Filipp Piatov diagnostiziert in seinem Beitrag zur Beschneidungsdebatte jenen Individuen, die nun die Beschneidung kritisieren, eine „latente Unehrlichkeit“:
Menschen, die sich in jede Israel-Debatte werfen und den jüdischen Staat bis in den Himmel loben, ihn überall verteidigen und Antisemiten kampfeslustig enttarnen. Allerdings hat sich bei diesen glühenden Israelfreunden unbemerkt ein Zwiespalt eingeschlichen, der die latente Unehrlichkeit ihres positiven Israel-Knacks‘ offenbart.
Piatovs Argumentation lautet: Die Beschneidung ist einer der essentiellsten Bestandteile des Judentums. Das religiöse Judentum allein habe den jüdischen Kollektivgedanken getragen und verteidigt und ohne diesen Kollektivgedanken sei Israel undenkbar. Daher ist ein Angriff auf die Beschneidung ein Angriff auf das religiöse Judentum und damit auf Israel. Daher sind die Beschneidungsgegner latent unehrlich. Eine solche Argumentation entbehrt nicht einer gewissen Logik und Wahrheit. Piatov unterstellt aber, dass sein Argument den aufgeklärteren Beschneidungsgegnern entweder unbekannt oder egal ist.
Doch sobald der Jude sein Kind beschneiden will, einen Tag fastet und am Shabbat den PC aus lässt, verliert er seine hippen Eigenschaften und entspricht plötzlich so garnicht mehr dem liberalen Weltbild seiner ehemaligen Unterstützer. Und ist er dann nicht mal mehr bereit, seine eigentlich vorhandene Diskussionsliebe auf religiöse Grundpflichten anzuwenden, so wird aus dem netten Shlomo der fanatische Fundi.
Hier wirft Piatov kosher essen und Shabbat mit der Beschneidung in einen Topf, was ein Bedürfnis nach Verharmlosung ausdrückt und damit ein verdrängtes Bewusstsein der Drastik des Eingriffs. Die eigentliche Frage an ihn ist aber die, wo er diesen Umschlag vom netten Shlomo zum fanatischen Fundi ausmacht. Es dürfte jedem der von ihm angesprochenen Diskussionsteilnehmer – Thomas von der Osten-Sacken, Gideon Böss, Alan Posener, und in der Sache fühle ich mich mitgemeint – bewusst sein, dass die Kritik der Beschneidung jung ist und aus ihrer Abwehr mitnichten gleich auf Fanatismus geschlossen werden kann. Diesen Personen ist sehr sicher das theologische Dilemma bewusst, in dem sich das religiöse Judentum befindet, sie nehmen keine altkluge, sondern eine avantgardistische Position ein. Der Unterschied ist: Sie haben wahrscheinlich mehr Zuversicht in die Flexibilität jüdischer Theologie und jüdischer Gemeinden als Piatov, der sich Einmischung in theologische Debatten verbittet.
Muslimische Stimmen in der Diskussion sind relativ unterrepräsentiert, was wohl daran liegt, dass die Beschneidung für Muslime Sunna, und damit nicht verpflichtend ist:
Bei den Moslems entscheidet die Beschneidung nicht über die Zugehörigkeit. Es handelt sich dabei vielmehr um eine Sunna des Propheten Ibrahim und gehört zur natürlichen Hygiene. Es gibt unterschiedliche Strömungen. Nach einigen Imamen wird die Beschneidung empfohlen, nach anderen ist sie zwingend.
Entsprechend der Sunna wird den Eltern geraten, die Beschneidung am siebten Tag nach der Geburt (einschließlich des Geburtstages) vorzunehmen. Sie kann aber auch früher oder später erfolgen, jedoch aus medizinischer Sicht nicht vor dem 4. Tag nach der Geburt. Wer den Eingriff vornimmt, bleibt den Eltern freigestellt.
Piatov hat in einem Punkt zweifellos recht: Das Verbot stellt allein das religiöse Judentum vor eine existentielle Herausforderung. Er streitet zwar nichtreligiösen Menschen, und hier trennt er nicht zwischen Juden und Nichtjuden, die Fähigkeit zur theologischen Exegese ab. Er kann aber auch selbst nichts Argumentähnliches dazu beitragen. Der jüdische Gott als literarische Figur ist nun mal kein auf Literalismus geeichter Gott: Er ist fehlbar und lässt sich mitunter von Argumenten der Menschen überzeugen. Sein Zorn reut ihn ebenso wie seine vergangenen Fehler. Er ist ein zutiefst historischer Gott, der über die Jahrtausende der Überlieferung Gesetze vermittelt, die meist den jeweiligen historischen Bedingungen angemessen sind. Was im Buch Richter steht, widerspricht dem Buch Könige und das wiederum den späteren Propheten. Aus dieser objektiven historischen Vernunft des religiösen Judentums, seinem aufklärerischen Gehalt ergibt sich auch die ambivalente Zuversicht der Atheisten, dass ein Verbot der Beschneidung von Kindern nicht in einem Untergang des religiösen Judentums münden muss. Es überlässt diese Diskussion aber tatsächlich den religiösen Juden und folgt damit der Forderung Piatovs. Frank Furedi kontextualisiert das theologische Prinzip in seiner Polemik:
The Hasmonean Jewish revolt, in the second century BC, was a response to attempts by their Hellenic rulers to make them give up their ‘barbaric’ customs and adopt a more civilised way of life. One of the catalysts for the revolt was a decree by the Seleucid emperor Antiochus IV, which commanded Jews to leave their sons uncircumcised or face death. This decree, targeting the ‘barbaric’ behaviour of an ‘uneducated’ people, was part of a comprehensive campaign to destroy the Jewish way of life. It is not surprising that the revolt against it, led by Judah Maccabee, is considered one of the defining moments of Judaism. That is why, for any Jew with an historic memory, the current crusade against circumcision will be seen as a less brutal version of the Hellenic project to make Jews more ‘civilised’.
Furedis angenehm ausführlicher Text ist eine wertvolle Infragestellung zahlloser Ressentiments und Unterströmungen der Beschneidungsdiskussion und ausdrücklich zur Lektüre empfohlen. Grundsätzlich sieht er das Recht der Eltern auf jegliche Handlung gegen den Willen des Kindes in Frage gestellt. Hier unterschlägt er das Problem, dass sich alle Eltern vor dem mündigen Kind für alle diese Akte rechtfertigen müssen und für die allermeisten erzieherischen Akte die Zustimmung des reifen Individuums erhalten werden: Es war gut, dass die Eltern einem verboten haben, den heißen Ofen anzufassen. Es war zumindest nicht so schlimm, dass sie einen zum Klavierspielüben ermahnt haben. Für die Beschneidung gibt es aber die Möglichkeit der rationalen Ablehnung des reifen Individuums und somit der fundamentalen unwiderrufbaren Integritätsverletzung. Ein reifes Individuum kann den Eltern zu Recht vorwerfen, durch die Beschneidung beeinträchtigt worden zu sein und hat dann keine Möglichkeit der Reparation mehr. Zu Recht wurde auch die massenhafte, international übliche Praxis der Ohrfeige verboten, auch wenn Millionen Eltern tief überzeugt waren, sie zum Wohle des Kindes auszuüben und sie das Kind auch herzlich trösteten, wenn es danach weinte. Furedi verwechselt Widerspruch und Zustimmung des unreifen Kindes gegen rationale Erziehungsmaßnahmen mit nicht (mehr) oder allenfalls begrenzt rationalen körperlichen Veränderungen, die durch das reife Individuum nur noch betrauert werden können.
Eine weitere Strategie Furedis ist, die Ressentiments nachzuweisen, die über die psychologische Konstitution der Beschneidenden kursieren. Hier ist ihm bedingungslos recht zu geben: es besteht keine zwangsläufige pathologische Konstitution der beschneidenden Individuen. Das ist auch eine Grunderkenntnis der Ritualforschung. Ein Inquisitor konnte die als Hexe gemarterte Person bemitleiden und die Folter abscheulich finden, er musste kein Sadist sein, um dennoch die ekelerregende Folter für absolut notwendig zu halten und durchzuführen. Eine Mutter kann ihr beschnittenes Kind bemitleiden, mitunter stärker traumatisiert werden als das Kind selbst, einem Mohel wird seine Arbeit zuwider sein, wenn das Kind starke Schmerzen hat oder ihm ein Fehler unterläuft. Pathologie und begriffsloses Befolgen von normativen gesellschaftlichen Erwartungen sind auf der individualpsychologischen Ebene grundsätzlich unterschiedliche Phänomene. Pathisch wird der Reflexionsausfall, sobald Reflexion eine Wahlmöglichkeit ist.
Furedi hat sich mit dieser Depathologisierungs-Strategie aber schon wieder der Kerndiskussion entzogen: Ob die Beschneidung selbst ein schädliches oder verzichtbares Ritual ist. Auch seine Argumentation bedarf der Verharmlosung der Beschneidung und des Verweises auf die massenhafte problemlose Anwendung. Vor jeder religiösen Diskussion sollte also die Frage ausführlich geklärt werden, ob die Beschneidung trotz ihrer jahrtausendelangen, religionsübergreifenden, säkularen Anwendung und trotz ihres unbestreitbaren Präventivcharakters bislang vernachlässigte Probleme aufweist, die all jene Vorteile und Partikularinteressen aufwiegen.
Ein von den Gegnern der Gegner vernachlässigtes Problem besteht im Relativismus. Für Thomas von der Osten-Sacken und andere individualistisch argumentierende Positionen (darunter meine) stellt sich primär die Frage der Integrität der eigenen Position. Wenn Aktivisten gegen weibliche Genitalverstümmelung von anderen Religionen erwarten, dass sie zentrale Rituale aufgeben, weil sie das Individuum schädigen, dann müssen wir an die mächtigen Religionen und die Jungenbeschneidung die gleichen Maßstäbe anlegen. Falls die Frage ist, ob sich meine atheistische Positionen für aufgeklärter, „zivilisierter“ als das religiöse Judentum hält: Ja. Meine atheistische, universalistische Position ist paternalistisch, ich habe aber kein Problem damit, es besser zu wissen und ich halte „das Andere“ für fähig genug, dieses bessere Wissen auch einzusehen und zu begreifen oder zumindest zu diskutieren und zu falsifizieren. Gegen – auch von Atheisten gehegte Ressentiments – werde ich das religiöse Judentum in der Beschneidungsdebatte verteidigen, wie ich es bisher – unter anderem mit theologischen Argumenten – gegen vulgäratheistische und ahnungslose Anwürfe verteidigt habe. Die Position des Atheismus aber ist avantgardistisch und muss sich nicht gegen den Vorwurf rechtfertigen, Religionen und auch die jüdische abschaffen zu wollen. Dieser Vorwurf ist wahr und banal, kritikabel wäre, wenn diese Position selbst wieder religiös oder totalitär wird, indem sie unaufgeklärte Aufklärung als unbestimmten Selbstzweck und besinnungslos praktiziert.
Der Antisemitismus hat mit der Beschneidungsdiskussion erst dann etwas zu tun, wenn zum Beispiel nachgewiesen werden kann, dass über die Beschneidung das religiöse Judentum abgeschafft werden soll. Diese Wirkung wäre nur als Absicht antisemitisch, weil die Beschneidung dann nachweislich instrumentell verwendet würde und das Ziel „das Judentum“ unabhängig von spezifischem Verhalten oder Ritus ist. Es ist aber sicher nicht die Absicht von Osten-Sacken, Boess und mir, aus lauter Bösartigkeit heraus das religiöse Judentum vor blöde Rechtslagen und theologische Zwickmühlen zu stellen, sondern diese Autoren stellen die Jungenbeschneidung in Frage, die muslimische, jüdische, afrikanische, säkulare. Tatsächlich glaubt wohl keiner der erwähnten Autoren, zumindest ich, nicht, dass das ohnehin unverbindliche, fallspezifische Urteil in absehbarer Zeit allgemeines Recht werden wird – Deutschland ist zu sehr auf Kultur, Kindergottesdienst und Kollektiv gebürstet und die Kanzlerin Merkel fürchtet schon das Stigma einer „Komikernation“. Es besteht aber die Möglichkeit, das Problem als solches gesellschaftlich zu diskutieren und aus der Selbstverständlichkeit heraus zu bugsieren. Die rituelle Beschneidung wird wohl nicht in den nächsten 100 Jahren fallen, aber vielleicht werden sich, wenn die Debatte anhält, mehr und mehr Menschen entschließen, doch etwas besser darüber nachzudenken und im Interesse ihres Kindes zumindest mehr Wissen und Beratung über mögliche Folgen einzuholen. Und mehr und mehr beschnittene Erwachsene werden aufhören, unbewusst sich selbst oder Unbeschnittene abzuwerten und besser zur Trauer um diesen verlorenen Körperteil in der Lage sein, die erfüllte Lust ohne diesen Körperteil ermöglichen kann.
Furedi schließt seinen Text mit einer Anklage:
What makes the anti-circumcision campaign insidious is not simply its intolerance of the religious freedom of others, but also its arrogant assumption that it has the right to tell other people how they should lead their lives. If I were a religious believer, I would ask: ‘Who made them God?’
Furedi, der vorgebliche Agnostiker, umgeht das Problem der Aufklärung und des Nietzscheanischen Gottesproblems. Die Arroganz des Besserwissenden ist dem besseren Wissen inhärent. Aufklärung ist arrogant, sie sagt anderen Menschen, wie sie ihr Leben besser führen sollten. Furedi beklagt das, aber er hat ein logisches Problem: Er selbst sagt Beschneidungsgegnern, wie sie sich zu äußern haben, wie sie ihr Leben zu führen haben und letzendlich befürwortet er, dass Eltern ihren Kindern auf den Leib schreiben, wie sie zu leben haben – Furedi macht seiner eigenen Argumentationsweise folgend Eltern zu Gott.
Kehren wir nach diesem Exkurs zur Kernfrage zurück: Ist die Beschneidung ein schwerer Eingriff? Fest steht bereits, dass die Befürworter eine Sprache der Verharmlosung pflegen, die für sich schon die verdrängte Schwere des Eingriffs bezeugt. Floris Biskamp in der Jungle World ist schon im Titel ganz immun gegen Schmerzen und Verlust: „Kampf der Supermänner – warum das Verbot harmloser religiöser Rituale nicht Teil einer säkularen, religionskritischen Position ist.“ Biskamp orchestriert die Verächtlichkeit des Gejammers, hier gehe es um Lappalien wie kosher essen, Cannabisrauchen oder Beethovenschallplatten rückwärts hören.
Das Mindeste, was nötig wäre, um die religiös begründete Beschneidung der Vorhaut von Jungen als einen solchen Normbruch zu kennzeichnen und ein staatliches Verbot zu legitimieren, wäre ein weitgehender medizinischer und psychologischer Konsens darüber, dass es sich bei der Beschneidung tatsächlich um eine »schwere und irreversible Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit« handelt, wie es das Kölner Landgericht behauptet. Von einem solchen Konsens kann jedoch keine Rede sein. Die in Judentum und Islam vorgenommene Beschneidung ist nüchtern betrachtet eine Unannehmlichkeit, die man den Jungen ersparen könnte, sie zieht aber bei sachgemäßer Operationshygiene und Narkose weder gesundheitliche noch sexuelle Beeinträchtigungen nach sich. Sie kann getrost unter die zahlreichen Entscheidungen eingereiht werden, die Erziehungsberechtigte für ihre Kinder treffen müssen und die deren späteres Leben irreversibel beeinflussen: Das betrifft die Ernährung, die Wahl der Schule, den Medienkonsum, die kieferorthopädische Behandlung und so weiter. Irgendwo in diesen Katalog gehört die Frage der Beschneidung von Jungen – und nicht unbedingt an die vorderste Stelle.
Er kann schlichtweg nicht nachweisen, dass diese „Unannehmlichkeit“ weder gesundheitliche noch sexuelle Beeinträchtigungen nach sich zieht, es ist zumindest umstritten. Sehr wohl gibt es Studien, die teilweise erschreckend signifikante statistische Werte für beschneidungsspezifische Missempfindungen ermitteln. Ich habe argumentiert, dass die Nichtbeschneidung in Bezug auf mögliche Phimosen ebenso zu Missempfindungen führen kann, aber das wiegt meines Erachtens das andere nicht auf. Wer die Beschneidung bewusst erlebt hat, wird sie schwerlich als „Unannehmlichkeit“ einstufen. Sie ist eine mehrminütige Operation, bei der Nervenstränge durchtrennt werden und die im traditionellen religiösen Ritus und bis vor einigen Jahren auch in der ärztlichen Praxis ohne signifikante Betäubung durchgeführt wird. Die Diskussion der Traumatisierung und Altersspezifik habe ich unten bereits diskutiert.
Betreten wir also noch einmal das medizinische Argument, weil es nicht häufig genug widerholt werden kann:
„Die Vorhaut macht rund 50 bis 80% des Hautsystems des Penis aus, je nach Länge des Penisschafts. Die durchschnittliche Vorhaut hat über 3 Fuß (ungefähr 1 m) an Venen, Arterien und Kapillaren, 240 Fuß (73 m) an Nervenfasern und mehr als 20000 Nervenendungen. Aufgefaltet misst die Vorhaut circa 10 bis 15 Quadratzoll (65 bis 100 cm²). Das entspricht ungefähr der Fläche einer Fünf-Pfund-Note.“
Natürlich nur der Fläche einer Seite einer Fünf-Pfund-Note. Die weiteren Funktionen können an jeder medizinischen Quelle nachgelesen werden, sie betreffen sowohl positive Eigenschaften der Vorhaut-Sekrete als auch eine Erleichterung des Geschlechtsaktes. Ein ausführlicher Kommentar zum Urteil findet sich auf: http://www.beschneidung-von-jungen.de/home/erklaerung-zum-koelner-beschneidungsurteil.html
Tatsächlich gelten die medizinischen Argumente den Befürwortern nichts, sie werden nicht einmal diskutiert. Man stellt sich nicht dem Widerspruch und kommuniziert eine falsche Selbstverständlichkeit. Die Vorhaut gilt konsensuell als das Böse, Schlechte, Verderbte. „Auf der faulen Vorhaut liegen“ phrasendrischt ein FR-Schreiberling, andere sehen die Welt „an der deutschen Vorhaut genesen“, allgemein wird äußerste Beziehungslosigkeit zu diesem anscheinend ungeliebten Körperteil vermittelt, ein stinkendes, winziges, hässliches Fetzchen, um das es nie schade ist.
Von barbarischer Härte geprägt sind einige Lobesreden auf die Beschneidung: Der Mann könne „länger“ oder „intensiver“ etwas leisten und bei der Frau bewirken. Er ist in diesem Argument seines eigenen Rechts auf Lust beraubt, seine Lust wird aus der Versorgung der Frau mit einer maximierten Dosis Penis abgeleitet. Wenig bekannt ist, dass die Beschneidung in den USA nicht aus hygienischen Gründen sondern aus der Anti-Masturbationsbewegung heraus gefördert wurde. Es wird noch zum Vorteil des Mannes umgedichtet, weniger empfinden zu können, und das stellt sich durchaus in eine Reihe mit der Barbarei der toughen Männlichkeit.
Auch der präventive Schutz vor Krankheiten ist ein Scheinargument. Wenn die WHO die Beschneidung empfiehlt, so ist das eher ein Zeichen von Hilflosigkeit gegenüber dem Scheitern von Aufklärung. HIV korrelliert zuallererst mit Misogynie und sexueller Gewalt gegen Frauen, dann mit Aufklärung und dann irgendwann vielleicht einmal mit der Beschneidung. Dass gerade Kritiker des Nexus „Hygiene-Staat-Macht“ auf dieses Argument hereinfallen und eine Körpermodifizierung aus hygienischem Interesse anempfehlen, ist bemerkenswert.
Die Phimose stellte früher zweifellos ein Problem dar, ist aber heute sehr gut und auch unter Beibehaltung der Vorhaut behandelbar, auch wenn aufgrund allgemeiner gesellschaftlicher Klemmigkeit wenig darüber aufgeklärt wird.
Die Ambivalenz der jeweiligen Positionen, die beide in verdrängten Sexualneid oder Kastrationskomplexen verbleiben können, wurde ebenfalls unten diskutiert.
Biskamp argumentiert allerdings so originell, dass ich ihn zu Wort kommen lassen möchte:
Während dieses Theorem davon ausgeht, dass die übertriebene Ablehnung der Beschneidung auf eine Abneigung gegen Islam oder Judentum zurückgeht, könnten auch umgekehrt die Phantasien über die Beschneidung ein Ursprung des Ressentiments gegen Juden und Muslime sein. Davon jedenfalls war Sigmund Freud überzeugt, der zu dem Schluss kam, dass der von ihm beschriebene Kastrationskomplex »die tiefste unbewusste Wurzel des Antisemitismus« sei. Durch die als Kastration fehlinterpretierte Beschneidung werde die von Jungen in der Kindheit entwickelte Angst, vom übermächtigen Vater zur Strafe für die Freude am eigenen Penis und die Begierde nach der Mutter kastriert zu werden, aktiviert und projektiv nach außen gewandt: als Verachtung, Hass und Angst gegenüber der die Beschneidung praktizierenden Religionsgemeinschaft.
Das ist im tiefenpsychologischen Kern annähernd richtig, rechtfertigt aber nicht die Beschneidung. Vielmehr wird die gesellschaftliche Gewalt, der kulturindustrielle Charakter, der religiöse Kontext der jeweiligen Antisemitismen auf den ontologischen Kastrationskomplex eingedampft und implizit die Beschneidung als Wirkstoff gegen diesen angeführt. Wahlweise bleibt das Argument der Härte: Um den Antisemiten nichts nachzugeben, sollte die Beschneidung beibehalten werden. Mit den verhandelten Rechten der Individuen hat das nichts zu tun. Freud jedenfalls ließ allen biographischen Hinweisen gemäß seine Söhne nicht beschneiden und zeitgenössische jüdische Ärzte forderten bereits mit einigem Erfolg die Abschaffung der Beschneidung. (S. „Freud, Moses und die monotheistische Religion. Ein Essay.“ Pieter van den Berg. Via Tilman Tarach)
An dieser Stelle sei auch nochmals das Comic „Foreskin Man“ erwähnt: Es ist primär ein Comic. Comics dürfen Charaktere stereotyp zeichnen, sie haben es immer getan und nicht wenige verwendeten rassistische Formen. Foreskin Man aber könnte ebenso gut jüdisch sein, wie er überarisch gezeichnet ist. Wie die Charaktere antisemitisch visualisiert werden, ist so offensichtlich, dass es schon wieder auf Selbstironie hinausläuft. Hier wird nichts im Unklaren belassen, man braucht keine „Analyse“ dafür. Erwähnt werden sollte aber, dass im Comic die jüdische Mutter ihr jüdisches Kind vor der Beschneidung beschützt sehen will und, ganz unrassistisch und progressiv auch schwarze Charaktere eingeführt werden, die zum Beispiel als „Vulva-Girl“ FGM bekämpfen. Wenn ich diese ironische Komplexität unten verkürzt habe, nehme ich das hiermit zurück. Eine naive, vom Comic unabhängige Wiederholung dieser Stereotype findet sich in der Beschneidungsdebatte allemal. Diese Stereotype werden aber nicht aufgelöst, wenn nicht die Beschneidung objektiv diskutiert wird und man dahergezauberte Fakten auch einmal überprüft.
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Nachtrag:
Ivo Bozic hat unter dem markigen Titel „Cut and Go“ in der Jungle World eine ebenfalls recht originelle Strategie eingeschlagen. Studien gebe es auch zu hunderten über Mobiltelefone (auch über Antisemitismus oder Passivrauchen, wie wir wissen), daher müsse man sich keine wissenschaftliche Meinung bilden, sondern irgendeiner natürlichen Vernunft lauschen. Die äußert sich dann so:
dass bei der Beschneidung, nur ein paar Zentimeter Haut entfernt werden, was, selbst wenn man allen kritischen Studien glaubt, in der Regel ohne Folgen bleibt, während operative Eingriffe zur Vereinheitlichung des Geschlechts Einfluss auf das gesamte Leben der Betroffenen haben.
Das ist erstmal kein Argument, sondern mindestens 3. Erstens, dass „operative Eingriffe zur Vereinheitlichung des Geschlechts Einfluss auf das gesamte Leben der Betroffenen haben„. Unbestritten. Das wurde aber im konkreten Urteil nicht verhandelt und hier das eine gegen das andere auszuspielen macht wenig Sinn, aber mächtig Stimmung.
Dann wieder die Verächtlichmachung der elenden Vorhaut: „nur ein paar Zentimeter Haut„. Bozic weiß es ja nicht so genau, ist es die Eichel oder doch die Vorhaut, die wichtiger sind und deshalb kann es ja nicht so schlimm sein. Es sind 60-100 cm² Penishaut, die in einer Operation zur Zeit meistens ohne Narkose entfernt oder am Entstehen gehindert werden. Ich weiß natürlich, dass man ohne leben kann und auch ein einigermaßen erfülltes Sexualleben genießen kann. Vielleicht weiß es auch Ivo Bozic. Zahlreiche andere erinnern sich mit Unmut und lieber nicht an ihre Beschneidung und viele, die sich nicht erinnern, haben dennoch Probleme damit. Was ihre Sache eigentlich mit jener der Geschlechtsumwandlungen vereinen sollte.
In einem Argument sieht er meinem vormals stärksten Argument für die Beschneidung gleich:
Dass acht Prozent aller Männer weltweit mit Phimose, einer krankhaften Vorhautverengung, zu kämpfen haben, ist Gegenstand ungezählter Untersuchungen, die Folgen körperlicher Art sind nachgewiesen und unbestreitbar.
Auch dieses Phänomen ist mir recht gut bekannt. Man braucht aber zur Entkräftung keine wissenschaftliche Studien, weil es Faktenwissen ist, dass die Phimose fast immer ohne Operation behandelt werden kann und heute nur in wenigen Ausnahmen der verbleibenden Fälle (z.B. Lichensklerose) eine komplette Beschneidung erforderlich ist, weil vorhauterhaltende operative Techniken entwickelt wurden.
Dank seiner lapidaren, wurstigen Behandlung von wissenschaftlichen Fakten, bei denen man halt alles nicht so genau wisse, trägt Ivo Bozic wie schon Floris Biskamp und Filipp Piatov zu seiner schlimmsten Befürchtung bei, dass nämlich die ganze Diskursblase darum herum ganz furchtbar werden wird.
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Nachtrag 2: Das schwer widerlegbare anatomische Argument kann auf zahllosen Seiten aufgerufen werden, so zählt stichwortartig die Seite http://www.circumstitions.com/Functions.html 16 biologische und 6 artifizielle Funktionen der Vorhaut auf. Bemerkenswert ist, dass sich durch alle Bildungsschichten, auch in intellektuellen und gut informierten Kreisen, mich bis vor zwei Wochen eingeschlossen, das Vorurteil gehalten hat, die Vorhaut sei überflüssig und praktisch schon totes, zum Abschneiden prädestiniertes Gewebe. Wer es gern audiovisuell mag, wird hier ein wenig Aufklärung finden:
http://www.youtube.com/watch?v=D_dzeDvx2QA&feature=player_detailpage
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Nachtrag 3:
Die gesamte Trilogie zur Beschneidung auf Nichtidentisches ist über folgende Links abrufbar: