„Never again“, „Singularität“ und andere pathische Ideologeme

Einer der banalsten Sätze Adornos, der auf die eigene Banalität schon reflektiert, ist „Den­ken und Han­deln so ein­zu­rich­ten, dass Ausch­witz nicht sich wie­der­ho­le, nichts Ähn­li­ches ge­sche­he.“ Aus diesem Satz wird gerne ein „Imperativ“ gemacht, auf den man sich berufen muss, als könne es das eigene Denken eines jeden nicht selbstständig ohne Nennung des großen Namens zustande bringen. Erneut sei erwähnt, dass es sich nicht um den „kategorischen Imperativ Adornos“ handelt, wie häufig in Unkenntnis des Textes die Phrase gedroschen wird, sondern dass Adorno diesen Imperativ als einen von Hitler der Welt aufgezwungenen benennt. Adornos explizit nicht philosophischer Satz zeichnet kein hohes Abstraktionsniveau aus, sondern das Einfachste.  Keinerlei Bildung oder Ausbildung sollte es bedürfen, um einen solchen Schluss aus der Erfahrung der Shoah zu ziehen. Ihn affirmativ zu zitieren ist ähnlich dümmlich wie eine Definition von Freiheit aus dem Lexikon zu zitieren oder einen wunders was großen Philosophen zur Benutzung eines Alltagsgegenstandes herbeizurufen. Das Zitat verweist vielmehr auf einen rituellen Charakter einer Beschwörung, als könne die Nennung schon ein allgemeines Bewusstsein schaffen, das zur tatsächlichen Verhinderung beitrage.

Ähnlich verhält es sich mit der vielberufenen „Singularität des Holocausts“. Dass sich hier etwas grauenvoll Besonderes, ein für allemal Hervorstechendes ereignete, merkten auch und gerade die Ungebildeteren. Gegen Leugner und Relativisten war diese Phrase als Therapeutikum angedacht. Den Eliten heute dient der zur Phrase geronnene Satzbaustein  eher zur Verblindung gegen tatsächlich Besonderes gegenüber Ähnlichem und Anderen und als immunisierenden Merksatz zum getrosten Weitermachen wie bisher.

In einem Artikel über Rwanda schrieb ich:

Jegliches Kategorisieren und Vergleichen droht angesichts der absoluten Barbarei in Rationalisieren abzugleiten. Auschwitz wird sich nicht wiederholen, es hat sich nie wiederholt und es war immer schon ein Teil eines noch größeren Grauens.
Dass jedoch nichts irgend Ähnliches geschehe ist gleichsam der Kern des von Adorno nur mühsam ausformulierten kategorischen Imperativs der Menschheit nach Hitler. In Ruanda zeigten moderne Demokratien zum wiederholten Male, dass sie nicht in der Lage noch Willens sind, Völkermorde zu verhindern. Jedes Fazit erübrigt sich.

Dieses Ähnliche geschah zu oft, als dass man sich die Nichtbeschäftigung damit mit dem Verweis auf die Singularität von Auschwitz erspart. Dieser Singularitätsfetisch führt letztlich dazu, dass Todeslager wie Sobibor oder die Massenerschießungen im weiteren Osten nicht mehr als Teil der industriellen Vernichtung gedacht werden, die Auschwitz zum Inbegriff des Grauens – und selbst dieses Wort ist zu schwach für das Namenlose – machte. Paradox gegen die „Singularität“ steht die vollmundige Forderung „Never Again“, die von Überlebenden vorgetragen noch äußerstes Recht hat, 2010 aber nur noch abgeschmackt klingt. Auschwitz konnte sich nicht wiederholen. Ähnliches hat sich  zu oft ereignet: In Kambodschas Lagern, in denen Millionen von Intellektuellen und Städtern  tatsächlich dem gleichen Prinzip der Vernichtung durch Arbeit ausgesetzt waren, das in Deutschland nicht erst ersonnen wurde und auch im jungtürkischen osmanischen Reich schon als instinktives Verfolgungswissen gegen Armenier verwendet wurde. In Litauen wurden 95% der Juden von einer hasszerfressenen Gemeinde an Ort und Stelle ermordet. Sehr Ähnliches geschah in Ruanda, wo Nachbarn zu Mördern wurden und nun Überlebende mit Mördern Tür an Tür auskommen müssen. An der Weiterentwicklung von Techniken der Folter und dem Verschwindenlassen, die in Südamerika genozidale Diktaturen prägte, hatten geflohene Nazis entscheidende Anteile. In Asien bedurfte es keiner Nazis, um die gleichen Techniken zu erfinden und zu verfeinern. Allen Opfern schlägt das zuallererst identitäre „Never again“ ins Gesicht. Die magische Formel ist ein neurotisches Prinzip, das Realität durch Wiederholung des Spruchs abdrängen will. Der Satz dient nicht mehr dazu, mahnend an den Holocaust zu erinnern und ihn erst ins Geschichtbild zu rücken, sondern er hat die fatale Konsequenz, das inzwischen geschehene Ähnliche auszuklammern, als sei es nie geschehen. Die Parole ist nur der Gärschaum eines ganz unreflektierten Wunsches nach dem Gutseinkönnen. Wo sie erklingt, muss man sich die ernsthaftesten Sorgen machen, dass hier keinerlei echte Widerstandskraft zu erwarten ist, die über die Parole hinaus zu handeln und zu denken weiß.

Der Lügenbolzen

Norbert Bolz, von Beruf Vorzeigeintellektueller, hatte einst nach jahrelanger Kommunikationsforschung Überraschendes festgestellt:

„In der von den Massenmedien formatierten Öffentlichkeit ist Kritik durch Moralisierung ersetzt worden: Zwischen den Polen Lob und Tadel wird das Nachdenken eingespart, in Feuilletons und Talkshows wird längst nicht mehr diskutiert, sondern nur noch emotionalisiert.“

Ein detailreicher Befund, der anscheinend nicht unbedingt zur Umsetzung im eigenen Gerede führt. Sein neuester Gimmick ist ein Artikel in der Tageszeitung mit dem Titel „Linke Lebenslügen“. Gar nicht emotionalisierend wird der Titel mit einer Kopftuch tragenden Frau illustriert, die am Schild „Kottbusser Tor“ vorbeiläuft. Ob hier eine Selbstmordattentäterin auf dem Weg zur Arbeit abgebildet ist oder eine Kommunikationswissenschaftlerin mit Stipendium vom Goethe-Institut kann man nicht so genau sagen  – die Unterschrift suggeriert jedenfalls, hier gebe es laut Norbert Bolz keine Linken. Stattdessen gibt es da Fremde, schlimmer noch, Fremde, die nicht von hier sind und das führt Bolz zu seinem Ziel: Einer „Integrationsdebatte“.

Selbst wenn es eine solche Integrationsdebatte tatsächlich gäbe, man müsste befürchten, die Kritik daran in einem Zitat von Adorno/Horkheimer aufgehen lassen zu können:

„Das Wunder der Integration aber, der permanente Gnadenakt des Verfügenden, den Widerstandslosen aufzunehmen, der seine Renitenz herunterwürgt, meint den Faschismus.“ (Adorno/Horkheimer DdA 138)

Bolz entspricht in seinem narzisstisch verplombten, autoritären Charakter voll und ganz dem Verfügenden aus dem Zitat. Sein Urteil blendet zwangsläufig jegliche faschistoide Tendenzen aus, die er so sehr selbst vertritt:

„Dass es hier keine Fortschritte gibt, liegt nicht an den Dummen und Ewig-Gestrigen, die man an den Stammtischen vermutet, sondern an den Linken.“

Bolz muss erst gar nicht nachweisen, ob eine Relevanz einer „linken“ Position zur Integration überhaupt je in irgendeiner Gesetzgebung gegeben war. Er denkt in seiner Schlafmützigkeit ja selbst noch in Kategorien wie „rechts“ und „links“. Auch eine emische Entfaltung dieser Etiketten müsste schlüssig machen, dass Kulturalismus, Ethnozentrismus und eine verquere Toleranz tatsächlich der „Linken“ bevorzugt eigen wären. Diese Ideologeme prägen allerdings nicht minder die nationalistischen und islamistischen Bewegungen, die Toleranz vor allem für die eigene und fremde völkisch-bornierte Barbarei markieren wollen. Eine Arbeit an Gegenständen interessiert Bolz aber auch gar nicht, er will ja als Mythenzertrümmerer in die Geschichte eingehen:

„Erstens: der Mythos der Ausländerfeindlichkeit. Kranke Hirne unter Glatzen, Springerstiefel und Kampfhunde gibt es überall in der Welt. Aber diese Verrückten, für die wir in Deutschland aus historischen Gründen natürlich besonders sensibel sind, sollten doch nicht den Blick dafür trüben, dass wir in einem der ausländerfreundlichsten Länder leben“

Auch das muss der „Wir in Deutschland“ – Wissenschaftler nicht belegen. Er könnte es auch nicht, es ist nämlich schlichtweg falsch. Deutschland ist weder „besonders sensibel“ geworden, noch „eines der ausländerfreundlichsten Länder“. Wovon überhaupt? Der Welt? Wohl kaum. „Ausländerfeindlichkeit“ sei selbst gar ein „Mythos“: so trinkt Bolz sich Deutschland schön. Dabei erspart sich der Wissenschaftler nicht einmal die billigsten Platitüden, um größere gesellschaftliche Gruppen zu bauchpinseln:

„Denn fast jeder, der ein schulpflichtiges Kind hat, fängt an, vernünftig zu werden.“

Dicht beschrieben ist das wahrlich nicht. Fairerweise muss man notieren, dass Bolz wenig Zeit hat. Er muss, nachdem er mit einem im Stahlbad der Fakten und Argumente gehärteten Hammer den ersten Mythos siegreich zertrümmert hat flugs zum nächsten Mythos eilen:

„Zweitens: der Mythos des Multikulturalismus. Zwei Schlagworte markieren die festgefahrene Integrationsdebatte: „Multikulti“ auf der Linken und „Leitkultur“ auf der Rechten. Multikulturalismus ist das Fazit einer mit dem Kolonialismus des 19. Jahrhunderts beginnenden Selbstkritik des Westens, die das Abendland als einen Schuldzusammenhang konstruiert, aus dem uns nur „die Anderen“ erlösen können.

Aber dieser Multikulti-Kult der guten Anderen ist so undialektisch wie die Gegenparole „Leitkultur“. Am Multikulturalismus ist wahr, dass wir die Anderen brauchen. An der Leitkultur ist wahr, dass wir die Anderen nur anerkennen können, wenn wir unserer Toleranz eine Grenze setzen. Nur wer selbstbewusst ist, kann auch offen sein. Wer keine eigenen Werte zu verteidigen hat, kann auch nicht tolerant sein. Wahrer Multikulturalismus setzt eine Leitkultur voraus.“

Würde Bolz die „Anderen“ nicht „brauchen“, wäre der ganze Utilitarismus perdu, der seinen Pseudo-Liberalismus noch am Leben hält. Doch dazu später. Es steht noch ein Stein vom Mythos, der „Deutschenhass“:

„Es ist eigentlich eine ganz selbstverständliche Erwartung, dass Einwanderer sich mit dem Land ihrer Wahl identifizieren. Dass Linke ein solches Bekenntnis zu Deutschland nicht erwarten, ja geradezu verabscheuen, liegt an ihrem pathologischen Verhältnis zum Patriotismus. Gerade hinter ostentativer Ausländerfreundlichkeit versteckt sich oft nichts anderes als Deutschenhass.“

Wie „selbstverständlich“ diese Identifikation ist, bezeugen zahllose Austreibungen und Genozide, Pogrome und Mordbrennereien gegen Einwandernde: Chinesen in Indonesien, Nigerianer in Ghana, Ghanaer in Nigeria, Simbabwer in Südafrika, Zigeuner auf der ganzen Welt, Juden auf der ganzen Welt außerhalb Israels,  Palästinenser im Libanon und überhaupt Ausländer in Europa. Was an der Ablehnung von einer dümmlichen Ideologie für Ich-Schwache, dem Patriotismus, sowie einem Hass auf deutsche Patrioten pathologisch sei verschweigt Bolz – er will ganz unemotionalisierend das patriotische Nationalgefühl seiner prospektiven deutschen Leserschaft abernten. Und denen kann er dann auch mit viel Preisnachlass etwas Elitenduldung verkaufen:

„Drittens: der Mythos von der Unmenschlichkeit des ökonomischen Arguments. Wer heute nicht sieht, dass Deutschland Einwanderer braucht, ist einfach ignorant. Die Frage ist nur: welche? Dass an deutschen Universitäten brillante Köpfe aus dem Ausland ausgebildet werden, denen nach Studienabschluss dann Arbeit und Aufenthalt verweigert werden, ist natürlich ein Schildbürgerstreich. Wir brauchen Kinder und Inder. Vor produktiven Immigranten, die sich mit Deutschland identifizieren, hat niemand Angst.“

Würden sie sich tatsächlich wie Bolz mit Deutschland identifizieren, wäre Grund genug zum Fürchten – meistens fürchten sie sich selbst genug vor den täglich ausgespuckten Drohungen, der Toleranz demnächst Grenzen zu setzen. „Schildbürgerstreiche“ treffen die Schildbürger, was an Elend von derzeitigen Regelungen bei den tatsächlich Betroffenen angerichtet wird ist Bolz in seiner pathologischen Germanomanie schlichtweg unzugänglich.

„Die Akzeptanz der Einwanderer hängt daran, dass die Immigration nicht als Invasion erscheint. Der Eindruck der Invasion entsteht am leichtesten bei Wirtschaftsflüchtlingen und beim Nachzug von Großfamilien. Natürlich muss Deutschland stets politisch Verfolgten Asyl gewähren; aber die Kriterien dafür sollten dem gesunden Menschenverstand nachvollziehbar sein.“

Nicht nachvollziehbar sind die Kriterien für Bolz, wenn Flüchtlingswellen den Deutschen als Invasion erscheinen. Nachvollziehbar sind für Bolzens gesunden Menschenverstand wohl so zwei bis dreitausend Flüchtlinge pro Jahr, die dann aber gefälligst sich fügen und baldmöglichst wieder zurück zu ihren Großfamilien sollen. Das „natürlich“ ist schon Verrat an der langen Geschichte des Asylrechts, das erst erstritten werden musste, bevor es weitgehend abgeschafft wurde und daher eine gar nicht „natürliche“ Errungenschaft ist. Was für Bolz gar nicht geht: Wenn Leute die Chancengleichheit nicht nutzen und einfach zu „Wirtschaftsflüchtlingen“ mutieren, die also keine echten Flüchtlinge sind, sondern stinknormale Hungerleider ohne 66 000 € Jahreseinkommen. Und die werden zu Opfern gemacht, wenn man ihnen was zu Essen gibt:

„Der Wohlfahrtsstaat erwartet nicht, dass man etwas für sein Leben tut – und die Medien dokumentieren, dass man nichts für sein Leben tun kann. Gleichzeitig weiß jeder, dass er sich auf die Humanität unserer Gesellschaft verlassen kann, die ihm – zumindest materiell – ein halbwegs menschenwürdiges Leben ermöglicht. Insofern macht der Wohlfahrtsstaat die Betroffenen, die seine Profiteure sein sollten, zu seinen eigentlichen Opfern.“ (Bolz 2009)

Von was für einem Wohlfahrtsstaat und welcher Verlässlichkeit und welchen Medienbotschaften Bolz hier halluziniert, bleibt unbekannt. Der Wissenschaftler hat sich jedenfalls definitiv nicht mit deutschen Medieninhalten auch nur annähernd hinreichend befasst. Wer dazu Menschenwürde schon zum „halbwegs“ teilt und das dann noch als generöse „Humanität“ regelrecht anprangert, hat sich schon zu dem Formstahl gemacht aus dem auch NsdAP-Soziologen geschmiedet wurden. Bolz gliedert sich entsprechend ein, macht sich nützlich und schmeißt eine zünftige Überraschungsparty für alle, die er noch nicht ausgesiebt hat:

„Deutschland bekommt die Leute, die es braucht. Und die, die dann kommen, sind herzlich willkommen.“ (Bolz 2010)

Schön, dass der chancengleich im Lande geborene Grenzwissenschaftler Bolz das auch so gönnerhaft rüberbringen kann. Was mit den Übrigen geschehen soll, formuliert Bolz gar nicht erst aus, weil jedem ohnehin klar ist, was der derzeitige Usus vorsieht: Ausschaffen, ins Meer treiben oder an Ort und Stelle verhungern lassen.

Bolz, Norbert 2010: „Linke Lebenslügen.“ In: Tageszeitung: http://www.taz.de/1/politik/deutschland/artikel/1/linke-lebensluegen/

Bolz, Norbert 2008: „Modernes Leben – Geistiger Selbstmord.“ http://www.focus.de/kultur/leben/modernes-leben-geistiger-selbstmord_aid_299051.html

Bolz, Norbert: „Irgendwas kann man immer werden.“ http://www.wiwo.de/lifestyle/irgendwas-kann-man-immer-werden-397894/

District 9 – Kritik vom Feinsten

Subversion ist innerhalb des Systems der Kulturindustrie nur als Konterbande möglich, wie auch Ideologie selbst als Schmuggelware gerade den realistischsten Dokumentationen aufsitzt. (Vgl. Adorno 1963, S. 60)

Neil Blomkamp und die nicht unleserliche Handschrift Peter Jacksons im Film  District 9 denunzieren im Stil des populär gewordenen Mockumentary-Genres den Realismus. Dieses Genre bleibt nicht Effekt, es wird dialektisch mit seinem Antagonismus, dem Hyperrealismus der Animationen vermittelt. Der Grad der tatsächlichen dokumentarischen Recherche enträt der bekannten Formel von Form und Inhalt, die man sich  scholastisch als siamesische Zwillinge vorzustellen beliebt. Der Wahrheitsgehalt der Bilder hängt nicht von der jeweiligen imitierten Form ab, sondern erschließt sich aus einem Übergewicht des mittels Erfahrung aufzuspürenden Inhalts. Die Darstellung der nigerianischen Bande ist sowohl eine dem Märchen entlehnte Figur der Räuber, die für die Vermittlung zwischen Zivilisation und Wildnis zuständig sind, als auch eine  glaubhafte Darstellung der Möglichkeiten. In anderen Filmen wird diese Karte für exotistisches Blendwerk gespielt. In District 9 wagt man es, über die Fiktionalisierung eine Kritik  zu leisten, die idiosynkratischeren Geistern rasch als rassistisch gilt. Die Kritik gilt der afrikanischen wie auch der kolonialistischen Epistemologie. Auf welchem Wege ist die Aneignung von Wissenschaft, von gänzlich äußerlichen Technologien denkbar? Für die bürgerlich-imperialistische Gesellschaft ist die expansive Kolonisation des Anderen der gangbarste Weg: Experimente mit zu Sachen gedachten Individuen, die Vivisektion, die Kolonisation und absolute Kontrolle der Körper – geschützt mit dem Argument, das Michel Foucault in einem seiner genialeren Momente als „Biomacht“ kritisierte (wenngleich nicht analysierte).

Die „nigerianische“ Lösung, das Aufessen der Machtsymbole, die Inkorporation ins Organische, ist zugleich die Misere des afrikanischen Kontinents: Die Abstraktion und Akkumulation von Wissen erscheint unmöglich, wo der gesamte wissenschaftliche Prozess räumlichen Disjunktionen unterliegt – er findet als ökonomisch vermittelter zu mehr als 90 % in Europa, Amerika, Asien und Israel statt. Mit den gigantischen Krisen, die Afrika seit der Entkolonisierung heimsuchten, entstand ein ausgeprägtes Analphabetentum, das ideologische Geflechte produzierte. Die Konfrontation mit arbeitsteilig und durch Schrifttum akkumuliertem Wissen, genauer gesagt, mit dessen dinglichen Effekten, den Waren, verläuft ambivalent als Bewunderung und Schrecken. Die Weißen würden ihre Hexereikraft für positive Dinge nutzen, etwa um Mobiltelefone herzustellen, lautet ein verbreitetes Ideologem. In der Verzweiflung über den verbauten Zugang zur Wissensgewinnung wird die Bricolage mächtig: Die Methode folgt der Intuition, die Form des Wissens – der Code und das Geheimnis – gilt schon als dessen Inhalt. Das aus der Psyche hervorsteigende Begehren, mit dieser technologischen Macht identisch sein zu wollen, wird als orales zur gleichsam schlüssigen Methode der Erforschung des Anderen. Das Verspeisen eines außerirdischen Armes würde dessen Macht übertragen. Das Denken wird als Sehen gedacht – Sehen in eine Welt, in der alle Informationen schon fertig abrufbar sind. So sind es die Seher und Orakel, die in District 9 ihre berechtigte Rolle als bedeutende Institution im südlichen Afrika haben. Ihre Hybris wird ebenso tief gestürzt wie jene der vom Individuum abstrahierenden Wissenschaftler. Darin liegt der unschätzbare subversive Wert von District 9. Er instrumentalisiert weder die exotistischen Bilder, noch übt er Aufklärungsverrat – er bleibt negativ. Zutiefst ernsthaft lässt er sich auf das weitläufige Phänomen der Muti-Morde in Südafrika und Nigeria (u.A.) ein, (vgl. Niehaus 2001) ohne die Parallelen zu kolonialistischen Körperausweidungen und Menschenversuchen aus den Augen zu verlieren. Die Rainbow-Nation, das Ideologem des multiethnischen Südafrikas, wird aufs gründlichste auf ihren Ist-Zustand hin demontiert. Dieses hat sich bereits während der ersten Wahlen in der „Black-to-Black-Violence“ zerfleischt. Hexenjagdopfer, Frauen, weiße Farmer sind weitere tägliche Opfer der unterirdischen Nachbeben einer grotesk fehlgeschlagenen Aufklärung. In den Pogromen gegen Einwanderer und Flüchtlinge vor allem aus Simbabwe kam nicht das erste Mal ein afrikanischer autoritärer Charakter zu sich, der auch nicht erst in den Townships genährt wurde. Diesen autoritären Charakter zeigt District 9 als beidseitiges, universales Phänomen. Ob nun der weiße Wikus sadistisch kichernd die Eier der Aliens sabotiert oder ob die Afrikaner auf der Straße ihrem  ganz bodenständigen Austreibungswunsch Luft machen – der ganze Brei sieht von allen Seiten gleich frustrierend aus. Von daher ist District 9 die Impfung gegen jene schwülstigen, romantisierenden Anti-Apartheid-Produktionen wie „Goodbye Bafana“ und gegen den Fussballtaumel der Weltmeisterschaft – nicht sehr entfernt ähnelt das Raumschiff übrigens einem Stadion. District 9 kritisiert das rassistische Potential noch einer komplett gemischten Gesellschaft, die in der Akkumulation von Verfolgungswissen fortgeschrittener und auf demokratische Bedingungen hin verfeinerter ist als die frühen rassistischen, diktatorischen Regimes. Mehr noch: In der Darstellung einer depravierten Klasse von Aliens verweigert er den Unterdrückten den ihnen so oft unterstellten Heroismus. Ihre potentiell gigantische Waffengewalt bleibt fruchtlos, weil kein revolutionärer Geist sich gebildet hat, der das notwendige Moment des Widerstandes gegen den Austreibungswunsch ist. Einzige sparsame und dadurch um so eindrücklichere eskapistische Momente bilden die distanzierte Liebe zur idealisierten und sexuell überlegenen Frau, die mimetische Anverwandlung ans Andere und die Emigration der beiden einzigen Intellektuellen.

Literatur:

Adorno, Theodor W. 1963: „Fernsehen und Bildung.“ In: Erziehung zur Mündigkeit. Frankfurt a.M., Suhrkamp Verlag.

Niehaus, Isak 2001: „Witchcraft, Power and Politics. Exploring the Occult in the South African Lowveld.“ London, Pluto Press.

Blomkamp, Neill 2009: „District 9.“

Blomkamp, Neill 2009: „Alive in Joburg.

Dem Rambo sei Gsicht

„Rambo zeigt sein Gesicht“ prollt es vom Fronttransparent der S21-GegnerInnen und von der taz-Titelseite. Im Fernsehen zeigen gealterte ErstdemonstrantInnen ihre Freude darüber, Mappus als „Rambo“ identifizieren zu können: „Des isch ein Rämbo, ein Rämbo isch des!“

Das Glückgefühl, das unheimliche Bedrohliche in einem Wort gebannt zu sehen, ersetzt den DemonstrantInnen jede weitere Denkarbeit. Rambo, das ist das Böse, das Feindliche, die Aggression, die sie selbst nur mühsam ihm Zaum halten, der Amerikaner – Gegen Rambo sein heißt gut sein. Fern der diskutablen Qualität ihrer Anliegen muss den StuttgarterInnen Stupidität konstatiert werden. Wären sie Revolutionäre, John J. Rambo wäre ihr Idol, nicht ihr Feindbild. Er, der langhaarige Hippie, wird schließlich in „First Blood“ von Polizisten gefoltert und probt dagegen den Aufstand, indem er einer spießigen amerikanischen Kleinstadt die Quittung für ihre xenophobe Beschränktheit präsentiert. In „First Blood II“ sieht er sich mit einem Komplott der Regierung konfrontiert, gegen das er obsiegt. In „Rambo III“ ist es ein folternder Sowjet-Offizier, den er in Afghanistan herausfordert. In „John Rambo“ zerlegt ein gealterter Haudegen die Infanterie der burmesischen Todesschwadronen und bringt den Rebellen Waffen. In jedem Film finden sich Matritzen des Machtmissbrauchs, keine wird von John J. Rambo vertreten, alle von ihm angegriffen. Das muss zumindest ein Teil der Demonstrierenden wissen – es liegt daher nahe, dass sie sich schon unbewusst mit dem Prinzip identifizieren, gegen das John J. Rambo antritt. Sie hausieren mit ihrem Konformismus, und dieses Hausieren wird nur verstärkt durch das Missverhältnis von Aufwand und Gegenstand.

Während die Streiks in Frankreich als „Chaos“ denunziert werden – sie sind mehr als alles andere die geordnete Organisation der Bürger – gehen die Kleinbürger im benachbarten Landstrich gegen einen Bahnhofs-Neubau auf die Straße. Der Satiriker Harald Schmidt spießte präzise aus, was er am Protest verachtenswert findet: Dass diese Leute stolz darauf sind, zum ersten Mal in ihrem Leben demonstrieren zu gehen. Sie tolerieren, dass Ghaddafi Milliarden für die Flüchtlingsbeseitigung zugeschoben bekommt. Sie dulden oder befördern Abschiebungen. Die Rente mit 67 wird geschluckt, ebenso alle milliardenschweren und sinnlosen Subventionen für Zuckerrüben, Mais, Weinbau, Viehzucht und sonstiges Agrobusiness, das die afrikanische Landwirtschaft in den Ruin treibt. In Baden-Württemberg bekommt jedes Schlafzimmer seine Umgehungsstraße und ein eigenes Gewerbegebiet mit Autobahnzubringer, Atomkraftwerk und Flughafen – im Zweifelsfall auch gerne im Hochmoor. Wenn im niedersächsischen Gorleben oder in der Asse Milliarden beerdigt werden für den schwäbisch-badischen Atommüll, demonstriert nur ein winziger Bruchteil der StuttgarterInnen. Sie haben die Relationen aus den Augen verloren – ihre dümmliche Identifizierung von John J. Rambo und Mappus ist nur ein weiterer Ausdruck dessen.

Siehe auch:

„Rambology – mit John J. Rambo durch die Dialektik der Aufklärung“

„Der Sohn von Rambow – Rezension“

„Dei Mudder sei Gsicht“ (Eine Alternativproduktion zur Kritik schwäbischer Disintegration in die Moderne)

MdB auf Dialogbereitschaft

vielen Dank für Ihre Mail.

In der Tat wird es in der kommenden Woche eine Delegationsreise des Unterausschusses Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik in den Iran geben. Diese Reise steht keinesfalls im Gegensatz zum gemeinsamen Interesse der SPD-Bundestagsfraktion, des Bundestages und der Bundesregierung, auf die Umsetzung der UN-Sanktionen durch den Iran zu beharren.

Wichtig dabei erscheint mir jedoch, dass weiterhin eine Dialogbereitschaft signalisiert wird. Der Kultur- und Bildungsbereich ist m.E. dafür sehr geeignet – insbesondere, wenn Verhandlungen im „politischen“ Bereich ins Stocken geraten.

Eine Aufwertung der iranischen Führung ist demgegenüber durch den Besuch in keiner Weise weder beabsichtigt noch gegeben.

Mit herzlichen Grüßen

Ihre Eva Högl

E-mail vom 14.10.2010

Peter Gauweiler, Eva Högl und noch einige andere MdBs dialogisieren demnächst also im iranischen „Kultur- und Bildungsbereich“.  Was dabei herauskommen soll, ist schon klar: Man spricht von der „iranischen Führung“ und nicht von Regime oder Diktatur. Man wertet die impertinenten Drohungen Ahmadinedschads zu „Verhandlungen“ auf, die „ins Stocken“ geraten seien – als habe es je ein einziges positives Ergebnis dieser Farcen gegeben. Man will „weiterhin Dialogbereitschaft“ zeigen – als sei das keine Aufwertung des islamistischen Regimes, das mitnichten mit seiner demokratischen Opposition „verhandelt“, sondern sie in Folterkellern verschwinden lässt.

Die letzte Tapferkeit

Es verwundert immer noch mehr: Sarrazin musste Amt und Würden hinter sich lassen. Menschen, die intellektuell Lichtjahre hinter seinem verquasten Kork zurückbleiben, bleiben Parteivorsitzender, Ministerin, Parteisekretär. Seehofer, Gabriel und Schröder wuchteten sich zuletzt prominent und ungeniert ins Licht der Öffentlichkeit. Alle drei gerieren sich gerne als sozialer Flügel der jeweiligen Partei. Aus den in Wirklichkeit von den liberalen Grünen angefressenen Parteien SPD und CDU/CSU war wiederholt Angst vor einer „rechten“ Konkurrenz zu vernehmen.

Die in letzter Zeit häufiger geäußerte Drohung, die CDU würde keine Partei rechts von der CDU erlauben, gibt allen Grund zur Unruhe. Rechts und links sind untaugliche Spielmarken, die dringlichst durch ihr jeweils gemeintes – faschistisch, konservativ-demokratisch, liberal, kommunistisch, stalinistisch, sozialdemokratisch, etc.  – ersetzt werden sollten. Tatsächlich lässt sich in allen Parteien ein staatsmonopolistischer und ein liberaler, ein antisemitischer und ein proisraelischer, ein völkischer und ein weltbürgerlicher, ein faschistischer und ein demokratischer Flügel finden. Die Unreinheit der Begriffe links und rechts lässt jedoch gerade Rückschlüsse auf das zu, was die CDU als rechts von sich befindlich ansieht und aufzufangen plant: die nationalsozialistische Position. Diese ist es, die Seehofer einnimmt, wenn er im Jargon Goebbels zur „letzten Tapferkeit“ im Kampf gegen vermeintliche Müßiggänger aufruft, denen das Existenzgeld und wohl noch die letzte Garantie, die sie noch haben, die Nahrungsmittelgutscheine zu streichen sind –  die also im industriellen Stande der paradiesischen Überproduktion ausgehungert werden sollen. Der Schlag nach unten passt zum Schlag nach außen. Wenn er über unverträgliche Kulturkreise spricht, meint er nicht die Troglodyten in bayrischen Vororten, die immer noch gern ihren Kaiser oder den Adolf wieder hätten. Seehofer attackiert einen diffusen Raum, der nicht das Extrem des Fremden ist, sondern den Beginn des Fremden, das eigentlich Verwandte markiert – der Orient. Im Prinzip vollzieht er das, was Sarrazin vorgeworfen wird: Rassismus. Die Herkunft aus einem Kulturkreis ersetzt rhetorisch das Gen und aus dieser Herkunft soll die Ausgrenzung geschlossen werden. Schröder wiederum nutzt die Gunst der Stunde und plätschert gegen „Deutschenfeindlichkeit“ in Schulen – ein ähnlich strukturiertes Konstrukt wie die „Islamphobie“. Eine winzige Sparte des Mobbings in der Schule, das sich an Akzidentiellem aufreibt und strukturell eher homophob als rassistisch ist, wird zum neuen Popanz eines drohenden Untergang des Deutschtums.

Die Maßnahmen sehen sich jeweils gleich: staatliche Zwangsmaßnahmen am Rande des Totalitären  (Kindergartenpflicht – als würde dort Aufklärung garantiert), Abschiebung, Einwanderungsstop.

Dringend nötig ist es, gegen die medial zurechtkastrierten Drei-Sekunden-Kommentare der Opposition, die Fakten zu klären. Einwanderung aus Nicht-EU-Staaten ist bei genauerer Betrachtung so gut wie unmöglich. Niemand kann aus dem sogenannten „arabischen Kulturkreis“ einfach so mit Sack und Pack einwandern und Deutscher werden. Flüchtlinge werden weitgehend durch die Dritt-Staaten-Regelung abgefangen. Eine Aufenthaltserlaubnis gilt ohnehin nur noch sechs Monate. Bleibt die Niederlassungserlaubnis. Die erhalten nur Menschen mit Arbeit, Wohnsitz, Deutschkenntnissen, Integrationstests und einem mehr als fünfjährigen Aufenthaltsowie einer langjährigen Beschäftigung in Deutschland. Was also von Seehofer eingefordert wird, ist ohnehin längst Gesetz: Es gibt keine effektive Einwanderung. Es gibt  lediglich ein marodes Asylrecht, das noch dazu durch Auslegungen untergraben wird. Und es gibt die für die Türkei nicht unbedingt randständige Möglichkeit, Menschen aus Nicht-EU-Staaten zu ehelichen und nach Prüfungen und Bewährungsauflagen dieser Person den deutschen Pass zu ermöglichen. Was für die Troglodyten aus Unterfranken noch lange nicht heißt, dass die Person nun Deutscher oder Deutsche sei.

Die Zahlen für Visa-Anträge konterkarieren Seehofer bereits im Ansatz. Von den erteilten Visa dürfte der allerkleinste Teil zu einer Niederlassungserlaubnis führen. Der Löwenanteil entfällt eher auf sehr wohlhabende Touristen und Geschäftsleute, die noch dazu mehrfach in den Zahlen auftauchen, wenn sie für Geschäftsreisen mehrere Visa benötigen.

Für Ankara hat sich die Zahl der jährlichen Visa seit 2000 konstant halbiert (von 73695 auf 38723) während die Ablehnungen bei um die 15 000 stagnieren. In Istanbul und Izmir gilt der gleiche Abfall. Ähnlich verhält es sich mit  Algier (10984 auf 5472 bei konstant um die 1500 Ablehnungen) und Tunis (18255 auf 7133).

Dubai hat zwar seit 2000 eine Verdoppelung von 21010 auf 41329 erfahren, seit 2007 stagnieren die Zahlen allerdings, gegenüber 2009 ist eine Abnahme zu verzeichnen. Das gleiche gilt für Abu Dhabi mit 6869 im Vergleich zu 12548.

Die insgesamt erteilte Visa-Zahl an allen Botschaften ist seit 2000 um etwa eine Million von 2607012 auf 1649392 gesunken, gegenüber einem leichten Anstieg der Ablehnungen von 167038 auf 177207.

(Quelle: Bundestag)

Ein Drittel weniger Menschen wollten überhaupt Deutschland besuchen, dem verbleibenden Rest steht man aber nicht weniger misstrauisch gegenüber. Und wer trotzdem noch in Deutschland verweilt, wird ausgeschafft: 2009 wurden 7289 Menschen aus Deutschland mit dem Flugzeug abgeschoben – auch in Diktaturen wie China, Irak,  Weissrussland, Vietnam oder Afghanistan. 536 weitere wurden über den Landweg und 5 mit dem Schiff weggeschafft. Sehr tapfer, das. (Quelle: Bundestag)

Das sind im Vergleich zu anderen, multiethnischen Staaten lächerliche Zahlen. In Ghana ist es selbstverständlich, dass 70 verschiedene Sprachen und Dialekte gesprochen werden und Nomaden im Norden wie auch Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten sich ansiedeln. Bei Fluchtbewegungen im Kongo-Krieg sind Hunderttausende auf der Flucht über die Grenzen in die Nachbarstaaten. Deutschland besitzt also die in Seehofer, Gabriel und Schröder kristallisierte Arroganz, zum einen nichts Effizientes gegen irgendeinen jüngeren Genozid oder Massenkrieg auf der Welt unternommen zu haben und zum Anderen sich taub und dumm zu stellen, wenn es um die Aufnahme von Flüchtlingen geht. Es profitiert in unverschämter Weise von Diktaturen, etwa in Iran, und weist dann auch noch den Opfern dieser Dikaturen die Tür. Es diskutiert über die Schimäre „Einwanderung“ während noch nicht einmal ein Asylrecht errichtet und verteidigt wurde, das diesen Namen verdient. Seehofers Vorstoß zur letzten Tapferkeit ist nicht der letzte, den man erwarten darf. Solche sogenannten „Tabubrüche“ sind antidemokratisches Gift, das Fortbestehen des Nationalsozialismus in der Demokratie. Es wird bedrohlich bleiben, solange keine Opposition sich offen für ein Asylrecht im Wortsinne und eine Einwanderungsgesellschaft im weltbürgerlichen Sinne mit einer klaren Garantie der Auflösung des deutschen Volksfetischs hin zu einer weltbürgerlichen, demokratischen Gesellschaft einzusetzen wagt.

 

„The Witches of Gambaga“ by Yaba Badoe (2010) – Review

In Ghana’s Northern-Regions‘  multi-ethnic landscape seven settlements still differ more than any other from the rest: They are a ghetto for mostly elderly women but also younger ones and men who were accused of perpetrating witchcraft-crimes. Most popular is the perception of a witch leaving her sleeping body behind and meeting with other souls of witches in the bush to cannibalize human souls, preferably those of relatives. Sickness and death are commonly related to witchcraft and accusations are often backed by dreams that are believed to serve as a nexus to the spiritual world. While treated differently in many regions and circumstances, malicious witchcraft is a capital offense in most areas of Ghana and therefore lynchings, harrassments, evictions and torture are likely to happen to those who fall victim to a witchcraft-accusation. Those who escape lynching are brought to shrines for an ordeal or run away to the cities and the settlements for witch-hunt-victims.

For more than ten years Yaba Badoe, a Ghanaian writer and film-maker, has been visiting the so-called „witches-home“ at Gambaga, which is maybe the oldest and surely the most famous site where about 80 women accused of witchcraft seek refugee. Gambaga is not a remote rural area – it is a minor Ghanaian city with excellent roads to the urban Hot-Spot Tamale. The town has an internet-cafe, electricity, a regional prison, schools, a post-office and two simple guesthouses. The countryside is bushland with its beautyful red and green hills and giant rocks shattered around. The settlement for witch-hunt-victims is not only an asylum: Women are sentenced to exile from their homes in protective custody by the Gambarrana, a traditional, yet powerful chief. Badoe interviewed women accused of witchcraft to uncover their stories. For a woman in an area of Ghana that is sexist to the bones, it is especially remarkable that she was able to reach the chiefs permission to interview him and film the chickens ordeal.  This ordeal is the final authority for many oracles throughout Africa. Once a case is brought to the chief of Gambaga, he demands a fee and a chicken. The fowls throat is cut and it is thrown away. If it does not die with its‘ wings upturned, the ordeal proves the womens guilt – she is now exorcised of the supposed witchcraft spirit, she has to drink a potion, she is shaved and she has to testify her deeds. If the ordeal „proves“ the innocence of the woman, she might be terrified enough to stay nonetheless. If she stays, she is obliged to work on the farms of the chief before she can work on a small field of her own, if she not entirely depends on the help of relatives or the solidarity of her mates in the camp. Should she want to leave the camp finally, she has to pay „reimbursement“ for her stay. This „reimbursement“, as Badoe has investigated, has risen to an insane amount of 100 UsD.

When I visited the camp for 14 days in 2009 I was not permitted to see the ordeal and I did my best to disgruntle the chief who is notorious for his mood swings. His vain is easlily piqued while money pleases him to liberalness. Badoe managed to command his respect through her long-term observation. She proves, that documentary is possible in this highly ambivalent field and that it becomes professional mostly through time invested and intimacy towards the subjects. Badoes‘ work is investigative but by no means neutral. Her canny humanist approach does not hide the subject behind „realism“ and at the same time refrains from binary oppositions. Her thesis  could be read as she says in the documentary: „To be born as a woman is to be born under a shadow of suspicion.“ This suspicion is always enforced by the role of male authorities like the Gambarrana who states: „Women have their own witchcraft. Can you tell who’s a thief? That’s how witchcraft is.“

Badoes number of more than a thousand women condemned of witchcraft who live in northern Ghanas‘ camps for witch-hunt-victims is vague. In fact it is now clearly more than 2500 and up to 4500 people who are living in seven settlements for witch-hunt victims, mainly at Tindang/Gnaani and Kukuo/Bimbilla.  Unknown numbers go to the cities or to distant regions. But all of them suffer while some have agency and options beyond common stereotypes of victims. Badoe does a great job portraying the agency of the women. And agency is enhanced drastically by media and foreign interest. But agency is limited as soon as the stigma is concerned. As one victim states: „In the same way fire burns, I am a witch.“ There is up to no defense against the chiefs‘ verdict. The chief sees himself as a philanthrope while he profits from the women through forced labour, ritual-fines, „reimbursement“ and fame for overpowering „evil witches“. Badoe makes his fragile ego visible.

Her insightful documentary brings the victims of witch-hunts and their emotions closer to the audience. The beautyful colours of Northern Ghana – dark faces in front of sunflooded clay-huts, red dust and dry wood, the pied clothing – foil the dull pressure put on individuals as a result of fears of witchcraft. Light is grateful in Ghana: Every face is a scarred sculpture, every hut an environment. The impressive monumentalism of the aesthetics of primitive modes of livelihood is treated with self-evidence. Badoe is far away from exploiting this environment, though she does not deny its aesthetics  – her way of filming escapes exotistic, neo-romantic artwork as much as the lurid, over-engineered realism that is in vogue. It focuses on the story to tell and the understanding of the audience, it raises questions instead of answering them.

„3096 Tage“ – Eine Buchempfehlung

Der Satz, Natascha Kampusch hat ein Buch geschrieben, wäre fast gelogen. Kampusch wurde gezwungen, dieses Buch zu schreiben. Hinlänglich bekannt sind die Ressentiments und Phantasien, die sich an ihrer Person entzündeten. Der Entschluß, einen öffentlichen Beruf als Moderatorin einer Fernsehsendung auszuüben, wirkt weiterhin magnetisch auf jene vom unverhohlenen Neid Getriebenen. Solche Menschen agieren stereotyp in ihren immer gleichen Fixierungen auf eine gigantische Verschwörung hinter dem offensichtlich Entsetzlichen, in dem das Opfer zum Mitverschwörer wird und sie, die kleinen Leute hinter ihren Bildschirmen die Opfer der Opfer sind.

Doch auch die kleinen, journalistischen Spitzen sind bezeichnend. Rolf Leonhard titelte seine Rezension in der taz ganz unverschämt: „Eine ungleiche Zweierbeziehung.“ Im Artikel phantasiert er: „Immer wieder bekommt man den Eindruck, dass Kampusch, die sich im Laufe der Jahre zur stärkeren Partnerin in dieser ungleichen Zweierbeziehung entwickelte, für ihren Entführer Mitleid empfand.“

Mitleid, und das sagt Kampusch mehrfach ganz explizit, ist ein ganz zentrales Moment ihrer Strategie und ihres Reflexionsprozesses:

Es fiel mir in den folgenden Wochen und Monaten leichter, mit ihm umzugehen, wenn ich ihn mir als armes ungeliebtes Kind vorstellte. (Kapmusch, 123)

Mir tat dieser Mann, der mich über acht Jahre lang gequält hatte, in diesen Momenten unendlich leid. Ich wollte ihn nicht verletzen und gönnte ihm die rosige Zukunft, die er sich so sehr wünschte: er wirkte dann so verzweifelt und allein mit sich und seinem Verbrechen, dass ich manchmal fast vergaß, dass ich sein Opfer war – und nicht zuständig für sein Glück. (Kampusch, S. 257)

Es bedarf schon einiger Ignoranz, von solchen expliziten Stellen „den Eindruck“ zu bekommen. Schlichtweg frech ist es, die Folter als „Zweierbeziehung“ zu bezeichnen und darin auch noch Kampusch als „stärkere Partnerin“ zu halluzinieren, als gebe es die eingeschobenen akribischen Tagebuchaufzeichnungen nicht. Die sperren sich dem Zitat. Zitiert werden können allein Kampuschs nachträgliche Reflexionen in der Vergangenheitsform:

Mein Körper zeigte deutliche Spuren des Essens- und Lichtentzugs. Ich war nur noch Haut und Knochen, auf den Waden zeichneten sich schwarz-blaue Flecken auf meiner weißen Haut ab. Ich weiß nicht, ob sie vom Hunger oder von den langen Zeiten ohne Licht kamen – doch sie sahen beunruhigend aus, wie Leichenflecken. (Kampusch, S. 206)

Kampusch wurde von Priklopil durch ein ausgefeiltes System aus Isolationsfolter, Hungerfolter, Kontrollfolter und brutaler Quälerei unterworfen. Dass sie sich nicht brechen ließ, auch Erfolge gegen ihren Peiniger errang, macht sie noch lange nicht zur „stärkeren Partnerin“. Schlichtweg falsch ist auch Leonhards Behauptung:

„Sie erklärt das sogenannte Stockholm-Syndrom, das Opfer dazu bringt, sich mit ihren Peinigern zu solidarisieren.“

Kampusch erklärt nicht, sie kritisiert diesen Begriff vehement. Nach einer Silvesterfeier, bei der Geschenke mit Priklopil ausgetauscht wurden, reflektiert sie:

Wenn ich davon spreche, kann ich in den Gesichtern mancher Außenstehender Irritation und Ablehnung sehen. Die eben noch empathische Teilnahme an meinem Schicksal friert ein und wandelt sich in Abwehr. Menschen, die keinerlei Einblick in das Innere der Gefangenschaft haben, sprechen mir mit einem einzigen Wort die Urteilskraft über meine eigenen Erlebnisse ab: Stockholm-Syndrom. […] Eine kategorisierende Diagnose, die ich entschieden ablehne. Denn so mitleidsvoll die Blicke auch sein mögen, mit denen dieser Begriff aus dem Handgelenk geschüttelt wird, der Effekt ist grausam. Er macht das Opfer ein zweites Mal zum Opfer, indem er ihm die Interpretationshoheit über die eigene Geschichte nimmt – und die wichtigsten Erlebnisse darin zum Auswuchs eines Syndroms macht. Er rückt genau jenes Verhalten, das maßgeblich zum Überleben beiträgt, in die Nähe des Anrüchigen. Das Annähern an den Täter ist keine Krankheit. Sich im Rahmen eines Verbrechens einen Kokon aus Normalität zu schaffen ist kein Syndrom. Im Gegenteil. Es ist eine Strategie des Überlebens in einer ausweglosen Situation – und realitätsgetreuer als jene platte Kategorisierung von Tätern als blutrünstige Bestien und Opfern als hilflose Länner, bei der die Gesellschaft gerne stehen bleibt. (Kampusch, S. 176)

Und später vergleicht sie die ambivalente Gefühlslage „normaler“ Kinder mit jenem „Stockholm-Syndrom“:

Ich beobachte heute manchmal die Reaktion kleiner Kinder, wie sie sich auf ihre Eltern freuen, die sie den ganzen Tag nicht zu Gesicht bekommen haben und dann nur unfreundliche Worte, manchmal sogar Schläge für sie übrig haben. Man könnte jedem dieser Kinder ein Stockholm-Syndrom unterstellen. Sie lieben die Menschen, mit denen sie leben und von denen sie abhängig sind, auch wenn sie nicht gut von ihnen behandelt werden. (Kampusch, S. 193)

An einer weiteren Stelle wird die aggressive Patina solcher herumgeschleuderten Begriffe weiter bloßgelegt:

Wer anonym in Internetpostings reagieren kann, lädt seinen Hass direkt auf mir ab. Es ist der Selbsthass einer Gesellschaft, die auf sich selbst zurückgeworfen wird und sich fragen lassen muss, warum sie so etwas zulässt. Warum Menschen mitten unter uns so entgleiten können, ohne dass es jemand merkt. Über acht Jahre lang .Jene, die mir bei Interviews und Veranstaltungen gegenüberstehen, gehen subtiler vor: sie machen mich – der [sic] einzigen Person, die die Gefangenschaft erlebt hat  – mit einem kleinen Wort zum zweiten Mal zum Opfer. Sie sagen nur „Stockholm-Syndrom.“ (Kampusch, S. 194f)

In diesen Passagen tritt Kampusch – und an dieser Stelle ist es egal, ob sie selbst dies schreibt oder ihre Ghostwriterin –  als  avancierte Kritikerin eines entleerten Allgemeinbegriffes auf, die philosophisch gelesen werden will – was ihr die Journalisten in ihren Naivisierungen verweigern. Die FAZ reinigt das Werk von seiner gesellschaftskritischen Gewalt und fokussiert ausschließlich auf das Verhältnis zwischen Täter und Opfer. Kampusch leistet viel mehr als eine von der FAZ kolportierte „analytische Beschreibung des Lebens und der Nöte eines jungen Mädchens, das mit Unvorstellbarem konfrontiert wird.“ Ihre Analyse ist schon Gesellschaftskritik eines intellektuell reifen Individuums – von der will man in der FAZ naturgemäß nichts hören. Zu vieles ist Kampusch an der reaktionären Gesellschaft nicht geheuer. Merkwürdiges, allgemein übliches Gebaren mit Kindern sowie die autoritären Gesten der Züchtigung, die erst kürzlich gesellschaftliche Ächtung erfahren haben, werden ihr schon an ihren Eltern verdächtig .

Er [KampuschsVater] war ein jovialer Mann, der den großen Auftritt liebte, seine kleine Tochter in ihrem frisch gebügelten Kleidchen war ein perfektes Accessoire. (Kampusch, S. 22)

Es war diese fatale Mischung aus verbaler Unterdrückung und „klassischen“ Ohrfeigen, die mir zeigte, dass ich als Kind die Schwächere war. […] Im Hof konnte ich immer wieder Mütter beobachten, die ihre Kinder anbrüllten, zu Boden stießen und auf sie einprügelten. Das hätte meine Mutter nie getan, und ihre Art, mich nebenbei zu ohrfeigen, stießt nirgends auf Unverständnis. Selbst wenn sie mir in der Öffentlichkeit ins Gesicht schlug, mischte sich nie jemand ein. (Kampusch, S. 30)

Das später erlittene Verbrechen baut Kampusch bewusst als ins Riesenhafte gesteigerte Version dessen auf, was sich im Kleinen im österreichischen Alltag findet:

Sogar Kindern zumindest vorübergehend die Freiheit zu nehmen war nichts, was mir außerhalb des Denkbaren erschien. Auch wenn ich es selbst nicht erlebt hatte: Es war damals in manchen Familien noch eine gängige Erziehungsmethode, Kinder, die nicht gehorchten, in den dunklen Keller zu sperren. Und alte Frauen beschimpften in der Straßenbahn Mütter von lauten Kindern mit dem Satz: „Also wenn das meines wäre, würde ich es einsperren.(Kampusch, S. 89).

Kampusch sieht die Rezeption des an ihr begangenen Verbrechens in einem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang:

Diese Gesellschaft braucht Täter wie Wolfgang Priklopil, um dem Bösen, das in ihr wohnt, ein Gesicht zu geben und es von sich selbst abzuspalten. Sie benötigt die Bilder von Kellerverliesen, um nicht auf die vielen Wohnungen und Vorgärten sehen zu müssen, in denen die Gewalt ihr spießiges, bürgerliches Antlitz zeigt. Sie benutzt die Opfer spektakulärer Fälle wie mich, um sich der Verantwortung für die vielen namenlosen Opfer der alltäglichen Verbrechen zu entledigen, denen man nicht hilft – selbst wenn sie um Hilfe bitten.

Gar nicht zufällig ist daher ihr Engagement gegen Rassismus. Diese in den Ohren der FAZ sicherlich enervierend sirrende Kritik geht weiter in ihrer verächtlichen Denunziation Strasshofs als „gesichtsloser Ort ohne Geschichte. […] Am Wochenende surren die Rasenmäher, die Autos werden poliert, und die gute Stube bleibt hinter zugezogenen Stores und Jalousien im Halbdunkel versteckt. Hier zählt die Fassade, nicht der Blick dahinter. Ein perfekter Ort, um ein Doppelleben zu führen. Ein perfekter Ort für ein Verbrechen.“ (Kampusch, S. 154)

Es ist die faschistoide Struktur Deutschlands und seines Seelenverwandten Österreichs, das einen in der Beschreibung des Täters wie der Umgebung Kampuschs immer wieder anspringt.

Das Wohnzimmer schien mir wie die perfekte Spiegelung der „anderen“ Seite des Täters. Spießig und angepasst an der Oberfläche, die dunkle Ebene darunter nur dürftig überdeckend. (Kampusch, S. 156)

Lediglich die Frankfurter Rundschau erwähnt beiläufig, dass man „nebenher“ erfahre, Priklopil sei ein „Anhänger Hitlers und Haiders“. Kein Wort zuviel lässt die Presse zu, es scheint, als wäre die sich an vielen weiteren Stellen aufdrängende Verwandtschaft zwischen dem an Kampusch begangenen Verbrechen und der  nationalsozialistischen Gesinnung Priklopils der deutsch-österreichischen Gesellschaft zu peinlich, um sie zumindest für ebenso bemerkenswert zu finden wie Kampusch:

Eines der Bücher im Regal im Wohnzimmer, auf das der Täter besonderen Wert legte, war „Mein Kampf“ von Adolf Hitler. Er sprach oft und mit Bewunderung von Hitler und meinte: „Der hatte recht mit der Judenvergasung.“ Sein politisches Idol der Gegenwart war Jörg Haider […]. Priklopil zog gerne über Ausländer vom Leder, die er im Slang der Donaustadt „Tschibesen“ nannte – ein Wort, das mir von den rassistischen Tiraden der Kunden in den Geschäften meiner Mutter vertraut war. Als am 11. September 2001 die Flugzeuge in das World Trade Center flogen, freute er sich diebisch: Er sah „die amerikanische Ostküste“ und „das Weltjudentum“ getroffen. Auch wenn ich ihm die nationalsozialistische Einstellung nie ganz abnahm – sie wirkte aufgesetzt, wie nachgeplapperte Parolen -, gab es etwas, das er ganz tief verinnerlicht hatte. […] Er fühlte sich als Herrenmensch. Ich war der Mensch zweiter Klasse.(Kampusch, S. 167)

Ihre Analyse des Täters baut auf dieser Voraussetzung auf. Erst im folgenden Kapitel erwähnt sie seine überfürsorgliche Mutter, (Kampusch 178f) die Priklopil offensichtlich in seiner Misogynie kontrollieren wollte, indem er ein Mädchen einkerkerte und folterte, sich selbst in einer versorgenden Mutterrolle gefiel und zugleich bereits dem Mädchen Aufgaben zuwies, die wohl ansonsten seiner Mutter vorbehalten waren. Priklopil hatte offenen Größenwahn und die dem beigesellte Paranoia: Er fürchtete Abhörgeräte und hielt sich für einen ägyptischen Gott, wollte Maestro oder Gebieter genannt werden, was ihm Kampusch verweigerte. Dieser Einbruch der feudalistischen Herrschaft in das bürgerliche Abhängigkeitsverhältnis von weiblicher Reproduktion und männlicher Repräsentation ist kein zufälliger, sondern eine Steigerung, an deren grotesker, pathologischer Drastik sich viel über die vielen „normalen“ Formen häuslicher und männlicher Gewalt ablesen lässt.

Kampusch ist mit ihrer Autobiographie ein philosophisches Werk gelungen, dessen gesellschaftskritische Tiefe den dunklen Abgrund der bürgerlichen Gesellschaft auszuloten vermag.

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Nachsatz:

Ein früherer Artikel, den ich schrieb, trug den Titel „Natascha“ – heute weiß ich, dass Natascha Kampusch es zutiefst verabscheute, wenn sie in der Presse trotz ihrer Volljährigkeit als Kind wahrgenommen und bezeichnet wurde.  Ich entschuldige mich für den Titel. Vom Inhalt des Artikels ist wenig veraltet.

Quellen:

Kampusch, Natascha: „3096 Tage“. Berlin, List Verlag. 284 Seiten. 19,95 Euro.

http://www.natascha-kampusch.at/

FAZ: „3096 Tage im Kerker: Natascha Kampusch veröffentlicht Biographie.“

Faz.net: „Heile Welt, ist doch nichts passiert.“

Zeit: „Natascha Kampusch: Übersehene Qualen.“

FR: „Ich bleib‘ zum Trotz ich.“

Taz: „Eine ungleiche Zweierbeziehung.“

 

Deutsche Klotüren

Nazis raus, Islamisten raus, Sexualstraftäter raus, Integrationsunwillige raus, Bundeswehr raus (aus Afghanistan): der normale Deutsche ist von einer Klotüre nicht zu unterscheiden, egal ob er Parteichef der SPD oder CDU, Linksparteilich  eingestellt oder Nationalist oder gerne auch beides ist. Deutschland will partout nicht in der Moderne ankommen, es ist schon dem Namen nach kein Staat wie die USA sondern Land, Territorium, Boden, mit seiner völkischen Eigenschaft „Deutsch“ so fest verschweisst, dass daraus auch nie ein bloß geographisches wie Großbritannien zu werden vermag. Integration und Territorialität werden eins. Was auch immer diskutiert wird, es endet damit, dass jemand das Land oder die Partei oder die Stadt verlassen soll. Diese Obsession der Abspaltung verweist auf Abgründiges, zumindest aber auf den zwanghaften Wunsch, Probleme nicht durchdenken zu wollen. Und es zeugt von einer aggressiven Empathielosigkeit gegenüber Vorgängen, die „draußen“ stattfinden. Das Ausschaffen, Rausschmeißen, Exilieren wird zum Fetisch.

Die Ausschlussrufe gegen Sarrazin sahen schon dem Wunsch nach Abschiebung von Ausländern gleich. Ihnen war anzumerken, was da an Verdrängung wirkte: Es sollte ein Kopf rollen, der das Betriebsgeheimnis des Ganzen ausplauderte. Nicht wegen seinem Fauxpas über Gene von Basken und Juden wurde er geschasst. Sondern weil er der alten Tendenz der SPD, eine Partei rechts von der CDU zu gründen, den Schneid abkaufte und massivste Zustimmung erntete, ohne in offizielle Parteistrukturen eingebunden zu sein und ohne dabei der SPD zu nutzen. Er wurde nachgerade zum lästigen Konkurrenten für einen Gabriel, der sich nach der Exilierung bequem in seiner Rolle als vernünftelnder, unrassistischer Abschieber gefallen darf.

Der SPD-Kazike Gabriel hat geschafft, was Sarrazin nach eigenem Bekunden nicht wollte und doch schon vorbereitete: Aus einer schon im Ansatz verkorksten Integrationsdiskussion wurde endgültig die einzige in Deutschland mögliche Version dessen – Eine Abschiebedebatte.

Die Tabus haben sich längst in Füllhörner verkehrt: Meldet sich ein Reaktionär zu Wort, wird er über kurz oder lang nach dem offiziösen Sturm der Entrüstung seine Saat überreichlich ernten können. Mit Sarrazin und Gabriel verhält es sich noch paradoxer.

Sarrazin ist ein Rassist, denn er vertritt rassistische Grundannahmen – dennoch bereitete er keine rassistische Praxis vor und wird sich über seine deutschen Fans kaum freuen. Gabriel ist kein Rassist – und vertritt doch das rassistische Prinzip, nach dem Deutschland organisiert ist, exekutiert den Willen der NPD weitaus trefflicher als Sarrazin.

Die eigene überwertige Bindung an den Kiez, das Territorium, macht die Abschiebung, die Ausschaffung zur höchsten denkbaren Strafe. Die höchste denkbare Strafe aber ist die Todesstrafe. Und exakt die ist mit der Abschiebung gemeint. Wer draußen ist, ist tot, stellt keine Gefahr mehr dar oder interessiert nicht. Im Wunsch der Deutschen nach der Abschiebung artikuliert sich der nach der Todesstrafe. Daher glaubt man auf Seiten der Linken auch, indem man die Nazis nur lange genug von einem Flecken zum Anderen jage, sei das Problem gelöst und Nazis nicht mehr existent.

Wo Integration in einer Demokratie allein als solche zu denken wäre, laut seine konträren Interessen und Meinungen zu vertreten, und entsprechen des rationellen Gehalts gehört, ignoriert oder angefeindet zu werden, ist in Deutschland mit Integration von rechts wie von links die Friedhofsruhe, der Sperrbezirk gemeint. Vom Islamismus wissen die Deutschen deshalb nichts, weil sie ihn noch immer als invasiv wahrnehmen und das 21. Jahrhundert mit der Wiener Türkenbelagerung verwechseln.

Aber es sind nicht nur die Islamisten und Neonazis. Facebook-Gruppen, die zur Vernichtung von Juden, Kurden und Armeniern aufrufen, haben kaum Kopftuchfrauen als Anhänger – es sind dem gesamten Habitus zufolge moderne, westliche, integrierte, jungtürkische FaschistInnen mit deutschem Pass und mittelständischen Unternehmen. Den gleichen Irrtum begehen Linke, wenn sie ihre „Nazis-Raus“-Buttons anheften und stolz auf ihr Wissen um Codes von Jungnazis sind. Dümmlich warb die PDS einst „Nazis raus aus den Köpfen“ – eine eigene Schlußstrich-debatte, man wollte nicht an Nazis denken müssen, sie nicht mit SS-Runen auf dem kahlrasierten Schädel sehen müssen. Das Abspalten, das das Ausschaffen stets ist, ist die Weigerung des Denkens, das Eingeständnis der insgeheimen Übereinkunft mit Ideen, gegen deren betörende Gewalt man sich als so wehrlos erweist, dass man es wegmachen, fortbringen, abschieben, ausmerzen oder auch in einer nur um Geringes anderen Variante, um jeden Preis integrieren, will. Man soll nicht Juden-Gen sagen – aber in Köln gibt es am Dom eine antisemitische Dauerausstellung gegen Israel. Man soll nicht Negerkuss sagen – aber jeder Polizist bekommt eine Gehaltserhöhung, wenn er nur weiter brav Schwarze nach Afrika abschiebt. Man soll kein Islamist sein – aber mit Iran wird gehandelt und gedealt. Man soll nicht als Sarkozy Zigeuner nach Rumänien fliegen – aber sie als Merkel in den Kosovo abschieben geht wunderbar. Die Klotüren-Mentalität der Deutschen kann man nicht umsonst auf Klotüren lesen:  der schmutzige Dreck soll mit der eigenen organischen Verfasstheit, dem System, nichts zu tun haben, wird  als Fremdes ekelerfüllt und lustvoll weggespült.

„Dschihad in der City“ will den Dschihad in der City

„Dschihad in der City“ ist einer jener Filme, die sich vor allem durch ihr Ende durchstreichen.

Ein junger Brite mit pakistanischen Eltern wird im ersten Teil des Zweiteilers porträtiert. Er geht nach einer islamistischen Propagandaveranstaltung zum MI-5 um Terroristen zu bekämpfen – die plötzlich überall in seiner muslimisch-pakistanischen Nachbarschaft, unter Freunden und Verwandten sich manifestieren. Als Pakistani erlebt er Rassismus, sieht darin allerdings keinen Grund, gegen die Gesellschaft loszuschlagen, der er laut eigenen Worten „alles verdankt“. Die islamistische Szene erscheint nur in ihrer camouflierten Oberfläche der sozial engagierten, friedensbewegten Underdogs. Der erste Teil findet sein Finale im üblen Cliffhanger: Ausgerechnet seine Schwester steckt hinter einem Terrorkomplott und hat inmitten einer öffentlichen Veranstaltung den Zünder in der Hand, als der Bruder sie entdeckt.

Der zweite Teil folgt der Schwester. Sie wird in unwahrscheinlicher Naivität gemalt. Als zunächst westlich orientierte Frau mit einem christlichen schwarzen Freund besucht sie an der Universität Propagandaschulen von Dschihadisten. Zwei zentrale Prüfungen werden ihr auferlegt, als sie demokratische Teilhabe dem Terror entgegensetzt. Der Ideologe fordert sie auf, ein Anti-Terror-Gesetz zu nennen, das durch Proteste gestoppt worden sei. Sie schweigt beschämt. Außerdem befiehlt er ihr, die Emanzipation der Frau in der westlichen Gesellschaft dadurch zu prüfen, dass sie einen Tag im Hijab verbringen solle. Sie erlebt erwartungsgemäß negative Reaktionen. Als ihre Freundin nach erheblichen Drangsalierungen im Rahmen der Anti-Terrorgesetze sich suizidiert, heuert sie bei den Terroristen an, provoziert den Vater mit dem Geständnis ihrer Beziehung zu einem schwarzen Christen dazu, sie nach Pakistan zu schicken. Ihr Freund folgt ihr, wird von der Familie gestellt und fast totgeschlagen. Sie macht dennoch ihre Schulung zur Selbstmordattentäterin durch, bezeugt stets aufs Neue den Sexismus der islamischen Männer und geht trotzdem zurück nach London. Am Ende betätigt sie den Zünder, der sie im letzten Moment verzweifelt umarmende Bruder kann sie nicht davon abhalten.

Bis dahin folgt der Film noch zentralen Erkenntnissen über ambivalente psychologische Konstitutionen von Selbstmordattentäterinnen zwischen Emanzipationswunsch und umgelenkter Aggression. Die islamistische Propaganda wird in ihrer professionellen Dumpfheit dargestellt. Zentraler Aufhänger der Agitation sind die „Brüdern und Schwestern im Irak und Palästina“, die angeblich zu Millionen „ermordet und vergewaltigt“ werden – übrigens eine ganz interessante stereotype Verdrehung der Tatsache, dass Islamisten die Blutbäder in Irak und Afghanistan veranstalten: Der Terror wird sich selbst zur tautologischen Legitimation. Die Protagonistin schluckt aber alles in einer Art Adoleszenz-Verwirrung und Trauer um ihre Freundin.

Mit dem finalen Zünden ihres Sprengstoffgürtels wird der Bildschirm schwarz. Dann folgt ihr Bekenner-Video, in dem sie die Propaganda der islamistischen Ideologen wiederholt. Es folgt unmittelbar der Abspann mit der Moral: Eine Statistik der Muslime, die glauben, der Krieg gegen den Terror und die Anti-Terrorgesetze richte sich gegen sie.

In dieser letzten Minute des Filmes gerät er zur übelsten dschihadistischen Terror-Propaganda. Er schwenkt auf jene Schiene der islamistischen Agitatoren ein, die konkrete politische Zustände zum Vorwand nehmen, weitaus Schlimmeres anzurichten. Grotesk zeichnet er den Terrorismus als Massenphänomen bei Muslimen in der britischen Gesellschaft und unterstellt jenen 80 Prozent von Muslimen, die Angst vor Diskriminierung oder die Ressentiment haben, die Bereitschaft, sich deshalb einen Sprengstoffgürtel umzulegen und ein öffentliches Konzert zu sprengen. Er schürt sublim im dauernden Zeigen der Bauchprothese, in der die scheinschwangere Muslima bestens getarnt ihren Sprengstoff verbirgt, Angst vor muslimischen Frauen und ihrer Sexualität. Mehr als die Anti-Terrorgesetze verdächtigt der Film alle Muslimen der Bereitschaft zum Terrorismus.

Die Angst vor dem Terrorismus wird somit angefacht und zugleich der Terrorismus selbst als Reaktion von Unzufriedenen propagiert. Das Selbstmordattentat hat man seiner aggressiven Momente bereinigt und zum Suizid verklärt, dessen Beweggründe Trauer und Enttäuschung seien. Vom antisemitischen, menschenfeindlichen Wahn der islamischen Terroristen ist nicht die Rede, weil dies die plumpe Gesellschaftskritik überfordern würde. Der Islamist ist privat ein netter Menschen, der halt nicht aus seiner Haut kann und mit einer gehörigen Portion Pech und Diskriminierung ganz menschliches Opfer bleibend Menschen in die Luft sprengt. Das beeindruckt sogar die FAZ: „Man kann daraus lernen.“

Wie diese Verklärung des Selbstmordattentates zur radikalen Protestform überhaupt als Ideologem bestehen kann, erklärt sich aus einer Ahnung darum, wie es tatächlich um gesellschaftliche Zusammenhänge beschaffen ist. Das Selbstmordattentat richtet sich wie der verwandte Amoklauf gegen alle und gegen sich selbst. Die politische Ideologie, die daraus eine Protestform macht, spürt vernebelt etwas vom Fetischcharakter: alle tun etwas und wissen aufgrund der so entfesselten dämonischen Macht nicht mehr, dass sie selbst es tun. Nasima betont die Anklage an alle in ihrem Schlussplädoyer, das eines des Filmes ist. Die äußerste denkbare Form, ein solches vertracktes Ding abzuschaffen, ist „Alles“ abzuschaffen, alles zu vernichten und kaputt zu schlagen. Die Wahl fällt darauf, das Feindlichste der Drohung noch zu vertreten, das man gegen sich selbst gerichtet sieht. Der Islamismus wie jene Ideologien, die ihm das Wort reden sind Zerfallsprodukte bürgerlicher Ideologie. Ihre Sprache strahlt die bürgerliche Kälte aus, der Aufrechnung von Opfern als wären es absehend von der Qualität ihres Todes Äquivalente, die nun mal bezahlt werden müssten.  Mit einem Quentchen Unglück kann dabei jeder vom Tellerwäscher im Terror-Camp zum Top-Terroristen in London werden. Was da an Psychodynamik und ideologischen Komplexen hinzutritt  wird ausgeblendet. Alle Charaktere bleiben mit sich identisch, zur Wahl begabt und zugleich Treibhölzer auf dem gesellschaftlichen Einfluss. Diese Verkürzung ist mitnichten lehrreich. Sie offeriert  und goutiert Legitimationsformen für das Handeln beider Charaktere im Film und wird so zum moralischen Quodlibet.

Weitaus lehrreicher war die ethnologische Dokumentation der Israelin Natalie Assouline in einem israelischen Gefängnis für verhinderte Selbstmordattentäterinnen mit dem Titel „Allahs Bräute„, die hier ausdrücklich und vorbehaltlos empfohlen sei.