In einem Zug irgendwo zwischen Mittelhessen und Nordrhein-Westfalen musste mancher diese Woche folgendem Monolog eines eifernden Mittfünfzigers beiwohnen:
„Der Dingsda von der SPD, der das mit den Ausländern gsacht hat, hat ja jetzt ein auf den Deckel bekomme. Joa. Wenn ma in ner Partei is, kammer das net sache, da kriecht ma gleich was aufen Deckel. Awer eigentlich hatter ja recht. Dass die da den Staat aussuckeln kann ja wirklich net angehn. Wie die in Kleinlinne da, die hot da drei Kinner. 350 Euro! Zahlt alles des Amt! So e Schlambe, die müsst geprüchelt were, von morchens bis abens! Jeden tach isse inne Disko un die Kinner hotse beim Vatter gelasse!“
Sarrazins geistige Kinder: lauter kleine deutsche Bierbauchmännchen, die das Bewerbungsschreiben für den amtlichen Job des „Durchprüglers“ schon in der Schublade haben, falls der Islamismus kommen sollte.
Wird er nur fehlinterpretiert? Hat er, wie Wolffsohn es wahrnimmt, eine „sachliche“, „analytisch tiefe“ Kritik an islamistischen Zumutungen geäußert? Oder hat der Zentralrat der Juden recht, wenn ein Sprecher behauptet, Sarrazin stünde in einer geistigen Linie mit Hitler?
Sarrazin ist vor allem deutsch wie ein Jägerzaun. So einer schickt schon mal Mitarbeiter zum Einkaufen in den Discounter, um nach einem Blick auf den Kassenzettel und einem weiteren ins Aldi-Kochbuch die Forderung nach 49 Cent weniger Tagessatz für Hartz-4 Empfänger rauszufetzen. Im jüngsten Interview jammert er dann:
„Es gibt auch das Problem, dass vierzig Prozent aller Geburten in der Unterschicht stattfinden“
Warum es überhaupt eine Unterschicht gibt, muss man für einen Malthusianer seines Schlages gar nicht mehr problematisieren – wer dort Kinder gebärt, vermehrt anscheinend zwangsläufig die Unterschicht. So schnell wird Armut rassifiziert und ein gesellschaftliches Problem – das der Armuterzeugung bei gleichzeitiger gigantischer Warenanhäufung – biologisiert. Die Armen erscheinen bedrohlich, ökonomisch und sexuell. Sie fressen und ficken dem Sarrazin zuviel. Da kann ja auch sonst nichts dabei rauskommen:
„Eine große Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt (…) hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel, und es wird sich vermutlich auch keine Perspektive entwickeln. Das gilt auch für einen Teil der deutschen Unterschicht.“
Nun könnte man auf die Bedeutung der türkischen Khebapproduzenten für die Ernährung deprivierter SchülerInnen und Arbeitsloser verweisen oder auf Anteile türkischer oder arabischer ArbeiterInnen in Leiharbeitsfirmen. Sarrazin kommt es aber nicht so sehr darauf an, welche Nischen besetzt werden. Er will den Aggress auf die eigene Unproduktivität abwälzen, indem er Menschen zuerst auf ihre produktive Funktion hin klassifiziert. Integration wird hier an der in den Betrieb gemessen.
So nimmt es nicht wunder, dass bei einem derart in Fleisch und Blut übergegangenen instrumentellen Verhältnis zu Menschen am Holocaust vor allem die ökonomischen Einbußen für Berlin bedauert werden – Berlins Bevölkerungsstruktur und Ökonomie erscheinen als vorrangiges Opfer Nazideutschlands:
„Das hatte Folgen für die Bevölkerungsstruktur. Auch der immense jüdische Aderlaß konnte nie kompensiert werden. Dreißig Prozent aller Ärzte und Anwälte, achtzig Prozent aller Theaterdirektoren in Berlin waren 1933 jüdischer Herkunft. Auch Einzelhandel und Banken waren großenteils in jüdischem Besitz. Das alles gab es nicht mehr, und das war gleichbedeutend mit einem gewaltigen geistigen Aderlaß. Die Vernichtung und Vertreibung der Juden aus dem deutschsprachigen Raum insgesamt betraf zu sechzig bis siebzig Prozent Berlin und Wien. Dazu kam der Weggang des klassischen leistungsorientierten Bürgertums.“
Dass es „das alles“ nicht mehr „gab“ ist eben nicht gleichbedeutend mit einem „gewaltigen geistigen Aderlass“. Es ist überhaupt nicht gleichbedeutend. „Die Vernichtung und Vertreibung der Juden aus dem deutschsprachigen Raum insgesamt“ betraf Juden und nicht „zu sechzig bis siebzig Prozent Berlin und Wien“.
Und was bleibt dann zwangsläufig von der „Kritik“ am Islamismus übrig?
„Ich muss niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert. Das gilt für 70 Prozent der türkischen und 90 Prozent der arabischen Bevölkerung in Berlin.“
Dass jemand „vom Staat lebt“ leitet den Beginn der Assoziationskette ein – das ist schon mal sehr verdächtig für einen Berufsbeamten. „Diesen Staat“ abzulehnen scheint ohnehin niemand das Recht zu haben, der „vom Staat“ lebt. Das ist keine Kritik am Islamismus, sondern das ist Zurichtung auf bedingungslosen Konformismus. Eine solche wird nur noch verstärkt durch die vermeintlich unrassistische Forderung, doch Ausländer reinzulassen, die etwas Anständiges leisten und qualifiziert sind.
„Sie müssen zur Schule gehen, sie müssen Deutsch sprechen können und den normalen Aufstieg durch Bildung nehmen.“
Das klingt mehr als scheinheilig im Land der Arbeitsverbote für Ausländer und der promovierten thailändischen Putzhilfen. Dass Mädchen unters Kopftuch gezwängt werden, rechtfertig zuletzt noch lange nicht, die Geburt dieser Kinder in der gleichen Weise als „Produktion“ zu diffamieren wie das die Ideologie der Islamisten vollzieht. Was er angreift ist der Mensch, nicht die üble Sitte, die ihn zurichtet. Der Brauch, die Geburt von Mädchen zu diskreditieren, ist überdies ein alter deutscher: In manchen Orten Bayerns wird dem Vater eines Mädchens bisweilen eine Kette von Büchsen an den Balkon gehängt mit einem Zettel, der die Beleidigung „Büchsenmacher“ verkündet.
Sarrazin bietet keine Frauenhäuser für „Kopftuch-Mädchen“ an, er will kein Asyl für alle andernorts unter die Burka geprügelten Frauen erwirken. Sarrazin will ein anständiges deutsches Straßenbild mit deutschen Gemüsehändlern und einer gut integrierten vietnamnesischen Raumpflegerin, die für ihre 6,76€ pro Tag (Sarrazin-Hartz 4 plus drei Stunden Ein-Euro-Job) dankbar SPD wählt.
Daher irrt Wolffsohn: Sarrazin ist ein zutiefst deutsches Kind. Und er wird völlig zu recht von irgendwelchen Mittelhessen zitiert, die ihr Kind zur Universität schicken, jeden Tag zur Arbeit gehen und jeden Tag der nackten Angst vor dem Abstieg in die Unterschicht und ihren lockenden Freuden – dem „Suckeln“ an der Mutterbrust von Vater Staat – nachspüren.