Visualisierung im öffentlichen Raum ist der Instrumentalisierung für andere Zwecke verdächtig.

 „Eigentlich wissen wir es ja. Auch an Orten wie diesem suchen Täter ihre Opfer aus und treten in Aktion – vor unser aller Augen. […] Blicke, Nachgehen, anzügliche Bemerkungen und vieles mehr können jedoch schon Übergriffe sein. Nicht selten gehen sie einer Vergewaltigung voraus.“

Die Bierdeckel-Szenen stilisieren noch Blicke zu „häufigen“ Vorläufern von Gewalttaten und Schaulust hoch. Eine versonnene ästhetische Betrachtung des Anderen wird der grinsenden, abgefeimten Gewalt verdächtig, die des regulierenden Eingriffs einer aufmerksamen, bierdeckelsensibilisierten Person bedürfe, unter Umständen selbst dann, wenn es der oder die Betrachtete selbst nicht bemerkt oder stört. Diszipliniert wird nicht erst durch konkrete Situationen, sondern durch ein Panoptikum, in dem alle sich gegenseitig überwachen und kontrollieren. Mit dem so erzeugten generellen Verbot der optischen Anbetung des Schönen aber wird das Schöne selbst unbewusst durchgestrichen, seine Attraktivität beneidet. Etwas darf schön sein, aber niemand anderes darf es zu lange betrachten. Ein mythologisches Verhältnis spannt sich da auf, das des Medusenhauptes auf der einen und des bösen Blicks auf der anderen Seite. KünstlerInnen und Verliebte studieren Gesichter und Körper, können sich darin verlieren und mitunter vergessen, dass sie mit ihrer bornierten, ewig blickenden Sprachlosigkeit hinter der Oberfläche ein Individuum verunsichern und zum Mittel für ihren Zweck machen. Diese ambivalente und durchaus latent „übergriffige“ Blickerotik wird auf einmal als Vorbote der extremen Gewalt verdächtig, man muss sie daher überall erblicken, erkennen, überwachen und verfolgen, in keinem Fall tolerieren: „Aber wir sehen keine Alternative.“ Auch wo ein lüsterner, älterer Mann jungen Frauen beim Gespräch nur zusieht, und diese sich daran stören, ohne es verbalisieren zu können, steht am Rand des Bierdeckels eine bezeichnende Reihe von Universalrezepten: „feuer rufen, eineinsnull, hilfe holen, öffentlich machen, laut werden, zuschlagen.“ Wie eine angemessene Kritik der Schaulustigen und ein reifer Umgang der männlichen oder weiblichen Schönen mit neidischer oder lüsternerner Schaulust der Anderen zu gestalten sei, denken auch die ausformulierteren Texten über „Blickregimes“ oder „Lookism“ nicht an. Wahlweise ist ihnen der Blick aufs Schöne oder das Schöne selbst verdächtig. Suggeriert wird eine Welt ohne Übergriffe, ohne die alltägliche Zumutung, dass eine Gesellschaft vermittels des Kapitals auf Körper und Geist zugreift, diese für ihre Zwecke verwendet und meist nur ein klägliches Äquivalent dafür bietet. Aufstehen müssen, Bus fahren, seine Arbeit begutachten lassen, sich von nicht so schönen Menschen ansehen, das heißt konsumieren lassen, in einer Kneipe der einzige Nichtraucher sein – das alles heißt Übergriffe am eigenen Leib zu erleiden, die regressive Ausflucht ist die Monade, der Schutzraum, das private, in dem niemand mehr irgendwie übergreift.

Zu begrüßen wäre, wenn tatsächlich betroffene Individuen zu Kommunikationsstrategien und Wehrhaftigkeit gegenüber sexueller Belästigung ermutigt würden, idealerweise in Workshops oder irgend dialogisch. Antisexistische Bierdeckel definieren aber eher neue Formen des Unzumutbaren (Blicke vom Nachbartisch, ein Augenzwinkern, nicht allein auf einer nächtlichen Straße unterwegs zu sein), sie fühlen in steter Wiederholung vor, was Individuen widerwärtig oder verängstigend zu finden haben, und sie steigern so zuallererst die Angst der potentiellen Opfer. Das unterscheidet die wünschenswerte, selbstverständliche und doch nicht zwangsläufige Solidarität mit Opfern vom Paternalismus, der die „Hilfe“ immer mit narzisstischen Boni belohnt und sein Objekt gewiss nicht zur Emanzipation führt.

Einer Frau, die ganz gut brüllen, drohen, einen „Candywrapper“ anwenden oder an entsprechender Stelle zutreten könnte, versichert Bierdeckel Nr. 1, man würde ihr diesen Akt der Aggression abnehmen. Sie soll so wehrlos bleiben, wie man sie erzogen hat. Emanzipation bedeutet aber auch den anstrengenden Verzicht auf die allzu selbstverständliche feminin-passive Auslagerung von Aggression an Dritte, eine Strategie der Kollusion. Aggression und Gewalt darf und soll in dieser Konstellation nur männlich sein – das weibliche Ideal bleibt narzisstisch rein von verfemter Aggressivität. Diese zutiefst patriarchale und ökofeministische Erbschaft aufzukündigen ist nur durch ein Zurückführen von Frauen an den verlernten strategischen Einsatz von Aggressionen möglich, nicht aber durch die regressive Bestätigung ihrer angeblich ontologischen Wehrlosigkeit auf Bierdeckeln.

Wahrscheinlicher will die permanent evozierte Bedrohung auch etwas anderes erreichen, einen Distinktionsgewinn. Wenn die invasive Außenwelt nur noch als Hort von Vergewaltigung, unreglementierten Trieben und Gewalt imaginiert wird, kann dadurch die eigene Burg gefestigt werden. Foucault hat in seinen lesbarsten Stellen ein tiefes Misstrauen gegen eine Strategie formuliert, die einen Herrschaftsanspruch als Fürsorge tarnt. An den Hausordnungen der linken Räume ist bemerkenswert, dass Verantwortung gern departementalisiert wird: Stets ist die Versicherung da, dass man sich kümmern werde. Die Vermittlung durch das Thekenpersonal ist nun nicht aus dessen besonderer Schulung im Umgang mit sexueller Gewalt oder Konfliktmediation abgeleitet, sondern aus der Machtposition.

Diese Macht verspricht den Anwesenden Ruhe und Identität. Die in den Kneipen versprochene Sicherheit muss aber kontinuierlich durch Ermahnungen auf Getränkekarten, Plakaten, Bierdeckeln gestört werden. Um Ruhe zu schaffen, wird die Bedrohung permanent, mit jedem Getränk, visualisiert, exerziert und zelebriert. Dass dadurch tatsächlich Traumatisierte in ihrem Ruhebedürfnis ernst genommen werden, ist zweifelhaft. Die allgemeine Folge einer solchen Ritualisierung ist eine stets aufgereizte, stimulierte Angstlust und insgeheim womöglich eine Identifikation mit den bildlich vorgeführten Vergehen.

Historisch war die autoritäre Inbetriebnahme von  sexuellen Gewaltängsten/-phantasien  Teil der fürchterlichsten Regimes, allen voran der Nationalsozialismus. Dessen Nacktkörperkultur und Natürlichkeitswahn, von Fetischismus und Aggression vermeintlich gereinigte Sexualität, ging mit dem Wahnbild einer invasiven Außenwelt einher, in der Afrikaner und Juden ihr sexuelles Unwesen treiben würden. Das Verhältnis von Sexualneid und Rassismus wurde hinlänglich analysiert. Der puritanischere Ku Klux Klan lynchte vor allem schwarze Männer, der konstruierte Vorwurf war fast immer die „Vergewaltigung einer weißen Frau“. Im Kambodscha der roten Khmer galt jegliches Private verdächtig, Familien wurden zerrissen, die dünne Reiswassersuppe musste in den schlimmsten Distrikten im Kollektiv eingenommen werden, um die allseitige Kontrolle auszuüben und bei geringsten Delikten „im Interesse der Allgemeinheit“ Menschen zu liquidieren. Die „fürsorgliche“ Überwachung des Privaten hat eine so perfide Tradition, dass ihr äußerstes Misstrauen selbst dort entgegen zu bringen ist, wo sie sich antitotalitär gibt. Anzusetzen wäre zuerst an der Schimäre der Außergewöhnlichkeit, der narzisstische Überhöhung, dass diese „Sensibilisierung“ für die Linke neu und spezifisch sei. Jeder „Tatort“ und jeder Horrorfilm kultiviert schließlich die Angst davor, dass auf neugierige Frauen nur Vergewaltigung und Tod warten, dass das liebenswerte Date sich als Psychopath entpuppt, dass die Wälder von kindsentführenden Mafiosi wimmeln und hinter jeder dunklen Ecke ein Monstrum auf sein Opfer lauert.

Der linksautonome Antisexismus schlug mehrfach schon in verfolgenden Autoritarismus um. Als einige gegen „den Sexismus“ Protestierende in Marburg einen mit fadenscheinigen Argumenten als sexistisch identifizierten Vortrag verhinderten, entwarfen sie spontan ein Submissions-Ritual. Wer den universitären Veranstaltungsraum betreten wollte, sollte unter einem aufgespannten Transparent hindurchkriechen. Dieses Ritual ist so alt wie archaisch: In Gallien wurde das römische Heer von den Tigurinern besiegt, diese schickten die besiegten Soldaten unter einem Joch hindurch. Herrschaft über Andere in deren Körper einzuschreiben ist eine der perfidesten und ältesten Machtstrategien. Vermeintliche Herrschaftskritik schlug in Marburg um in unreflektierteste Herrschaftsausübung, in Heimzahlung und Zurichtung des Anderen durch dessen gebeugten Körper.

Solche Rituale zeugen von einem erschütterten Selbstvertrauen in die sprachlichen Fähigkeiten, in den Begriff. Die wütende Aktion folgte begriffsloser Identifizierung. Man will, gegen die Freudsche Kränkung aufbegehrend, Herr im „eigenen“ Haus sein und lässt gerade dadurch seinen niedrigsten Lüsten – Häme, Heimtücke, Rache, Verfolungslust – freien Lauf. Einer der Veranstalter wurde denunziert, ein Anruf bei seinem Chef sollte seinen „Rassismus und Sexismus“ bloß stellen, was fast zu seiner Entlassung geführt hatte. Natürlich haben die Aggressiven „keinen Verdacht auf sich selbst“, wie man in der Psychotherapie umgangssprachlich sagt. Sie sind „unschuldige Verfolger“, in gerechter Sache aggressiv, es läuft alles ganz logisch auf Notwehr hinaus, denn „wir sind die Guten“, wie man auf Demonstrationen gerne skandiert. Mit dem gleichen Argument wurde in einem Szenelokal das Hausverbot gegen einen der verhinderten Veranstalter ausgesprochen, der Begründung zufolge hätten der ausgewiesene Mensch „beschissene Texte“ in einem Blog geschrieben, die das avantgardistische Selbstbild offenbar so tief kränkten, dass der Nachweis für sexistische, rassistische oder antisemitische Zitate gar nicht mehr erbracht musste. Aus dem Vorwand des Schutzes von potentiellen Opfern von Sexismus und Rassismus wurde ganz konkret ein systematisches und organisiertes Verfolgen von Andersdenkenden. Das gleiche Phänomen spielt sich überall ab, wo Bahamas-Autoren in Dialog mit Kritikern und Anhängern treten wollen – die bundesweite Verfolgungsjagd auf diese Kritiker der Linken ist längst Realität.

Es ginge, wenn Begreifenwollen einsetzte, auch anders. Man könnte den Individuen ihre Selbstverantwortung zurück geben, statt sie erst durch die Imagination übermächtiger Bedrohungen einzuschüchtern, und ihnen dann als einzigen Ausweg die Autorität des Kollektivs anzuempfehlen. Anstatt Plakate aufzuhängen, die sich sinngemäß an potentielle Vergewaltiger richten, und dadurch Vergewaltigungsopfern suggerieren, eine Missverständnis auf der Kommunikationsebene oder theoretische Unbildung habe beim Täter vorgelegen; anstatt mit solchen Plakaten die Vergewaltigung als alltägliche Imagination zu inszenieren, wie jene prüde Kirchen-Pornographie, die ihre Lust an Abbildungenen als Denunziation abnormalen Verhaltens tarnt; anstelle einer solchen Veralltäglichung des Sexualverbrechens könnte man Frauen und Männer analytisch bilden, ihnen komplexere Begriffe anempfehlen durch ausgearbeitete Texte, ihnen Strategien aufzeigen, Nein- und Ja-Anteile an sich selbst und an anderen zu erkennen, abzuwägen und angemessen zu artikulieren, schlichtweg ihnen beizubringen, nett zueinander zu sein, ohne gleich den immer riskanten und kränkungsgefährdeten Verführungsversuch oder die sexuelle Dimension aller zwischenmenschlichen Beziehungen zu kriminalisieren.

Das Missverhältnis zwischen der Arbeit an Begriffen und Tanzveranstaltungen ist allerdings eklatant. Gut möglich ist, dass dadurch erst die Angst genährt wird. Es fehlen Begriffe und Worte, wenn Kommunikation durch Lautstärke und Alkohol unterdrückt wird und letztendlich nur noch begriffslose somatische Emotion herrscht und allenfalls mit Tanzstilen Attraktion und Attraktivität, Zugehörigkeit und Ablehnung kommuniziert werden kann. Sprache und Körper verfließen, die Angst vor der sprachlichen Verletzung gleicht sich der Angst vor dem körperlichen Übergriff an, wer „beschissen“ schreibt, beginnt plötzlich tatsächlich zu stinken und muss weggespült, verwiesen, verboten werden.

Was wäre der politischen Sache verloren, wenn nicht nur die mit Hausverbot bedachten antifaschistischen Feministen und Kritiker der Linken sondern vielleicht sogar ein Verbindungsstudent in einer solchen Örtlichkeit gelegentlich sein Bier trinken würde. Wäre man sich seiner intellektuellen Überlegenheit zutiefst gewiss, man könnte freudig eine Gelegenheit wahrnehmen, das rhetorische Geschick am willkommenen Gegner zu testen. Das beinhaltet aber die Gefahr, auf religiöse Anteile der eigenen Ideologie zu stoßen, unbegriffene Natürlichkeiten erschüttert zu sehen. Glaubt man denn wirklich, dass ohne Verbote die Infiltration der stickerbewehrte Institution – die allein durch die Aufkleber und die ranzigen Kritzeleien so oft an ein Kinderzimmer erinnern, das vor den Eltern geschützt werden muss – glaubt man also wirklich dass die Invasion der verrauchten Schuppen durch Burschenschafter anstünde oder macht man sich insgeheim die Welt durch ein sattes Stück Unfreiheit, Intoleranz und Unehrlichkeit vor sich selbst erträglicher?

Kritik an der derzeitigen Praxis ist selbst dort zu leisten, wenn sie ihr Recht hat, bei tatsächlichen Übergriffen. Die notwendige Abwehr „Hausverbot“ masst sich mitunter an, das Strafrecht zu ersetzen: In Frankfurt wurde einem als geständig bezeichneten Vergewaltiger ein Hausverbot erteilt – von einer Strafanzeige wird dem Opfer implizit abgeraten, das linke Recht sei dem bürgerlich-politischen durch die „Definitionsmacht“ überlegen.  Ein solches Verhalten ist perfide: Das Opfer wird „geschützt“ – solange es sich ans Kollektiv bindet und in dessen Räumen aufhält. Es wird an diesem Punkt mit Leib und Seele abhängig gemacht von seiner politischen Gesinnung. Im konkreten Fall wird noch ein Kollektivgewinn herausgeschürft: „Bei einer Vergewaltigung sind alle betroffen. Sie ist keine Privatangelegenheit, sondern muss als politische, nämlich sexistische Gewalt politisch geächtet werden.“

Das Hausverbot schickt sich nicht nur an, bürgerliche Rechtsgrundsätze wie das „in dubio pro reo“ oder das Grundgebot eines festgesetzten Strafmaßes, sondern auch jede Analyse zu ersetzen. Das höchste Interesse der kritischen Theorie lag darin, herauszufinden, wie die Menschen zu dem geworden sind, was sie sind und wie man es sich und anderen begreiflich macht – auch und gerade an den ärgsten der nationalsozialistischen Massenmörder. Das bedeutet nicht den pazifistischen Ausschluß von Notwehr und Aktion, sondern das Primat der Analyse und der Trauer um die Verlorenen.

Ein solches Primat würde endlich auch jenes abscheuliche Identifizieren abstellen, das aus Individuen, die vielleicht in einer schlechten Polemik wirklich danebengehauen haben, auf Lebenszeit einen „Sexisten“ oder „Rassisten“ in toto macht. Wer das einmal „ist“, hat so schnell kein Auskommen. Kontagiös verbreitet sich das Gerücht und es erweitert sich.  Hatte sich jemand am ersten Ort wegen einer Plakatzerstörung einen Verweis eingetragen, eilt ihm rasch die Identifizierungswut hinterher und treibt ihn als Gesinnungstäter und prospektiven Vergewaltigungsbefürworter aus allen Institutionen, deren das linke Kollektiv habhaft werden konnte. Es scheint erneut so, als könnte das Selbstbild einer aggressionsbereinigten besseren Gesellschaftsform, der neuen Menschen, nur aufrechterhalten werden, wenn man diesen neuen Menschen hin und wieder einen richtigen Verbrecher präsentiert, der wie die Manifestationen des Verdrängten im Horrorfilm an den Fenstern kratzt. Symptomatisch für diese Form des Identifizierens ist die zeitliche Entfristung von Hausverboten. Nicht wird versucht, zu disziplinieren, gerecht zu sein, Kritik wirken zu lassen, vorzubeugen – das Hausverbot will in seiner derzeitigen Form Identität schaffen und das Kollektiv begründen, das keine anderen Argumente mehr hat und zulässt und in sich schon jene Deprivation ahnt, die es den anderen, willkommenen oder dem Bild zurechtgelogenen Objekten angedeiht, um sie nicht zu schmerzhaft selbst zu fühlen.

„Der Krieg schlummert nur“

Recherchen über den aktuellen Stand der nationalsozialistischen Bewegung lassen sich abkürzen: Gibt man in einer Suchmaschine „8. Mai Feiern“ ein, erhält man eine satte Liste von dutzenden nationalsozialistischen Ortsgruppenblogs, die allesamt ihre „Nichtfeierlaune“ zum Ausdruck bringen. Allein die Masse dieser pommerschen, greifswälder, saaleländer und wo immer jene sich festgefressen haben, die sich dann näher als Nationalsozialisten, White Prisoners, Heimatschützer, Jungnationalisten und so weiter benennen, allein ihre Präsenz belegt das von Paul Celan geschriebene Zitat im Titel, das aus dem Film „Nacht und Nebel“ von Alain Resnais (1955) stammt: „Der Krieg schlummert nur.“

In Deutschland hätte man diesen Film am liebsten verboten und das reicht schon als Grund, ihn hier zu zeigen. Aber was auch immer Hanns Eissler dazu veranlasste, diese mitunter fröhlich querflötende und klarinettierende Musik für diesen Film zu komponieren, ihre Kombination mit den Filmdokumenten leistet die vollständige Destruktion jeder Musik. Eine Szene zeigt ein Lagerorchester, das den in Schnee und Eis zu Tode Gearbeiteten letzte Töne spielen musste. Welche Musik, ist unerheblich, Beethoven oder Wagner – wie auch die Parole von der „Vermitteltheit von Form und Inhalt“ sich angesichts der beliebigen Formen von KZ-Architektur – „Alpenhüttenstil, Garagenstil, Pagodenstil“ – als widerlegt erwies. Der Inhalt der Form war immer Tod. Wer diesen Tod auf den Tod, dem man entrinnen könnte, also auf das Nichtleben als Äußerstes reduziert, verleugnet die Folter, die ihn mitunter als Erlösung erscheinen ließ, das Grauen, das ihn herbeiführte und das die Überlebenden vergiftete. Einige brachten sich noch Jahrzehnte nach dem Untergang des Hitler’schen Nationalsozialismus um, andere starben in den Wochen nach der Befreiung an den Folgen der Hungerfolter.

Antifaschistische Ortsgruppen mit ihren „Parties“ zum 8. und 9. Mai befinden sich bereits in einer spiegelbildlichen Reproduktion der nazistischen Propaganda. Wenn die Nazis nicht feiern, müsse jeder Antifaschist, der etwas auf sich hält, diese Gelegenheit ergreifen, sich ein Bier beim lokalen antifaschistischen Kneipier zu kaufen und irgendwelcher postmoderner Elektro-Marschmusik zu lauschen. Weil der Zynismus dahinter einigen doch aufgefallen ist, verbindet man „Theorie“ mit „Praxis“ und schaltet Demonstrationen und Kundgebungen vor, die aber auch nur Kundschaft einwerben sollen für den nachgeschalteten Event.

Die Freude der Opfer, der Aliierten hatte alles Recht.

Wenn aber die Antifa QiK heute schreibt: „Der Sieg über Nazideutschland muss überall auf der Welt als ein Sieg für die Menschlichkeit betrachtet werden. Des Weiteren sollte er Menschen den nötigen Mut geben sich gegen real existierendes Unrecht aufzulehnen, da der Sieg zeigt, dass auch noch so großes Leid und Unrecht besiegt werden kann.“

dann ist das identitäre Affirmation, die für jedes Filmscript herhalten könnte. Die rührselige Erkaltung, in der vor lauter gemachtem Mut und Siegesrausch dann „Party“ gemacht werden soll, ahmt das Happy End des Katastrophenfilms nach: Hinter dem Helden gehen Städte in Rauch auf, die Rettung der Gattung aber, für die das gerettete heterosexuelle Paar steht, wird gefeiert. Gegen solches Vergessen und Abspalten im Namen des Erinnerns ist Gerhard Polts Bonmot wahr, dass die Deutschen den Krieg gewonnen hätten.

Mehr zur kultivierten Manie des Antifaschismus findet sich unter meinem älteren Beitrag: „Antideutsche Regressionen

Deutscher Beef

Es gibt ein gutes Buch. Edgar Hilsenrath hat es geschrieben und es heißt „Der Nazi und der Friseur„. Max Schulz, ein grenzenloser Opportunist, verrät den jüdischen jugendlichen Freund Itzig Finkelstein und schließt sich den Nazis an. In einem KZ erschießt er tausende von Juden. Nachdem er Partisanen knapp entkommt, erkennt er seine letzte Chance darin, sich als Jude auszugeben, genauer, als Itzig Finkelstein. Er geht nach Israel, wird dort sogar ein Kriegsheld und lebt einen weitgehend gemütlichen Lebensabend.

Es gibt ein Diktum von Adorno: „Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ward, heute Gedichte zu schreiben.“

Und es gibt ein gutes Interview. Volker Weidermann hat es für die FAS mit Marcel Reich-Ranicki geführt. Das Gespräch ist tatsächlich ein Gespräch, ein einfühlsames und reflektiertes, mitunter lustig. Weinen musste ich am Ende. Ob für den Überlebenden Reich-Ranicki die Angst denn immer da sei? Und er antwortet einfach nur:  „Ja. Ach, es ist alles schrecklich!“

Siebenundsechzig Jahre nach Auschwitz gibt es einen deutschen Schriftsteller und sein Gedicht. Es war so erfolgreich wie wohl kein Gedicht zuvor und hieß sogar Gedicht. Sämtliche Zeitungen kommentieren und diskutieren es, jeder hatte es gelesen und jeder hatte eine Meinung über dieses Gedicht. Es war ein Gedicht über Auschwitz.

Es gibt also Zeitungen. Auf Seite 3 einer besonders infamen Ausgabe einer besonders infamen Zeitung schreibt Jörg Magenau etwas von Graubereichen von Tätern, es habe auch deutsche Opfergeschichten gegeben. Von Tätern und Opfern zu reden sei, so Magenau, eine „doch etwas schlichte, schematische Gegenüberstellung„. Die Graubereiche der jüdischen Opfer auszuloten überlässt Magenau den Lesern. Er denkt ihnen aber noch etwas ganz besonders Graubereichliches vor:

Hätte er auf das ganze „Warum schwieg ich so lange“-Brimborium verzichtet, hätte die Debatte vielleicht nicht den Umweg über Ekelbekundungen, Antisemitismusvorwürfe und täglich anschwellende Hysterie nehmen müssen, sondern sich gleich auf die westliche Lebenslüge konzentriert, nach der eine Atommacht Iran unzumutbar, der arabischen Welt die Atommacht Israel aber durchaus zumutbar ist.

Gäbe es eine Diskussion, so könnte man argumentieren: Die arabische Welt hat über vierzig Jahre mit der Atommacht Israel so gut gelebt. Sie hat noch 1973 den Überfall auf Israel an Jom Kippur ohne atomaren Gegenschlag überstanden. Israels Gesellschaft hat den Beweis hinreichend geführt, dass sie kein Land „auslöscht“, nicht einmal, wenn sie angegriffen wird.

Es gibt keine Diskussion. Die Vorstellung von zwei Gegnern oder Gegnerinnen, die im philosophischen Gespräch Argumente austauschen ist ganz illusionär. Selbst die diskursive Teichoskopie von Sunny Riedel ist geheuchelt: „Kritik an Israel wird lauter„, das ist Titel und Programm zugleich. Der Untertitel: „Hysterie. Schrille Töne in der Debatte um das ‚Israel-Gedicht‘. Friedensbewegung verteidigt Grass.“

Also: hysterische, schrille Angreifer, friedliche Verteidiger. Eine Seite voller Leserbriefe aus der Friedensbewegung rundet dieses Ritual ab. Moshe Zuckermann wird als Hauptgang serviert. Der gibt den Ton an: „Wer Antisemit ist, bestimme ich!“ Es gab den Antisemit Karl Lueger, ein Wiener Bürgermeister, von dem dieser Satz abgekupfert wurde: „Wer Jude ist, bestimme ich!“ Zuckermann weiß das so genau und schreibt es gerade deshalb. In diese Zeitung rein. Die es dann druckt. Es ist wahrlich keine Unbildung am Werk. Vielleicht muss man diese Leute, die Zuckermann sind, in der Endlosschleife reden hören, um zu verstehen, was sie zu so etwas drängt:

Und so ist Günter Grass infolge der Publikation seines Gedichtes zum Antisemiten erklärt worden. Von wem? Vom israelischen Premierminister, vom Zentralrat der Juden in Deutschland, von führenden Personen der in Deutschland lebenden „jüdischen Intelligenz“ und von vielen Nichtjuden, die sich mit „Juden“ und „Israel“ panisch zu „solidarisieren“ pflegen. […]

Jene in Deutschland, die wie Günter Grass denken, sich jedoch nicht getrauen, ihre Gedanken zu artikulieren, nun aber erfahren müssen, dass der, der ihrem Denken Worte gegeben hat, als Antisemit gebrandmarkt wird, sie somit selbst den Dreck des wahllosen Antisemitismusvorwurfs indirekt abbekommen haben, werden sich überlegen müssen, wie sie mit dieser psychisch-politischen Unwirtlichkeit umgehen.

Zuckermann gibt dem Literaten die Weihe zum Überlebenden, zum Juden, der nach dem „Brandmarken“ als DP in „psychisch-politischer Unwirtlichkeit“ herumirrt. Trauriger noch, Zuckermann eignet sich nicht nur das Ressentiment sondern auch den Duktus der Nazis an. Man muss diesen Menschen leider im Vollzitat lesen.

Man ist aber auch objektiv Gesinnungskomplize des Zentralrats der Juden in Deutschland, der sich inzwischen wohl als Zweigstelle der israelischen Regierung beziehungsweise ihrer Botschaft in Deutschland begreift, mithin jede noch so horrende Politik Israels blind absegnet und mit unreflektierter Verve vertritt.

Gar nicht zu reden von gewissen in Deutschland lebenden jüdischen Intellektuellen, die ihren Judenbonus und die Furcht von Deutschen, als Antisemit apostrophiert zu werden, so perfekt ausgereizt haben, dass sie eine Hegemonialstellung erlangt haben bei der Herstellung von „jüdischen“ Denkimperativen und ein Anrecht auf Einschüchterung von jedem, der sich ihren reaktionären Interessen und ihrem ideologischen Ansinnen in den Weg stellt. […]

Man befindet sich nämlich in einem Boot mit faschistischen Siedlern in den von Israel besetzten Gebieten, die sich der Unterstützung seitens der reaktionärsten islamophoben Kräfte in Europa und den USA erfreuen dürfen; mit israelischen Alltagsrassisten, die jede Verurteilung ihres menschenverachtenden Denkens und Handelns „von außen“ mit dem Antisemitismus-Vorwurf parieren; mit dem gegenwärtigen Premierminister Israels, der wie wenige in letzter Zeit dazu beigetragen hat, die Schoah-Erinnerung instrumentalisierend zu besudeln, um seine Okkupationspolitik umso ungehinderter betreiben zu können; mit Ariel Scharon, einem seiner Vorgänger, der schon vor Jahren postulieren zu dürfen meinte, dass alle aus Europa kommende Kritik an der von ihm mit besonders schädlicher Emphase betriebenen Siedlungspolitik im Westjordanland zwangsläufig antisemitisch sei. […]

Die Reflektierten unter ihnen werden sich vielleicht zu einer gewissen Courage bewegen lassen – zum emphatischen Veto gegen die Manipulation des diffamierenden Antisemitismusvorwurfs und seiner einschüchternden Wirkmächtigkeit. Jenen, die an dem hinterhältigen Spiel dieses Vorwurfs partizipieren und sich an dem gegen den renommierten Schriftsteller erhobenen Vorwurf gerade delektieren, ist wohl ohnehin nicht mehr zu helfen.

Man muss sich schon einmal an diesem entsetzlichen Triptychon aufhalten, das Zuckermann hier entwirft und vielleicht sollte man dazu ein wenig Rammstein anstellen und vielleicht auch nicht. Es gibt links in diesem Bild menschenverachtende, faschistische, islamophobe, besudelnde, schädliche, intelligente, unheilbare, hinterhältige Rassistenjuden, ein schräg von unten anstürmender Pöbel deren Kleidung vom Blut von „noch so horrenden Verbrechen“ starrt, und dann den „renommierten“ Dichter in königsblauem, sauberen Gewand, rechts im goldenen Schnitt mit Toga und mahnender Hand. Im Hintergrund eine Anzahl von verwirrt dreinblickenden Deutschen, sich entweder „panisch“ mit dem Renommierten „solidarisierend“, eine gewisse Traditionalität im Ausdruck, sie konnten noch nie ein anderes Brauchtum „pflegen“, die andere Hälfte erstarrt in „Furcht“ um ihren Renommierten, der „ihrem Denken Worte gab“. Im Mittelbild nehmen die Rassistenjudenfaschisten gerade den „diffamierenden Antisemitismusvorwurf“, werfen ihn samt Dreck auf den Renommierten, „brandmarken“ ihn, und „delektieren“ sich köstlich über das grausame Schauspiel. Der Renommierte blickt tränenumflort zum Himmel. Im dritten Bild tappt er dann mit 12 Tapferen durch die Steppe der „psychisch-politische Unwirtlichkeit“, am Horizont droht die Eiswüste der Abstraktion.

Es gab da einst Johannes Pfefferkorn. Der konvertierte jüdische Antisemit, schrieb 1508 seine Schrift: „Wie die blinden Jüden ihr Ostern halten“. Zu Ostern 2012 wird Zuckermanns ganz eigenes Passionsspiel gezeigt und die Susi schreibt ihm gleich einen Psalm.

Lieber Moshe Zuckermann, wäre ihr lesenswerter Artikel als Leserkommentar erschienen, die taz hätte ihn wegen Antisemitismusverdacht wahrscheinlich nicht veröffentlicht. Klaus Hillenbrand & Co. schwingen derart die Antisemitismuskeule, dass man nur in Deckung gehen kann…

Es gibt keine Diskussion. Es gibt Medien, die sich für demokratisch halten, weil sie das Niveau der Leserschaft systematisch unterbieten. Die taz hält sich für pluralistisch und links, ganz gewiss nicht für antisemitisch. Es gibt aber zu wirklich alledem ein Diktum, von Adorno und seinem Freund Horkheimer:

„Aber es gibt keine Antisemiten mehr. Sie waren zuletzt Liberale, die ihre antiliberale Meinung sagen wollten.“

Nur, was macht man mit so einer präzisen Diagnose, wenn Kritik nicht mehr zeitgemäß ist?


Werwolfslyrik und ihre Profiteure

Natürlich ist das klemmige Gedicht eines auf seine alten Tage reaktivierten SSWerwolfs keine Zeile Literaturkritik wert. Josef Joffe nimmt es in „Der Antisemitismus will raus“ dennoch auf sich und seiner Analyse ist nichts hinzuzufügen. Was er unbesprochen lässt, ist das eigentlich Relevante an dem Zirkus: Dass eine renommierte Zeitung darauf angewiesen ist, so ein „Gedicht“ abzudrucken, den Nazi noch aufs Frontbild zu hieven und sich dann in der liberalen redaktionellen Distanz zu gefallen. Nicht nur Grass, eine ganze Zeitung poliert ihre Auflage mit der Proliferation von sekundärem Antisemitismus auf.

Allein eine Medienkritik kann das Resultat dieses Skandals sein. Grass‘ Meinung widerspricht nicht der Berichterstattung in den meisten großen Nachrichtenmedien. In der Sache teilen Millionen Deutsche seine Meinung, weil Antisemitismus sich dem vormanipulierten Bewusstsein bestens verkauft. Dass Kulturindustrie sich in ihren niedersten Manipulationen auf den „Dienst am Kunden“ beruft, beschrieb Adorno als die „Ideologie der Ideologie“. Die Süddeutsche steht zur Analyse an, nicht der bedienstete Kunde Grass. Welche Neurosen, welche pathische Erkaltung bringen einen Chefredakteur dazu, so ein Gedicht nicht nur zu drucken, sondern per Titelikone als „Aufschrei“ anzupreisen? Dieser „Aufschrei“, wie ihn schon Jostein Gaarder (1, 2, 3), Judith Butler und so viele andere Intellektuelle vor Grass vollzogen haben, ist das zirkuläre Produkt jahrzehntelanger Manipulation von Berichterstattungen über Israel. Interessant ist, das die Manipulierten Manipulateure ihre medialen Manipulateure nie der Manipulation beschuldigten – für diese nur halb berechtigte Schuldprojektion würde immerhin Einsicht in den eigenen Irrtum gehören. Noch nie aber hat eine prominente Person glaubhaft und öffentlich ein Ressentiment über Israel als Irrtum widerrufen. Daher ist Kritik an Grass‘ Gedicht völlig überflüssig und zieht den Verdacht auf sich, selbst Verkaufsstrategie zu sein, die noch aus dem Peinlichen Kapital schlagen will. Die Kündigung der Süddeutschen, so man sie hat, wäre die einzig angemessene Praxis.

Die Süddeutsche hat übrigens, wie man mir just mitteilte und wie sich bei Memoryloops nachhören lässt, 1947 einen zur Vernichtung von überlebenden Juden aufrufenden Leserbrief eines „Adolf Bleibtreus“ abgedruckt. Die Münchner Polizei schoß auf 750 demonstrierende Juden.

Der aparte Genosse

Sigmar Gabriel hat bekanntermaßen nach einem Besuch Hebron mit einem Apartheidstaat verglichen. Erfahrenere Blogger nehmen wieder einmal die Arbeit auf sich, Klarstellungen über die Lage in Hebron zu verfassen, in der palästinensische Terroristen Juden und Palästinenser spalteten und für Interaktionen straften. Über die generelle Unsinnigkeit des Vergleiches kann das folgende Video ein paar Einsichten erlauben.

Die Widerlegung im Empirischen scheitert aber meistens an der Zirkularität des Vorurteils: Wenn dies nicht gilt, so greift man eben zu etwas anderem und wenn sich irgendwo dann doch ein terroristischer, böser, dummer, verbrecherischer Jude findet, so haften gewiss alle dafür und überhaupt hat nun mal Israel auch Atomwaffen und in der Bibel schon Unrecht gehabt.

Würde man den Vergleich Gabriels aber inhärent kritisieren, dann träte erst seine Dummheit ganz ans Licht. Zwei Kritikfronten stellen sich dann in etwa so dar:

1. Wenn Israel auch nur annähernd der Apartheid ähnlich wäre, was würde Deutschland es kümmern? Deutschland war Hauptfinanzierer des südafrikanischen Apartheid-Regimes. Noch keine faschistische Diktatur zwischen Colonia Dignidad, Argentinien, Spanien, Irak und Iran musste sich vor diplomatischen Bösartigkeiten Deutschlands fürchten. Die erste Frage, der sich Gabriel stellen muss, wäre also: Wenn Hebron/Israel ein rassistisches und faschistisches autoritäres Regime wäre – würde es dann gerade der deutschen diplomatischen Tradition nicht explizit zu Gesicht stehen, diesem Handelsbeziehungen, Hochtechnologie, Giftgas und ideologische Schützenhilfe anzubieten?

2. Gabriel unternimmt eine Differenzierung zwischen Israel als „Apartheid“ und Deutschland als „Nicht-Apartheid“, dem es unter der nicht gegebenen Voraussetzung eines israelischen rassistischem Regime dann zustünde, dieses moralisch zu verurteilen. Diese Behauptung eines „besseren“ Deutschlands oder zumindest eines „besseren“ Genossen Sigmar Gabriels entlarvt sein wahltaktisches Gestänker gegen Israel als primitive Projektion eigener Befindlichkeiten, gegen die nicht einmal die Lage in Hebron diskutiert werden müsste.

Bekanntermaßen trat Gabriel nicht aus der SPD aus, als diese unter Schröder und Schily die „Zuwanderungs“-debatte lostrat und im Verein mit willfährigen Grünen und CDU den bis heute andauernden rassistischen Normal-Zustand zementierte. Gabriel ist Vorsitzender der Partei, die in zahllosen kommunalen Ämtern es in der Hand hätte, Flüchtlinge menschenwürdig zu behandeln. Er ist Vorsitzender einer Partei, die während der zahlreichen Regierungen des letzten Jahrzehntes die Todeszahlen von Flüchtlingen im Mittelmeer stetig ansteigen ließ. Seit 1988 starben mindestens 17.000 Menschen an den EU-Außengrenzen. 287 davon sind von Grenzpolizisten erschossen worden. Mit dem Abkommen mit dem Ghaddafi-Regime in Libyen setzte die von Deutschland dominierte EU Flüchtlinge wissentlich Folter und Tod aus.

Das sozialdemokratische und das konservative Europa errichteten einen gigantischen Segregationsapparat, der auf Unbewaffnete, Hilflose, Ausgehungerte, Hilfsuchende abzielt. Die werden, wo sie nicht schon in Bergen, Flüssen und Meeren sterben, gejagt, gefasst und unter zynischer Anwendung von Beruhigungsmitteln und Folter abgeschoben in nachweislich lebensgefährliche Zustände. Das ist die Warte von der aus Gabriel den weitgehend im Rahmen der Menschenrechte stattfindenden Schutz der körperlichen Unversehrtheit von Juden vor terroristischen, rassistischen und antisemitischen Angriffen als rassistisch bezeichnet.

Ich werde nicht wählen. Alle deutschen Regierungs-Parteien haben den rassistischen Konsens mitgetragen, keine macht irgend Anzeichen, Regierungsbeteiligung von einer sofortigen Auflösung der mörderischen Grenzpolitik in Deutschland und an den Außengrenzen der EU abhängig zu machen.

Kony 2012 – Israel 2013?

„Nothing is more powerful than an idea whose time has come.“ Mit ihren einleitenden Worten  offenbart die Kampagne „Kony 2012“ ihren Reflexionsausfall, der sich durch das gesamte Video zieht. Die Kritische Theorie entstand in dem Bewusstsein, dass Philosophie sich am Leben erhält, weil „der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward.“ Aber nicht einmal Philosophie ist es, auf die sich die Kampagne beruft, sondern die Idee, Schwundstufe des durchreflektierten Gedankens. Als „gute“ Idee bewirbt sie sich primär durch die massenhafte Zustimmung. Joseph Kony wird, und das ja sehr zu recht, als „Bad Guy“ markiert, dessen hauptsächliches Charakteristikum ist, von allen verabscheut zu werden: „He is not fighting for any cause but only to maintain his power. He’s not supported by anyone.“ Der International Criminal Court führt ihn als Nr. 1 auf ihrer Liste gesuchter Verbrecher.

Die fortschreitende Berufung auf eine internationale Konsensualität wirbt diese als rational ein. Eine solche Konsensualität stellt sich bislang derart mehrheitlich nur gegen Israel ein: Allein im Jahr 2011 hat die UN Israel 124-mal in „Human Rights Actions“ verurteilte, vor allem in „Resolutions“: Das ist zweimal so viel wie im Falle der Nummer 2, Sudan. Deutschland, das wie jedes Jahr Hauptverantwortlicher für tausende tote Flüchtlinge an den Außengrenzen und in der EU ist, erhielt eine einzige Aktion („Report“). Ghana, in dem 2011 staatliche Kampagnen gegen Homosexuelle von der Entwicklungshilfe gezahlt wurden, in dem Hexenjagden eine alltägliche Erscheinung sind, in dem 2011 ethnische Konflikte zwischen Konkomba und Fulani aufflammten, wird ebenfalls nur ein einziges Mal wegen Missständen im Gesundheitssektor besucht („Visit“). Nun hat Israel ein paar mehr und mächtigere Freunde als Kony und die UNO ist nicht der ICC. Die Legitimationsweise der Kampagne betrifft das nicht.

Die Kony 2012 Kampagne macht sich ebenfalls suspekt durch unkritische Idolisierungen der reaktionären Mutter Teresa, die ihren Patienten Schmerzmittel untersagte, weil Leiden und Erlösung eins seien und des Mahatma Ghandi, der den Juden 1938 friedlichen Widerstand anempfahl. In einer „künstlerischen Aktion“ werden ihre Porträts als Graffitti auf ein Garagentor gesprüht. Die nächste Szene zeigt dann einen „Kony 2012“-Anführer mit Megaphon und Kufiya, dem „Palästinensertuch“ um den Hals. Untertitel: „And we got loud!“ [14:59]

Gegen Kony, aber für Fatah und Hamas, für deren Politik das karierte Tuch in der Szene steht? Was über Kony gesagt wird, könnte ebensogut für Arafat gelten: „An he’s repeatedly used peacetalks to rearm and murder again and again.“ Kony entführte an die 30.000 Kinder für seinen Krieg. Die Zahlen der palästinensischen Terrororganisationen sind nicht bekannt, sie zielen allerdings auf sehr viel mehr Kinder ab mit ihren Propagandafilmen und Trainingsprogrammen. Hier exerzieren Kinder schon im Alter von 5 Jahren mit Maschinenpistolen, schwören Bereitschaft, ihr Leben zu geben um Juden zu töten, werden in Selbstmordattentate geschickt. Das hält Kony-2012-Aktivisten nicht davon ab, die Kafiya mit ihrer eindeutigen Aussage zu tragen.

Ein weiterer Aspekt der Kony 2012-Kampagne: Sie ist primär Werbung für Medientechnologie. Der medienwissenschaftliche Diskurs bedankt sich bereits bei Kony 2012 für die Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Der Schlüssel zur Hilfe in Echtzeit sei Awareness in Echtzeit. Und für die werden permanent I-Phones in die Kamera gehalten. Suggeriert wird aufrichtige Zeugenschaft durch Medien: „I can’t believe that. This has been going on for years? If that happened one night in America it would be on the cover of Newsweek.“

Stereotyp ist dieses Vorschützen von Unwissen über afrikanische Zustände: „I can’t believe that!“ Das „Nicht-gewusst-haben“ ist festes Instrumentarium einer vorsätzlich desinformierten Gesellschaft. Äußerste Naivität spricht aus der Passage, das Vertrauen in dieselbe Newsweek, die vermutlich schon Dutzende von Artikeln über Kony brachte, die man aber nicht lesen wollte, solange in den USA das Somalia-Trauma noch nachwirkte, das dann vom Ruanda-Trauma abgelöst wurde, dem wiederum der 9/11-Schock folgte. Nun auf einmal, während den Umbrüchen in der arabischen Welt, während die Darfur-Kampagne Clooneys kaum Wirkung zeigt, während Israel mit dem Rücken zur Wand steht, entdeckt Kony 2012 einen einzigen Bösen und verspricht ihn mittels Facebook und kostenlosen „Action-Kits“ zur Strecke zu bringen.

Diese Naivität und geschichtslose Reflexionslosigkeit ist es, die Kony 2012 so ambivalent macht. „We change the course of human history“ – das könnte man als guten Marxismus interpretieren, wäre da nicht der propagandistische Ton: „I’m going to tell you exactly how we’re going to do this.“  „We will fight war“. „This is what the world should be like.“ In einer von allen ökonomischen und politischen Widersprüchen gereinigten utopischen Wendung wird das ganze System als Dreiecks-Graphik auf den Kopf gestellt und Menschen bestimmen das Geld – nachdem sie noch schnell ihr I-Phone gekauft haben, versteht sich. Und dann ist da noch jener George Clooney, der es gönnerisch für „fair“ erklärt, dass Kony die gleiche Popularität wie er selbst erhält. Wenn Kony gefasst wird, wird die Kampagne diesen Sieg für sich reklamieren und damit Werbung machen: Für Facebook, Apple und George Clooney. Geleugnet werden so die zähen Verhandlungen zwischen afrikanischen Akteuren, deren freiwillige Arbeit mit Flüchtlingen, die Widersprüche der afrikanischen Gesellschaften, die Kony hervorbrachten und die eben nicht aufgehen in einem bloßen Informationsdefizit der westlichen Gesellschaft.

Die LRA konnte nicht bestehen ohne Waffenlieferungen aus dem Sudan. Sie hatte eine morbide Funktion in einem Konflikt, der weitaus größer war und ist, als sich die USA und Europa je eingestehen wollten. Der Millionen Tote schwere „Weltkrieg Afrikas“, wie Prunier ihn taufte, involvierte unterschiedlichste Parteien in der DRC, Ruanda, Uganda, Sudan, die Zentralafrikanische Republik, Angola, Namibia, Simbabwe und einige temporäre Parteien. Hier auf die LRA und diese auf eine Person zu reduzieren und davon auszugehen, dass mit dessen Verhaftung die Knochenmühle in der „Region“ nennenswert zu verlangsamen wäre, ist reduktionistisch und könnte tatsächlich jenen Initiativen schaden, die wenigstens versuchen, ein differenzierteres Bild des Konflikts zu entfalten, der wesentlich teurere, langwierigere und unpopulärere Maßnahmen erfordert als das Like gegen einen Bad-Guy.

Es ist nicht die Wahl Konys, der, hier ist der Kampagne völlig zuzustimmen, mit militärischen Mitteln und auch mit Hilfe der USA verhaftet oder getötet werden hätte können, werden muss und hoffentlich 2012 werden wird. Es ist die Art und Weise, wie diese Wahl stattfand und präsentiert wird, die zur Frage führt: Wer ist der nächste?

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Wer tatsächlich Informationen über den Konflikt im Zentrum Afrikas sucht, sei auf Gerard Pruniers Standardwerk „Africa’s World War“ verwiesen. Zur LRA liefert Heike Behrends ethnographische Studie „Alice und die Geister. Krieg im Norden Ugandas“ exzellentes Material.

Einige afrikanische Stimmen zur Kampagne finden sich über diesen Link: http://boingboing.net/2012/03/08/african-voices-respond-to-hype.html.

Gerauchtes Gummi

Erinnerungsspuren aus meiner Kindheit. Am Familien-Kettcar prangte ein Aufkleber am Plastiksitz: zwei rauchende kartoffelförmige aktentaschentragende Wesen, Niko und Tino genannt, blickten grimmig und sehr ausländisch drein und vor ihnen wurde auf irgend eine Weise gewarnt. Derartige Personifikationen bestrafte in der Pubertät die Gegenidentifikation. Mit 12 schlug ich noch die Einladung eines Franzosenkindes aus, das auf einem belgischen Halbtrockenrasen seine Kippe mit mir teilen wollte. Mit 13 blickte ich an einer Bushaltestelle zwei 15-jährigen Rastafareis von der Nachbarschule böse nach, weil diese dem devianten Laster fröhnten. Diese lachten mich erst aus, luden mich später recht nett ein und schon eiferte ich ihnen nach, experimentierte mit Tabakwaren bis ich im Alter von 18 Jahren den Entzug schaffte. Bei der Gelegenheit erinnere ich mich auch an andere Faszinosa der Kindheit, die spät entdeckten Ghostbusters Sammelbildchen (nie konnte ich Bild 156 ergattern), zuckergefüllte Plastik-Muscheln für 5 Pfennige (die zu recht verschwunden sind), jene Ketten aus schwerzerbeißbaren Zuckerperlen und eben Kaugummizigaretten, mit denen man dem angeberischen Habitus der Pubertären nacheifern konnte, ihre Posen und Masken erkundete und mimetisch sich aneignete.

Lange Zeit hielt ich Kaugummi- und Schokoladenzigaretten für extinkt, der Ratio eines überschießenden Kinderschutzes anheim gefallen. Nun habe ich sie wieder im lokalen Dorfladen aufgespürt. Die in Mazedonien produzierten Schachteln der Firma DOK heißen „Baron“, „World“, „Paradise“, „Robinson“. Bei Hitschler pirscht man sich noch näher an das Markenbewusstsein heran: „Best“ prahlt eine rot-weiße Schachtel, die unsinnige Bezeichnung „Noir Plus“ auf dem Verkaufskarton soll wohl an Schwarzen Krauser und den damit assoziierten Machismo anknüpfen. Kaugummizigaretten seien „der Artikel aus den 80er Jahren“, wirbt DOK, als würden sich Kinder von dieser Retro-Romantik mehr beeindrucken lassen als die Einkäuferinnen. Meine Schachtel „Paradise“ verspricht in demselben schwarz gerandeten Kasten, der normalerweise Warnungen vor Raucherbeinen und Impotenz enthält: „Blase in die Kaugummi-Stange und sieh wie der Zauberrauch in die Luft steigt.“ Das ist schon unverschämte Unterstellung infantiler Naivität. Als Kind hätte ich mich über Formulierungen wie „Zauberrauch“ echauffiert, über jenes professionelle Vorschmatzen, das Adorno in der Minima Moralia ganz richtig mit der Kulturindustrie assoziiert.

Eine naive Ideologiekritik würde unterstellen, dass hinter diesen Produkten die Zigarettenindustrie stecke, die Kinder prägen will. Die Zigarettenindustrie lässt Stewardessen in Flugzeugen „die doppelt starke Marlboro“ aus dem duty free shop bewerben, aber von zigarettenförmigen Süßwaren distanziert sie sich recht glaubwürdig. Kaugummizigaretten bedeuten für die Ideologiekritik eine Herausforderung, weil sie eben nicht den direkten Nutzen instrumentell umsetzen, sondern allein über die psychologischen Mechanismen Identifikation und Mimesis sich in ein heute mit Nostalgie angereichertes marktgängiges Produkt umsetzen.

Und weiter erinnert: Vor meinem Rauchkonsum begann eine Phase, in der ich Zigarettenschachteln sammelte und klassifizierte. Ich bildete mir ein, die goldenen Benson&Hedges seien sicherlich exklusiver als die proletarischeren Marlboros und Camels, an den Silberstreifen von Lord-Extra-Filtern meinte ich mit 9 wie ein echter Detektiv auf den ökonomischen Status des Rauchers rückschließen zu können. Zog man an den Klappen der alle hundert Meter aufgestellten Automaten, konnte man einige Millimeter einer Schachtel erblicken, stets begleitete die Hoffnung, eine möge doch einmal durch einen Defekt ganz herausrutschen, wie es die rural legends der Teenager versprachen. Für mich, den 14-jährigen Möchtegern-Punk bedeutete es äußerste Lust, nach dem Einwurf der 5 Mark die häufig klemmenden Ratschen aufzureißen und den Automaten tatsächlich die jahrelang vorenthaltene Ladung, natürlich die freiheitsversprechenden Gaulouises blondes oder die hippen Lucky Strikes, aber niemals die homosexuellen Davidoffs, zu entreißen. An den proletarischen Nachbarskindern, in deren Haushalten Kette geraucht wurde und deren Fensterränder demgemäß von außen so schwärzlich verfärbt waren wie ihre Lungen von innen, bewunderte ich früh deren Spezial-Wissen um rituelle Gepflogenheiten der rauchenden Eltern, den Gebrauch der Aschenbecher, die Neujahrszigarette, die ihnen erlaubt war. Stolz war ich über den ersten riesigen Rauchring, den ich durch einen Zufall im Gegenwind auf einer abgelegenen Wiese erzeugte – leider sah ihn niemand anderes, die Nachbarskinder waren längst auf anderen Schulen, man spielte nicht mehr mit Transformers-Figuren sondern hockte vor Nintendos und Segas. Meine „Paradise“-Kingsize, die ich mir genehmige, erlaubt keine Rauchringe, nur das Hineinpusten erzeugt die Illusion von Qualm. Der Gummi schmeckt rasch abgerieben und nach tranigem Kerzenwachs. Ein kleiner Pegasos fliegt in der linken oberen Ecke eines diagonal durchschnittenen Quadrates herum, vor dem Maul der Schachtel innehaltend. Das Paradis war selbst Kindern schon glaubwürdiger versprochen worden. Immerhin: wenn die Schachtel halb leer ist, stellen sich die Kaumasse-Balken auf ganz possierliche Weise schräg, und wenn man das Papier mitkaut, macht das geschmacklich kaum einen Unterschied. Man bekommt doch noch etwas geboten auf dieser Welt.

Seit ich ihn gesehn… Iggy Pop und die Emanzipation

Die Inszenierung präsentiert Iggy Pop in einem einteiligen, edlen Kleid. Seine gekonnten Posen ahmen den dynamischen Tanz einer Frau nach, die sich aus irgendeinem, von der Archetypen-Psychologie der Werbeagenturen erdachten Grund stets in Bewegung befinden muss. Das Zitat: „I’m not ashamed to dress ‚like a woman‘ because I don’t think it’s shameful to be a woman.“

Adorno hat seinen tiefen Skeptizismus gegenüber der Verherrlichung des weiblichen Charakters wie kaum ein anderes Thema für die „Minima Moralia“ reserviert. Sein emanzipatorischer, Nietzsche aufhebender Befund gipfelt in dem Satz: ‎“Die Glorifizierung des weiblichen Charakters schließt die Demütigung aller ein, die ihn tragen.“ Exaltierte Männlichkeit, das „tough baby„-Syndrom, ist ihm so suspekt wie die damit kommunizierende Weiblichkeit.

Iggy Pop subvertiert dieses dialektische Verhältnis nicht, er invertiert. Im Westen ist die Abkehr von der klassischen Misogynie heute billig zu haben und auf sie bezogenes avantgardistisches Brimborium lässt wirkt verspätet, naiv und altbacken. Die normative Botschaft des Pop-Künstlers liegt eher in der Propaganda für die Kleidung der Frau, die artifizielle, überelastische Haltung ihres Körpers und letztlich für ihre Unterwerfung. Die kunstfasergehärtete Seidenrüstung wird mit der Existenz, der biologischen Geschlechtlichkeit assoziiert als wäre sie von Natur entstanden.

Die Angleichung der Männer an die Frauenbilder, die sie selbst sich einst in Angst vor der Aggression der Frau zurichteten, zeugt davon, was sie mit sich selbst vorhaben. Es ist zum geringeren Teil Beweis für die Befreiung von Homophobie, der Pazifismus befreit auch nicht von Gewalt. Vielmehr spricht hier die fortschreitende, auch die Männer erfassende Unterwerfung. Die ist nicht mehr durch Vaterfiguren verkörpert, denen man in Kraft und Intellekt mindestens gleich werden kann und muss, sondern durch ein übermächtiges, anonymes, namenloses Prinzip, vor dem nur Inversion und Vermeidung ratsam sind. Ausbrüche gewährt dann allein die fortschreitende Apotheose des aufgeblähten Heros, der überkontrollierte, unverwundbaren Mann, wie ihn auch der von Drogen und Exzessen gestählte Iggy Pop, vor allem aber James Bond und der Dark Knight (1, 2) repräsentieren – anders als die Proletarier Jackie Chan oder John Rambo riskieren sie nichts, reagieren nicht, haben nicht nur bloß unfassbares Glück: Die sterilisierten bourgeoisen Action-Helden sind keine Menschen sondern Götter, die dumm ihrem Schicksal in einer durchgeplanten Folge von wahnsinnigen, unmöglichen Aktionen folgen und dabei gewiss keine Geldsorgen haben. Das Gegengift zum Heros, die zu solidarischen Bindungen auch jenseits des sexuellen Interesses fähige Assoziation von verwundbaren Individuen bleibt mit gutem Grund selten in der Filmlandschaft – am Ende läuft heute noch fast jeder erfolgreiche Film auf den eisenharten Kerl heraus, der seine Kleinfamilie rettet während tausende andere sterben. Wenn es einen Fortschritt in der Bildersprache Hollywoods gegeben hat, dann nicht den Umschlag dieser Figuren in den verweiblichten Mann, der noch immer auf tolerierte homosexuelle oder pubertäre Rollen sich zurückziehen muss und in der Konkurrenz um Frauen allenfalls gegen den prügelnden Blödian Erfolg hat. Die Emanzipation der Frau muss die Emanzipation der Frauen sein. Die Gönnerei jener Männer, die aus der einst zwanghaften Travestie einen gesellschaftlich honorierten Faschingsball machen, verspricht ihnen keine Freiheiten sondern schreibt ihren Status fest. Die Aktivität der Frauen als körperlicher und intellektueller Widerstand gegen die gesellschaftlichen Zumutungen ist allemal wünschenswerter als der Regress der Männer auf die anal strukturierte Manipulation, die passive Aggressivität, die der euphemistisch zur Schönheit geschundenen körperlichen Schwäche zum Habitus wird.

Nicht zufällig ist das konforme Accessoire Iggy Pops die Handtasche, jenes Lacan’sche Schächtelchen, in dem männlicherseits wunder was Geheimnisse und Waffen vermutet werden, in dem sich aber zumeist nichts befindet, was wert gewesen wäre, es vom Körper abzuspalten und dann dennoch bei sich zu tragen. In dieser Handtasche wie auch im Ausgezehrten der doch sehr vogue gewordenen hohlwangigen anorektischen Männermodels, artikulieren sich sado-masochistische Wartestände auf Ruinen einstiger Wünsche. Androgynität ist erlaubt, solange sie dieses Zeichen der Schwäche und Entsagung von Lust, die Magerkeit, trägt. Ungleich verpöhnter als die modischen metrosexuellen Männer sind Frauen, die sich Bodybuilding jenseits von sanktionierten Ästhetisierungen erlauben. Androgynität, die als vereinzelte in das Zelebrieren von Schwäche mündet, das durch Beherrschbarkeit des eigenen schwächlichen Beutekörpers lockt, ist keine Fortschrittliche. Unter der gesellschaftlichen Kastrationsdrohung ist sie Regression hinter das ödipale Stadium. Vom Widerstand abgelöste Geschlechtlichkeit wirbt nur Ästhetisierungen ein. Wünschenswert wäre ein Zustand, der der Stärke nicht mehr bedürfte und körperliche wie intellektuelle Schwäche erlaubte. In der gewaltförmigen bürgerlichen Gesellschaft bedeutet dieselbe Projektion eine Idealisierung, ein Ausweichen vor dem Konflikt. Der richtet sich gegen die Subjekte selbst, die aus der freien Wahl ihrer Kleider schon ihre eigene Freiheit, und insbesondere jene zur Wahl der Wahl selbst, ableiten wollen.

„Die Gegensätze des starken Mannes und des folgsamen Jünglings verflieβen in einer Ordnung, die das männliche Prinzip der Herrschaft rein durchsetzt. Indem es alle ohne Ausnahme, auch die vermeintlichen Subjekte, zu seinen Objekten macht, schlägt es in die totale Passivität, virtuell ins Weibliche um.“ (Adorno, Minima Moralia, „Tough Baby“)

Vielleicht hat Iggy Pops Zitat aber auch recht. Scham empfindet das Opfer für das, was ihm angetan wird, weil die Trennung zu jenem misslingt, was man sich antun lässt. Wenn Iggy Pop mit dem Spott auf diese weibliche Scham über das, was aus der Frau gemacht wurde, kokettierte und diese Frauen als Ziel der Kritik einer ungleich feinsinnigeren Travestie hätte, so wäre er weitaus fortschrittlicher als er von den Fans des Bildes verstanden wird und sehr wahrscheinlich doch werden will.

Fragment Ende.

Crosspost: „Die Juden sind ihr Unglück“

„Spirit of Entebbe“ hat mit „Die Juden sind ihr Unglück“ eine staatlich geförderte Medienfälschung durchgearbeitet:

„[…] (Nahost-)Geschichte wird heute nicht mehr von den Siegern geschrieben, sondern von den Verlierern, und deutsche Filmemacher reichen da, jedenfalls wenn es gegen die Juden geht, gern die helfende Hand. Gefördert von der Filmstiftung NRW. “