Infantile Energien

Kassandra ist ein unverzichtbarer Teil der Kulturindustrie. Die durch und durch abgedroschene Phrase, es zähle nicht das „ob, sondern das wann“ einer zu erwartenden Katastrophe ist längst festes Repertoire des alles fest verschweißenden Prinzips. Nach den vergnüglichen medientechnologischen Spektakeln zu neuen Blitz-Eiszeiten, Tsunamis, Tornados, Superhurrikanen, Kometeneinschlägen, Sonnenstillständen und Erdmagnetismusinterferenzen reflektieren in Dokutainments Archäologen und Geologen über die historischen Supervulkanausbrüche und Meteoreinschläge.

Diese Szenarien kanalisieren die sadomasochistische Faszination am Untergang des gehabten Trotts und feiert zugleich dessen Wiederherstellung: Immer wird Familiäres durch die Katastrophen getrennt und zusammengeführt, das Rechtsprinzip obsiegt über die Konkurrenz, das äußerste Chaos reformiert Ordnung und Harmonie. Das entspricht den magisierten Ritualen der Realität: Nach Erdbeben werden virtuelle Milliarden versprochen (aber nie überwiesen), nach Genoziden werden wilde Eide geschworen, so etwas nun aber wirklich nie mehr zuzulassen (während es „schon wieder“ passiert), das Konstrukt einer Klimakatastrophe wird in öffentlichen Prozessionen bebetet, damit es nicht stattfinde, oder zumindest nur als mediales Event mit Liebesgeschichten, Eisbären und Moral.

Was aber fühlt Kassandra, nachdem das Unglück eintrat? Die Unsicherheit darüber nimmt solche Ausmaße an, dass ihr noch das Unglück selbst unterstellt wird: Sie habe Freude daran, Recht behalten zu haben. Wer es vorher besser wusste, wer warnte erinnert nach dem Vorfall an Schuld und Schuld ist das Schlimmste. Sie wird projiziert auf den Überbringer der schlechten Nachricht.

In dieser Konstellation ist erklärbar, warum Atomkraftgegnern ohne jeden empirischen Nachweis aus der Gewissheit des Bauchgefühls heraus unterstellt wird, sie freuten sich über die Mehrfachhavarie von Atomreaktoren in Fukushima, von der auch nach drei Wochen immer noch sehr unklar ist, welchen Verlauf sie nehmen wird. Allein Lobbyismus kann die uniforme Vielzahl an pathischen Projektionen und Abspaltungsprozessen in der sie begleitenden Propagandaschlacht kaum erklären, hier finden tiefenpsychologische Prozesse statt.

Die sind auf der Seite der Kernkraftgegner noch recht unkompliziert. Sie toben je nach Individuum in unterschiedlichem Ausmaß narzisstische Regressionen aus. Dazu gehören Trillerpfeifen, das leider populär gewordene intellektuelle Armutszeugnis einer jeden Demonstration. Mag der Anlaß noch so bedrückend oder komplex sein, es wird gepustet und gelärmt, dass ES eine Gaudi hat. Infantiler Aufmerksamkeitsdrang, der Wunsch nach dem Wahrgenommenwerden um jeden Preis, der Schreiwettbewerb der Sechsjährigen, das Topfschlagen der Kleinsten. Aufläufe sind auch Sammelbecken für depravierten Einzelgängern, die dort ihre Profilneurosen testen können. Ein Twen etwa klammert sich an einer Bierflasche fest und lässt regelmäßig das aus sich heraus, was man seit schlechten Karl-May-Verfilmungen als Indianergeheul kennt. Er blickt dabei aufmerksamkeitsheischend umher, läuft von hier nach da, sucht Allianzen, die er nicht auf zivilisiertem Wege schließen müsste, ein Möchtegerneinpeitscher. Andere staffieren ihre Kinder mit betagten gelben Ansteckern und Fähnchen aus, auf denen die gute, liebe Sonne dahergrinst, als wäre sie die Gesichtswurst beim Metzger persönlich.  Radioaktivität ist für viele unreflektiertere Gegner der Atomkraft eine überhöhte Drohung der Natur, auf sie wird aufgeladen, was an der guten sonstigen Natur nicht sein sollte und muss. Sie wird gigantisiert, von ihrer physikalischen Stofflichkeit abgelöst und in die Metaphysik eingereiht. Dass um Tschernobyl wieder Hunderte Menschen leben und aus ihren Gärten essen, ohne nach Wochen an der Strahlenkrankheit zu sterben, (obgleich die Lebenserwartung geringer sein dürfte als in manchen afrikanischen Ländern und Erbgutschäden hoch wahrscheinlich sind) dass in Hiroshima und Nagasaki heute Städte ohne nennenswerte Strahlenbelastung florieren, dass durch die 622 athmosphärischen Atomtests mit regional verheerenden und individuell tödlichen Auswirkungen die Krebsrate heute auf globaler Ebene wahrscheinlich weniger bedingt ist als durch den gleichzeitigen Anstieg des Fleischkonsums (Darmkrebs) und der Zahl der Solarien und Sonnenbäder (Hautkrebs), dass  in Kohlekraftwerken weltweit jährlich ca. 10 000 Tonnen Uran vor allem in der Asche übrigbleiben passt alles nicht so recht zu den nach vielen Seiten hin verzerrten Dimensionen, in denen Radioaktivität von Seiten vieler Kernkraftgegner gedacht wird. Ihren Vorstellungen zufolge verursacht Strahlung den sudden death und das ist eine auf Realität fußende Projektion, die einem Unsichtbaren (ein Lacanianer, wer an den abwesenden Vater denkt) extremes Bedrohungspotential zusprechen und von sich selbst ein Bild der totalen Verwundbarkeit haben. „Keine Gewalt“ ist der angstlustbehaftete Wunsch, „Wir sind die Guten“ die Schlußfolgerung, das „Schweinesystem“ der Gegner. Eine Entspannung dieser Gigantisierung, das Ins-Verhältnis-Setzen zu anderen Bedrohungen (Genozide, marode Staudämme, usw.) und eine Entwicklung reiferer Protestmethoden wäre Grundbedingung, um als Bewegung ernst genommen zu werden. Diese ist in aller Regel trotz mancher aggressiven Phantasien in der Regression durch und durch gutmütig und das macht sie weitaus sympathischer als jene Gegner der Kernkraftgegner, die man derzeit als „Grünenhasser“ subsumieren kann.

Die beweisen nämlich derzeit, dass sie aus dem beinharten Holz des autoritären Charakters gestrickt sind. Wo man mit gebildeteren Kernkraftgegnern manche Stunde über technische Bedingungen und physikalische Abläufe von und in Kernkraftwerken diskutieren kann, weil die Gegnerschaft anders als das Mitläufertum einen zumindest rudimentären intellektuellen Prozess und Interesse notwendig voraussetzt, regiert hier die Halluzination und das Ressentiment. „Freude“ an der vierfachen Havarie wird unterstellt, wo real Empathie, Angst und Betroffenheit verlautbart wurde. Der Antagonist von Freude ist weniger Trauer als Schuld und diese wird pathisch projiziert als Freude der Kernkraftgegner. Eine solche Projektion muss zwangsläufig bösartig werden, und diese Bösartigkeit äußert sich in einem faschistoiden Regress. Die Verletzung ästhetischer Kategorien, die an der Norm des deutschen Vorgärtners ausgerichtet wurden, dient als idiosynkratischer Katalysator des Hasses auf die Kernkraftgegner. Wer schon immer etwas gegen Wursthaare hatte, kann nun endlich losschlagen. Online kann dieser Hass straflos zur Verbalisierung finden als Vernichtungswunsch, wie er auch auf offiziöseren Webseiten verlautbart wird.

Medial allerdings sind der Faschisierung noch Grenzen gesetzt. Hier wird anderweitig identifiziert und die Identifizierung hat sich auf „Die Grünen“ geeinigt. Die Empörung von recht unterschiedlichen Wählerschichten kanzeln Hinz und Kunz als Wahlkampf der Grünen ab. Dadurch hat der autoritäre Charakter schon sein Politikverständnis kommuniziert: Wahlkampf wird als der Popanz positiv eingefordert, der er zu 98% jetzt schon ist. Ernsthafte, aktuelle Themen sollen demzufolge nicht mit der Parteienwahl in Verbindung gebracht werden, die Fussballsammelbildchenwahlwerbung ist das unbestrittene Ideal eines harmoniesüchtigen konservativen Deutschlands. Zweireiher oder Wursthaare, Krawatten oder Piercings werden gewählt, nicht Ideologien. Man wirft den Grünen eine Instrumentalisierung der atomaren Havarie vor, als hätten sich die Grünen nicht am Thema der Kernenergie gegründet. Projektion wird auch gerne frech: Der FDP-Mann Niebel warf Trittin ernsthaft vor, nur ein (zwei, wie Trittin korrigierte) AKW’s stillgelegt zu haben, CDU-Größen schlugen in die gleiche Kerbe. Die Entwicklung zu politisch reifen Menschen ist bei solchen Menschen weitaus empfindlicher beschädigt worden als noch bei den kindischsten Demonstranten. Zu Recht wurde Niebel vom Moderator gemahnt, ob er denn in einer Zeitmaschine lebe. Wieder und wieder der Vorwurf der Wahlwerbung mit einem schlimmen Ereignis, online gegröhlt, televisionell genölt, Ausdruck der blanken Angst vor dem Machtverlust über beides, das Land Baden-Württemberg und die sich doch als bedrohlicher erweisende Atomkraft.

Die Angst vor Letzterer ist dann doch einigen kurz derart in die Glieder gefahren, dass sie bereitwillig noch jede Verharmlosungen suchen, aufsaugen und mittels Facebook weitertragen, die ihnen nur ihre intellektuelle Starre und man muss es bisweilen schon sagen, Insel-Begabungslosigkeit, weiterzuführen erlauben. Apologetik hat Hochkonjunktur, sie beruhigt die Abgedichteten gegen Leckagen. Man könne sich auf das Druckventil setzen, über das die Reaktorkerne vom Dampfdruck entlastet wurden, ohne gesundheitliche Schäden davonzutragen, alles wäre unter Kontrolle in Fukushima und die überaus kurzlebige Radioaktivität ganz natürlich, wenn nicht sogar gesund, wie die Radonbäder an Kurorten beweisen würden. Magisierungen herrschen auch hier vor, eine animistische Anbetung einer ökonomisch noch nie tragfähigen und aus medizinischer Sicht äußerst bedenklichen Technologie. Der Gott Atomkraft darf nicht stürzen, die CDU stürzt ihn im Fallen selbst, um ihn nach einer Bedenkzeit wieder aufzurichten.

Verschwörungstheorien machen sich angesichts eines solchen Sturzes breit. Wo es nicht die Grünen und angeblich von ihnen beherrschte Medien sind, die als volksfremdes Element althergebrachte Verhältnisse untergraben, sind es gleich die Juden. Der Plan, Kernkraftwerke zu schließen sei dem Morgenthau-Plan nachempfunden und diene dazu, Deutschland ins industrielle Abseits zu katapultieren. Wieder gehen die Lichter, aus, infantile Angst vor der Dunkelheit, in der das Verdrängte kollektiv wiederkehrt. Atomkraft sei eine (sublimierende) Brückentechnologie, eine hilfreiche Krücke für die noch kränkelnde Windkraft oder Solarenergie. Und den Abschied von dieser Brückentechnologie verhindern: wieder die Grünen. Das ist das Ressentiment vor allem von der FDP. Die Grünen würden den Ausbau des Stromnetzes sabotieren und so den Transport von Strom aus Windkraft zu den Großverbrauchern in Süddeutschland. Wie alle Volten der Grünenhasser bleibt sie unbelegtes Gerücht und Verdacht, wie alle spaltet sie das Reaktionäre der eigenen Gesinnung ab: im schädlichen Konservativismus der Grünen, der die fortschrittlichen Technologien Atomstrom und Windkraft zugleich blockiere und im schädlichen Avantgardismus, der vom verlässlichen Gesellen Atomstrom und CDU-FDP-Regierungen zu unausgereiften, teuren Windei-Technologien und zu kommunistischen Regierungen führe.

Der Zorn über die eigene Inkompetenz gegenüber der intellektuellen Herausforderung, die gesellschaftlich komplexere Prozesse zwischen Natur (Akzidentialität und Determinismus), Individuum (Psyche und Soma) und Gesellschaft (Autonomie und Interdependenz) darstellen, kann sich nur von Platitüden zu propagandistischen Kniffen und einer mehr als wohlfeilen Medienkritik hangeln. Wirklich ekelhaft wird er durch die Verleugnung der eigenen Inkompetenz in der Anmaßung, das Argument in der Sache zu dominieren, wo schon ihre Diskussionsweise sich in Sprunghaftigkeit und Absehung von Stringenz der Traumarbeit angeglichen hat. Neben dem Formelwesen, dem positivistischen Zahlenzauber beherrscht Zensur dieses Vorgehen, ernsthafte Diskussionen werden mit einem Zirkel oben genannter Projektionen abgewürgt. Was auch immer zur Sprache stand, die Antwort ist austauschbar: die Freude Kassandras, die Wahlwerbung, die Schuld der Grünen am ganzen Schlamassel, die Unausweichlichkeit und Unabänderlichkeit der derzeitigen Situation, die lustvolle Kapitulation der gesellschaftlichen Produktivkräfte vor einer Herausforderung.

Ein Schurke, wer angesichts des Leides der JapanerInnen immer noch von Endlagern, Uranabbau, Wiederaufarbeitung und veralteten Sicherheitsstandards spricht, ein Narr, wer sich anmaßt, es besser zu wissen als ein Atomphysiker oder andere vermeintliche  und tatsächliche Kenner der Materie, eine Bedrohung, wer rasche Veränderungen im Bewusstsein der gewaltigen Produktivkräfte eines Industrielandes denkt. Der energetische Kern der Grünenhasser ist der Sadismus, der die Grünen zum Verfolger erklärt und sie doch verfolgen will. Demgegenüber ist die Regression vieler Grünen, die Erstarrung vor einer übermächtigen Natur, den Sonnenblumengott, der Schutz verspricht vor den abgespaltenen Strafgelüsten und den realen Drohungen eines irre gelaufenen Systems, allemal angenehmer. Bereits in den 1970-ern waren jene am wenigsten irre, die Paranoia vor einer Welt entwickelten, in der die Vernichtung von Milliarden Menschen in Atomkriegsszenarien ernsthaft gerechnet und geplant wurde, in der man Atomwaffentest als Werbegag für Rüstungsausgaben durchführte und Soldaten systematisch als Versuchsobjekte missbrauchte, in der man die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl vertuschte und bis heute verharmlost. Die mehrfache Abwendung einer nuklearen Konfrontation der Systeme lässt im Nachhinein vor allem Jene pathologisch erscheinen, die mit einem Atombunker im Garten und einer Papiertüte auf dem Kopf ein vergnügliches Leben führten, während über ihren Köpfen und unter ihren Füßen ein Feuerwerk von Nuklearwaffen gezündet war. Auf der Ostseite konnte man sich weder Bunker leisten noch gab es Papiertüten, man hatte einfach das kasachische Wetterleuchten am Horizont zu erdulden und erkrankte später an merkwürdigsten Krankheiten. Von Beginn an ist die Atomenergie mit obszönster Propaganda, Krieg, Verharmlosung und Lügen verbunden, ihren Gegnern ist es daher als historische Erfahrung mehr als nachzusehen, wenn sie bei einem Unfall in japanischen AKW’s Geigerzähler kaufen und Jod-Tabletten horten. (Von deren unbegründeter Einnahme hier ausdrücklich gewarnt sei!)

Das ist Ausdruck eines gesunden Misstrauens in staatliche Autorität, und jenes Misstrauen wird den autoritären Charakteren bedrohlich genug, um es zu verlachen. Was da so genau mit Zerfallsreihen und Halbwertszeiten, Isotopen und Neutronen, Ionisierung, Strahlung und Kontamination passiert, ist unter Wissenschaftlern Gegenstand von skeptischen Forschungen und Diskussionen, unter den Grünenhassern hat plötzlich jeder ein Diplom in Atomphysik oder zumindest sehr vertrauenswürdige Kontakte in diesen Bereich. Man weiß, wie die Welt läuft, man hat sich in einen Dresscode eingefügt, der Hygienedressur unterworfen, den common sense akzeptiert, die Grünen aber wissen es nicht, das sieht man schon an der Kleidung und den hässlichen Gesichtern, sie sind wahlweise Gesellschaftswissenschaftler, Kretins, Hysteriker oder alles zusammen. Das ist die narzisstische Hybris, gegen die jedes Argument machtlos ist. Der einzige Weg ist die konsequente Befragung der psychologischen Disposition der Projektionen: Geht es um Verrat, was ist gefährdet, ist da ein Gefühl von Scham und Schuld und woher kommt die offensichtliche Projektion, wenn sie nicht wahltaktische Berechnung auf dieselbe ist.

Hommage an den Maulwurf

Der Maulwurf, Talpa europaea, ist ein wunderliches Tier. Trotz seines tagtäglichen Aufenthaltes unter der Erde erscheint er stets gepflegt in seidig glänzendem Schwarz. Seine wühlende Tätigkeit brachte ihm den Hass der deutschen Kleingärtner ein. Das Motiv des mit Spaten und Fallen Maulwürfe mordenden Rentners liegt allerdings tiefer als nur in der ästhetischen Störung des Gartenraumes oder der Versorgung der Pelzmanufakturen. Der Maulwurf in seiner sich durch enge Gänge pressenden Schwärze erinnert ihn an seine infantilen Begegnungen mit dem eigenen Kot. Der schien gleichsam mit Leben begabt, rumorte durchs Gedärm und hinterließ einen schönen Haufen, den die Mutter als Geschenk mit empörten Grimassen beseitigte. Dass dieses, in der Reinlichkeitsdressur besiegte, frech in gebärmutternden Höhlen lauernde und auf brustförmigen Hügeln trohnende Ding, nun ihm, dem gestandenen Mann exakt dort wiederkehren solle, wo er seine repräsentative Oase in Abwesenheit aller ödipaler Konkurrenz schaffen will, ist Grund genug, ihm aufzulauern und den kurzen Hals zu stutzen. Die Reinlichkeitsdressur hat man auf den Garten übertragen. Mit Flammenwerfern und Laubbläsern, Giftspritzen und biodynamischem Ultraschall-Arsenal wird ein Gleichklang erstellt, der vor Herrschaft dröhnt. Dabei macht sich längst keine zu bezwingende Natur mehr darüber lustig. Vor fahlen Maisäckern und stackenblochenen Fichtenforsten blamiert sich die überflüssige Machtdemonstration des ratzekurzen Rasens mit den uniformen Dekorations-„Ideen“ aus dem Baumarkt. Der darob selten gewordene Maulwurf erhielt gemäß dieser Entwicklung eine ambivalente Identität des Unterdrückten, hilflos statt aggressiv, mit Blindenbinde und Pranken, die jedes Kindchenschema erfüllen fand er Eingang in Bilderbücher als meistens etwas verschrobener Geselle. Reale Macht verspottete der Maulwurf nur noch andernorts. In geheimdienstlichen Organisationen unterwühlte er ein ums andere Mal den nationalökonomischen Konsens, die Lappalien Polizei und Mafia überlässt  er lieber seiner weniger ehrwürdigen Verwandten, der Ratte. Das regressive Unterirdische des Maulwurfes ist mit dem überirdischen Unsichtbaren verschwistert. Der Maulwurf repräsentiert das zu Unterdrückende im Kampf der Systeme, zugleich das Übermächtige. Niemand weiß, woher er kommt, wer ihn schickte. Auf einmal ist er da und seine Präsenz stürzt den Kleingarten ins Chaos, die Regierungen ins Verderben. Seine Tarnkappe ist das Unbewusste und Unterirdische der Kleingärten, zu denen Regierungen im Auftrag ihrer Kleingärtnergesellschaften oder gegen sie ihre Staaten machten. Manche, die sich gar zu sehr vor den verdrängten Trieben fürchtete, ließ sich einst einen Mantel aus hunderten der kleinen Insektenfresser anfertigen. Weitaus furchtbarere Zeitgenossen ließen hunderte und tausende von Menschen hinrichten, um einen vermeintlichen oder realen menschlichen „Maulwurf“ zu töten. Der Maulwurf symbolisiert Kleingärtnern und Staaten die Wiederkehr des Verdrängten. Dabei steht er in Wirklichkeit über allem: In der Ethnologie nannte man den supervidierenden Blick des funktionalistischen Ethnologen die „Maulwurfsperspektive“. Ungerührt von allem unter ihm blickt er von seinem Hügel herab auf seine Objekte und räsoniert, ohne sie sich je zu nahe kommen zu lassen. Das ist natürlich auch nur eine Projektion von Maulwurffeinden.

„3096 Tage“ – Eine Buchempfehlung

Der Satz, Natascha Kampusch hat ein Buch geschrieben, wäre fast gelogen. Kampusch wurde gezwungen, dieses Buch zu schreiben. Hinlänglich bekannt sind die Ressentiments und Phantasien, die sich an ihrer Person entzündeten. Der Entschluß, einen öffentlichen Beruf als Moderatorin einer Fernsehsendung auszuüben, wirkt weiterhin magnetisch auf jene vom unverhohlenen Neid Getriebenen. Solche Menschen agieren stereotyp in ihren immer gleichen Fixierungen auf eine gigantische Verschwörung hinter dem offensichtlich Entsetzlichen, in dem das Opfer zum Mitverschwörer wird und sie, die kleinen Leute hinter ihren Bildschirmen die Opfer der Opfer sind.

Doch auch die kleinen, journalistischen Spitzen sind bezeichnend. Rolf Leonhard titelte seine Rezension in der taz ganz unverschämt: „Eine ungleiche Zweierbeziehung.“ Im Artikel phantasiert er: „Immer wieder bekommt man den Eindruck, dass Kampusch, die sich im Laufe der Jahre zur stärkeren Partnerin in dieser ungleichen Zweierbeziehung entwickelte, für ihren Entführer Mitleid empfand.“

Mitleid, und das sagt Kampusch mehrfach ganz explizit, ist ein ganz zentrales Moment ihrer Strategie und ihres Reflexionsprozesses:

Es fiel mir in den folgenden Wochen und Monaten leichter, mit ihm umzugehen, wenn ich ihn mir als armes ungeliebtes Kind vorstellte. (Kapmusch, 123)

Mir tat dieser Mann, der mich über acht Jahre lang gequält hatte, in diesen Momenten unendlich leid. Ich wollte ihn nicht verletzen und gönnte ihm die rosige Zukunft, die er sich so sehr wünschte: er wirkte dann so verzweifelt und allein mit sich und seinem Verbrechen, dass ich manchmal fast vergaß, dass ich sein Opfer war – und nicht zuständig für sein Glück. (Kampusch, S. 257)

Es bedarf schon einiger Ignoranz, von solchen expliziten Stellen „den Eindruck“ zu bekommen. Schlichtweg frech ist es, die Folter als „Zweierbeziehung“ zu bezeichnen und darin auch noch Kampusch als „stärkere Partnerin“ zu halluzinieren, als gebe es die eingeschobenen akribischen Tagebuchaufzeichnungen nicht. Die sperren sich dem Zitat. Zitiert werden können allein Kampuschs nachträgliche Reflexionen in der Vergangenheitsform:

Mein Körper zeigte deutliche Spuren des Essens- und Lichtentzugs. Ich war nur noch Haut und Knochen, auf den Waden zeichneten sich schwarz-blaue Flecken auf meiner weißen Haut ab. Ich weiß nicht, ob sie vom Hunger oder von den langen Zeiten ohne Licht kamen – doch sie sahen beunruhigend aus, wie Leichenflecken. (Kampusch, S. 206)

Kampusch wurde von Priklopil durch ein ausgefeiltes System aus Isolationsfolter, Hungerfolter, Kontrollfolter und brutaler Quälerei unterworfen. Dass sie sich nicht brechen ließ, auch Erfolge gegen ihren Peiniger errang, macht sie noch lange nicht zur „stärkeren Partnerin“. Schlichtweg falsch ist auch Leonhards Behauptung:

„Sie erklärt das sogenannte Stockholm-Syndrom, das Opfer dazu bringt, sich mit ihren Peinigern zu solidarisieren.“

Kampusch erklärt nicht, sie kritisiert diesen Begriff vehement. Nach einer Silvesterfeier, bei der Geschenke mit Priklopil ausgetauscht wurden, reflektiert sie:

Wenn ich davon spreche, kann ich in den Gesichtern mancher Außenstehender Irritation und Ablehnung sehen. Die eben noch empathische Teilnahme an meinem Schicksal friert ein und wandelt sich in Abwehr. Menschen, die keinerlei Einblick in das Innere der Gefangenschaft haben, sprechen mir mit einem einzigen Wort die Urteilskraft über meine eigenen Erlebnisse ab: Stockholm-Syndrom. […] Eine kategorisierende Diagnose, die ich entschieden ablehne. Denn so mitleidsvoll die Blicke auch sein mögen, mit denen dieser Begriff aus dem Handgelenk geschüttelt wird, der Effekt ist grausam. Er macht das Opfer ein zweites Mal zum Opfer, indem er ihm die Interpretationshoheit über die eigene Geschichte nimmt – und die wichtigsten Erlebnisse darin zum Auswuchs eines Syndroms macht. Er rückt genau jenes Verhalten, das maßgeblich zum Überleben beiträgt, in die Nähe des Anrüchigen. Das Annähern an den Täter ist keine Krankheit. Sich im Rahmen eines Verbrechens einen Kokon aus Normalität zu schaffen ist kein Syndrom. Im Gegenteil. Es ist eine Strategie des Überlebens in einer ausweglosen Situation – und realitätsgetreuer als jene platte Kategorisierung von Tätern als blutrünstige Bestien und Opfern als hilflose Länner, bei der die Gesellschaft gerne stehen bleibt. (Kampusch, S. 176)

Und später vergleicht sie die ambivalente Gefühlslage „normaler“ Kinder mit jenem „Stockholm-Syndrom“:

Ich beobachte heute manchmal die Reaktion kleiner Kinder, wie sie sich auf ihre Eltern freuen, die sie den ganzen Tag nicht zu Gesicht bekommen haben und dann nur unfreundliche Worte, manchmal sogar Schläge für sie übrig haben. Man könnte jedem dieser Kinder ein Stockholm-Syndrom unterstellen. Sie lieben die Menschen, mit denen sie leben und von denen sie abhängig sind, auch wenn sie nicht gut von ihnen behandelt werden. (Kampusch, S. 193)

An einer weiteren Stelle wird die aggressive Patina solcher herumgeschleuderten Begriffe weiter bloßgelegt:

Wer anonym in Internetpostings reagieren kann, lädt seinen Hass direkt auf mir ab. Es ist der Selbsthass einer Gesellschaft, die auf sich selbst zurückgeworfen wird und sich fragen lassen muss, warum sie so etwas zulässt. Warum Menschen mitten unter uns so entgleiten können, ohne dass es jemand merkt. Über acht Jahre lang .Jene, die mir bei Interviews und Veranstaltungen gegenüberstehen, gehen subtiler vor: sie machen mich – der [sic] einzigen Person, die die Gefangenschaft erlebt hat  – mit einem kleinen Wort zum zweiten Mal zum Opfer. Sie sagen nur „Stockholm-Syndrom.“ (Kampusch, S. 194f)

In diesen Passagen tritt Kampusch – und an dieser Stelle ist es egal, ob sie selbst dies schreibt oder ihre Ghostwriterin –  als  avancierte Kritikerin eines entleerten Allgemeinbegriffes auf, die philosophisch gelesen werden will – was ihr die Journalisten in ihren Naivisierungen verweigern. Die FAZ reinigt das Werk von seiner gesellschaftskritischen Gewalt und fokussiert ausschließlich auf das Verhältnis zwischen Täter und Opfer. Kampusch leistet viel mehr als eine von der FAZ kolportierte „analytische Beschreibung des Lebens und der Nöte eines jungen Mädchens, das mit Unvorstellbarem konfrontiert wird.“ Ihre Analyse ist schon Gesellschaftskritik eines intellektuell reifen Individuums – von der will man in der FAZ naturgemäß nichts hören. Zu vieles ist Kampusch an der reaktionären Gesellschaft nicht geheuer. Merkwürdiges, allgemein übliches Gebaren mit Kindern sowie die autoritären Gesten der Züchtigung, die erst kürzlich gesellschaftliche Ächtung erfahren haben, werden ihr schon an ihren Eltern verdächtig .

Er [KampuschsVater] war ein jovialer Mann, der den großen Auftritt liebte, seine kleine Tochter in ihrem frisch gebügelten Kleidchen war ein perfektes Accessoire. (Kampusch, S. 22)

Es war diese fatale Mischung aus verbaler Unterdrückung und „klassischen“ Ohrfeigen, die mir zeigte, dass ich als Kind die Schwächere war. […] Im Hof konnte ich immer wieder Mütter beobachten, die ihre Kinder anbrüllten, zu Boden stießen und auf sie einprügelten. Das hätte meine Mutter nie getan, und ihre Art, mich nebenbei zu ohrfeigen, stießt nirgends auf Unverständnis. Selbst wenn sie mir in der Öffentlichkeit ins Gesicht schlug, mischte sich nie jemand ein. (Kampusch, S. 30)

Das später erlittene Verbrechen baut Kampusch bewusst als ins Riesenhafte gesteigerte Version dessen auf, was sich im Kleinen im österreichischen Alltag findet:

Sogar Kindern zumindest vorübergehend die Freiheit zu nehmen war nichts, was mir außerhalb des Denkbaren erschien. Auch wenn ich es selbst nicht erlebt hatte: Es war damals in manchen Familien noch eine gängige Erziehungsmethode, Kinder, die nicht gehorchten, in den dunklen Keller zu sperren. Und alte Frauen beschimpften in der Straßenbahn Mütter von lauten Kindern mit dem Satz: „Also wenn das meines wäre, würde ich es einsperren.(Kampusch, S. 89).

Kampusch sieht die Rezeption des an ihr begangenen Verbrechens in einem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang:

Diese Gesellschaft braucht Täter wie Wolfgang Priklopil, um dem Bösen, das in ihr wohnt, ein Gesicht zu geben und es von sich selbst abzuspalten. Sie benötigt die Bilder von Kellerverliesen, um nicht auf die vielen Wohnungen und Vorgärten sehen zu müssen, in denen die Gewalt ihr spießiges, bürgerliches Antlitz zeigt. Sie benutzt die Opfer spektakulärer Fälle wie mich, um sich der Verantwortung für die vielen namenlosen Opfer der alltäglichen Verbrechen zu entledigen, denen man nicht hilft – selbst wenn sie um Hilfe bitten.

Gar nicht zufällig ist daher ihr Engagement gegen Rassismus. Diese in den Ohren der FAZ sicherlich enervierend sirrende Kritik geht weiter in ihrer verächtlichen Denunziation Strasshofs als „gesichtsloser Ort ohne Geschichte. […] Am Wochenende surren die Rasenmäher, die Autos werden poliert, und die gute Stube bleibt hinter zugezogenen Stores und Jalousien im Halbdunkel versteckt. Hier zählt die Fassade, nicht der Blick dahinter. Ein perfekter Ort, um ein Doppelleben zu führen. Ein perfekter Ort für ein Verbrechen.“ (Kampusch, S. 154)

Es ist die faschistoide Struktur Deutschlands und seines Seelenverwandten Österreichs, das einen in der Beschreibung des Täters wie der Umgebung Kampuschs immer wieder anspringt.

Das Wohnzimmer schien mir wie die perfekte Spiegelung der „anderen“ Seite des Täters. Spießig und angepasst an der Oberfläche, die dunkle Ebene darunter nur dürftig überdeckend. (Kampusch, S. 156)

Lediglich die Frankfurter Rundschau erwähnt beiläufig, dass man „nebenher“ erfahre, Priklopil sei ein „Anhänger Hitlers und Haiders“. Kein Wort zuviel lässt die Presse zu, es scheint, als wäre die sich an vielen weiteren Stellen aufdrängende Verwandtschaft zwischen dem an Kampusch begangenen Verbrechen und der  nationalsozialistischen Gesinnung Priklopils der deutsch-österreichischen Gesellschaft zu peinlich, um sie zumindest für ebenso bemerkenswert zu finden wie Kampusch:

Eines der Bücher im Regal im Wohnzimmer, auf das der Täter besonderen Wert legte, war „Mein Kampf“ von Adolf Hitler. Er sprach oft und mit Bewunderung von Hitler und meinte: „Der hatte recht mit der Judenvergasung.“ Sein politisches Idol der Gegenwart war Jörg Haider […]. Priklopil zog gerne über Ausländer vom Leder, die er im Slang der Donaustadt „Tschibesen“ nannte – ein Wort, das mir von den rassistischen Tiraden der Kunden in den Geschäften meiner Mutter vertraut war. Als am 11. September 2001 die Flugzeuge in das World Trade Center flogen, freute er sich diebisch: Er sah „die amerikanische Ostküste“ und „das Weltjudentum“ getroffen. Auch wenn ich ihm die nationalsozialistische Einstellung nie ganz abnahm – sie wirkte aufgesetzt, wie nachgeplapperte Parolen -, gab es etwas, das er ganz tief verinnerlicht hatte. […] Er fühlte sich als Herrenmensch. Ich war der Mensch zweiter Klasse.(Kampusch, S. 167)

Ihre Analyse des Täters baut auf dieser Voraussetzung auf. Erst im folgenden Kapitel erwähnt sie seine überfürsorgliche Mutter, (Kampusch 178f) die Priklopil offensichtlich in seiner Misogynie kontrollieren wollte, indem er ein Mädchen einkerkerte und folterte, sich selbst in einer versorgenden Mutterrolle gefiel und zugleich bereits dem Mädchen Aufgaben zuwies, die wohl ansonsten seiner Mutter vorbehalten waren. Priklopil hatte offenen Größenwahn und die dem beigesellte Paranoia: Er fürchtete Abhörgeräte und hielt sich für einen ägyptischen Gott, wollte Maestro oder Gebieter genannt werden, was ihm Kampusch verweigerte. Dieser Einbruch der feudalistischen Herrschaft in das bürgerliche Abhängigkeitsverhältnis von weiblicher Reproduktion und männlicher Repräsentation ist kein zufälliger, sondern eine Steigerung, an deren grotesker, pathologischer Drastik sich viel über die vielen „normalen“ Formen häuslicher und männlicher Gewalt ablesen lässt.

Kampusch ist mit ihrer Autobiographie ein philosophisches Werk gelungen, dessen gesellschaftskritische Tiefe den dunklen Abgrund der bürgerlichen Gesellschaft auszuloten vermag.

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Nachsatz:

Ein früherer Artikel, den ich schrieb, trug den Titel „Natascha“ – heute weiß ich, dass Natascha Kampusch es zutiefst verabscheute, wenn sie in der Presse trotz ihrer Volljährigkeit als Kind wahrgenommen und bezeichnet wurde.  Ich entschuldige mich für den Titel. Vom Inhalt des Artikels ist wenig veraltet.

Quellen:

Kampusch, Natascha: „3096 Tage“. Berlin, List Verlag. 284 Seiten. 19,95 Euro.

http://www.natascha-kampusch.at/

FAZ: „3096 Tage im Kerker: Natascha Kampusch veröffentlicht Biographie.“

Faz.net: „Heile Welt, ist doch nichts passiert.“

Zeit: „Natascha Kampusch: Übersehene Qualen.“

FR: „Ich bleib‘ zum Trotz ich.“

Taz: „Eine ungleiche Zweierbeziehung.“

 

Artikel

In der IZPP erschien just mein neuer Artikel mit dem Titel:

Somatisierte Geister – Über Leckagen und medial vermittelte Krankheitskonzepte im ghanaischen Film

Über Kritik und Anregungen freue ich mich.

Vincent will Meer und die Anorexie

Zwangsneurose, Tourette-Syndrom und Anorexie werden in „Vincent will Meer“ zusammengeführt. Der  unterstellte Anspruch, nicht in Publikumsbelustigung zu verfallen schlägt fehl. Im zahlreichen Publikum flackert zu oft und an zu programmierten Stellen ungutes Gelächter auf. Das Beängstigende an allen Krankheiten rückt ins Behagliche, kein Bruch lässt etwas zu nahe kommen, alles ist berechenbar oder irgendwie niedlich. Der Zwangsneurotiker ist erstaunlich kompromissbereit – was echte Zwangsneurotiker und das Leiden derer, die von ihren Neurosen wie etwa der Waschzwang terrorisiert werden verharmlost. Der Tourettiker kommt so jungdynamisch daher, dass man mit ihm über ihn lachen darf – die Gewalt, die ein heftiges Tourette-Syndrom hat, bleibt unbesprochen im berechtigten Versuch, Akzeptanz für ein mildes Tourette-Syndrom einzuwerben. Mir begegnete einmal im Zug ein vollständig verwahrloster Mann, der von einem schrecklichen Zwang getrieben stets den gleichen, nur gering variierten Fluch vor sich hinbrüllen zu müssen – ohne Pause und stundenlang. Ein Film über einen solchen Menschen wäre ein Melodram und ein solches ist außerhalb Afrikas allenfalls für die Sparte der pseudointellektuellen Dramen vorgesehen.

Am glaubhaftesten und interessantesten kreist der Film um die Figur der Anorektikerin. Hier leistet der Film Aufklärungsarbeit an einem sehr entscheidenden Punkt: Die Protagonistin lehnt das Essen ab nicht weil ihr jemand wie in der Modebranche befiehlt zu hungern, sondern im Gegenteil: Weil ihr jemand befiehlt zu essen.

Lookism-AktivistInnen finden in Plakatwerbungen eine Quelle für Anorexie und machen so aus den Leidenden passive, von patriarchalen Blick-Regimes gelenkte Objekte, die man vor der Manipulation schützen müsse. „Vincent will Meer“ lenkt den Blick auf die hochnarzisstischen Aspekte, denen eine Magersucht folgen kann. Der Ekel, den die Filmfigur vor dem Essen hat, wird zu einem vor der körperlichen Abhängigkeit der „Anderen“ erklärt, die „das Essen so in sich hineinstopfen“. Die Kontrollen des Pflegers und der Heimleiterin erregen nur zwangsläufig Trotz. Wahnhafte Autonomie wird mit Selbstverletzung erkauft.

Und noch ein zweiter Aspekt ist möglich – im Verzicht auf das Essen wird narzisstische Libido erhalten. Wer auf die Verlockungen der mit kulinarischen Köstlichkeiten mehr denn je gesegneten westlichen Welt mit Ablehnung reagiert, muss eine andere, innere Quelle für diese Lust haben. Dass man von Luft und Liebe leben könne ist nicht nur ein Sprichwort – die Anorektikerin im Film scheint Selbstliebe nur behaupten zu können, indem sie vorgibt, sich selbst genug zu sein und somit in sich selbst einen adäquaten Ersatz für das Essen gefunden zu haben. Der Ekel vor sich selbst kann dann als einer auf das Essen und „die Anderen“, die die Einzigartigkeit in Frage stellen, artikuliert werden. Fatalerweise führt dieser Komplex dann auch in den Kollaps und die tödlichste der Krankheiten bleibt auch im Film ungeheilt. Während Vincent seine Wunschprojektion auf das Meer, ein Fremdes und im Film zugleich die Mutter repräsentierendes, richtet, bricht die Anorektikerin beim Anblick desselben zusammen. Die Liebe der Anderen ist kein Heilmittel, solange nicht der Narzissmus einen anderen Weg zur Selbsterhaltung gefunden hat als über den eigenen Körper und in Akzeptanz der eigenen Verwundbarkeit und Sterblichkeit. Die verleugnete Suizidalität auf Raten sucht im Film Komplizen – was allein der expressive Zwangsneurotiker erkennen kann, der seinen Narzissmus vollständig an der Außenwelt ausagiert und nicht gnostisch nach innen richtet. Ihm wiederum wirft die Anorektikerin vor, „nichts zu sein“ ohne seine überkontrollierte Außenwelt.

Im antipsychiatrischen Gestus spekuliert die Geschichte auf die heilsame Kraft eines Ausbruchs. Diejenigen, die darunter leiden müssen, werden zu verschrobenen Figuren verkitscht, denen es halt an Anpassungsfähigkeit mangelt. Dass es dem Tankwart überhaupt keinen Spaß macht, überfallen zu werden und somit seinen Arbeitsalltag auf lange Sicht von zusätzlichen Stressoren begleitet sehen muss, ist ihm in seinem ungastliches Äußeren aberkannt. Das Publikum soll mit dem Extralegalen als prozessual Erlaubtem im Liminalen sympathisieren dürfen, das ist das Gesetz eines jeden Roadmovies von den drogenschmuggelnden Easy-Riders über die RäuberInnen Bonny & Clyde und Thelma & Louise bis hin zu Baise moi. Da die angedeutete Heilung zweier Charaktere am Ende des Filmes stattfindet, wird das Leiden der Bystanders als notwendiges Übel oder schlimmer noch als gerechtes Exempel definiert, das Strafe ist für die generelle Inkompetenz der Gesellschaft im Umgang mit psycho-affinen Störungen. Die Geschichte braucht die Schrulle des asexuellen Tankwartes, der nur durch politischen Druck eingeschüchtert werden kann, mehr als ihr bewusst ist. Nur so kann sie den Übertritt angemessen inszenieren, den das Publikum sich mehr wünscht als echte Zwangsneurotiker und Tourettiker. Leiden wird subversiv und zugleich Krankheit relativ. Eine solche pubertäre Subversivität ist eine Unterstellung für langjährige Leidende. Dennoch, und darin ist der Film wiederum gut: Die Adoleszenzkrise wird als eigene Dimension hinter den Symptomen verhandelt. Heilung bedeutet für den Tourettiker primär Autonomie von der Diktatur des Vaters und das Trennen des Syndroms von den damit assoziierten Komplexen der Umwelt. Somit folgt der Film als gegen die Verhaltenstherapie gerichteter implizit dem psychoanalytischen Paradigma: Eigene und fremde Anteile am Leiden zu trennen und somit die fremdverursachten Probleme und gesellschaftlichen Konfliktebenen besser konfrontieren zu können.

Früheres zu Anorexie:

Pro-Ana: Eine Erweckungsbewegung?

Die Abwehr des Genießens in der H&M-Werbung und der Hartz IV-Debatte.

Spongebobs Closeups

„Es könnte sogar sein, daß nur das Grauen, selbst das in der Vorstellung erfahrene, mir gestattet hat, dem Leeregefühl der Lüge zu entrinnen…  Ich halte den Realismus für einen Irrtum.“ (Georges Bataille: „Das Unmögliche“)

„Riechen Sie das? Dieser Gestank…dieser stinkende Gestank…dieser stinkende Gestank, der stinkt…die Sache stinkt!“ (Eugene Herbert Krabs: „Aushilfe gesucht“)

Von Zeit zu Zeit sollte man auf frühere Gedanken hören, ihre Zeitkerne aushöhlen und zerknabbern. In „Kritik der marinen Ökonomie“ lag bereits der Akzent auf eine anhaltende ernstgemeinte Reflexion auf das bedeutendste Reproduktionsinstrument herrschender und konfligierender Ideologien, das in der Geschichte je aufgeboten wurde: Das bewegte Bild. Jackson Pollocks Gemälde wirken fahl im Schatten der ökonomischen Potenz eines James Cameron und dieser selbst kann sich schon nicht mehr vor dem Ansturm des Konkurrenzgenres der Games, allen voran „Modern Warfare II“, behaupten. Mit dem Budget kleiner Staaten werden hunderte visuell erobert. Und trotzdem: das Monopol war nie so fragmentiert wie heute und gerade deshalb so stabil. Adorno und Horkheimer wird zu Unrecht mit  Punkrock, Underground und Internet an den Karren gefahren. Die Verdoppelung Hollywoods in die größer gewordenen Kinder Bollywood und Nollywood festigt nur das Prinzip und seinen Erfolg.

Wenn alle Kultur samt ihrer gebotenen Kritik daran Müll ist, wie Adorno als Antithese diagnostiziert,  läuft dann alles auf „Mülltrennung“ (Gerhard Scheit) hinaus? Oder sollte man wachsam gegenüber den von Adorno und Horkheimer konstatierten „Zeitkernen“ in der „Dialektik der Aufklärung“ sein? Oder hält man es mit Adornos widersprüchlicher und darum angemessener Position, wenn er mit Gretel ins Lichtspielhaus flaniert, Beckett verehrt und sehr wohl in Besseres (Schönberg, Beckett, ungarische Volksmusik) und Schlechteres (Wagner, Jazz) trennt? Auch in der Filmindustrie gibt es Besonderheiten und so sehr sich die Nischenprodukte, die „Mentalreservate“ (Adorno), den Eliten als Delikatesse andienen, die dem Pöbel ungenießbar seien, so sehr muss auch die strengste Kritikerin noch Sympathie für gewisse Produkte aufbringen, die schlichtweg fortschrittlich im besten Sinne sind. Sie versprechen nicht ernstzunehmend, den Kapitalismus aufzuheben, sind aber durchaus geeignet den Reaktionären ihre Brunnen zu vergiften und in seltenen Momenten ein Gefühl aufleuchten zu lassen, das schwer begreiflich als Identifikation mit einem Glücksversprechen zu umschreiben wäre. Dass sie dadurch eine Funktion erfüllen, nämlich in den Menschen die Illusion entstehen zu lassen, durch die massenhafte Verbreitung der Kritik wäre sie schon in die Tat umgesetzt und die Revolutionen an den Fernseher deligiert werden ist ihnen kaum inhaltlich vorzuwerfen. Die Kritik ist eine der Produktionsverhältnisse, nicht der Ware und ihrem Glücksversprechen.

Im Stil gewordenen Stilbruch wohnt daher eine Chance, den Träumen einen Traum anzuträumen, was nicht einmal Adorno für gänzlich abwegig hält:

„Nicht darum sind die escape-Filme so abscheulich, weil sie der ausgelaugten Existenz den Rücken kehren, sondern weil sie es nicht energisch genug tun, weil sie gerade so ausgelaugt sind, weil Befriedigungen, die sie vortäuschen, zusammenfallen mit der Schmach der Realität, der Versagung. Die Träume haben keinen Traum.“

Und später:

„Was im Ernst escape wäre, der bildgewordene Widerwille gegen das Ganze bis in die formalen Konstitutentien hinein, könnte in message umschlagen, ohne es auszusprechen, ja gerade durch hartnäckige Askese gegen den Vorschlag.“ (Adorno, MM 387f)

Ein solcher bildgewordener Widerwille gegen das Ganze, unausgesprochene message, leuchtet in einer Technik auf, die Spongebob zum Stilelement erhoben hat. Die gezeichnete, in zerplatzende Formen fragmentierte Unterwasserwelt zeichnet in ihrer Absurdität ein realistischeres Bild vom Realen als das gesamte Dogma 95-Genre. Dessen Anspruch auf Authentizität durch Orthodoxie und technologischen Spartanismus verhöhnen die Closeups in Spongebob. Immer wenn etwas in seiner mikrologischen Betrachtung endlich ins Bewusstsein dringt, schwenkt das Bild vom Zweidimensionalen in die Dreidimensionalität des Ekels. Der verwesende Burger, auf den Spongebob in Unkenntnis der Todesdrohung vermutlich seine verdrängte Heterosexualität konzentriert, kommt erst dann in seiner bedrohlichen Vergänglichkeit zu Bewusstsein, als er „realistisch“ gezeichnet wird – das exaltierte Entsetzen, das Spongebob persifliert, ist eines über jene Naivität, die das Äußerliche, den Stil, zum Maßstab der Erkenntnis macht (siehe Spongebob: „Burgina“). Im Closeup des Grotesken verlacht Spongebob jene, die meinen, jetzt erst die Realität zu erkennen.  Es ist Ideologie, dass man nur genau genug hinsehen und herangehen müsse, um dem Schein zu entraten. Der echte Mund, der in den griechisch anmutenden Chor der Startsequenz ins Piratenbild eingeschnitten wird, wirkt  ekelhaft – weil er denunziert, dass jene versprengten Realitätsfetzen im erholsam Scheinhaften noch lange nicht Richtiges im Falschen versprechen, sondern sich um so lächerlicher machen. Es sind die Realismus-Fanatiker selbst, die Dinge und Menschen in abstrahierten Oberflächen-Formen wie in Spongebobs Welt sehen. Sie tappen wie der stümperhaft verkleidete Pirat als ermüdend komische Gestalten doppelt gefälscht umher. Fügte Brecht noch die Verfremdung ein mit dem Verdacht, der Bürger könne das Schauspiel schon nicht mehr als solches Erkennen oder auf sich beziehen, so flechtet Spongebob das realistische, dreidimensionale ein, um gerade den Verdacht, dass jenes und alles das Schauspiel sei, zu bestätigen.

„Denn verstört ist der Weltlauf. Wer ihm vorsichtig sich anpaßt, macht eben damit sich zum Teilhaber des Wahnsinns, während erst der exzentrische standhielte und dem Aberwitz Einhalt geböte.“ (Adorno: MM, 382)

Wer würde nicht zustimmen, in der Familie aus Spongebob Schwammkopf, Patrick Star, Thaddäus Tentakel, Eugene  Krabs, Plankton und Sandy ein kristallines Typenmodell von Exzentrikern zu finden? Ihr Aberwitz spottet noch jeder Normalität. Freud konstatiert, dass der Neurotiker in der Verneinung das verrät, was Kern seiner unbewussten Empfindungen ist. Wenn etwas ganz bestimmt NICHT so oder so sei, kann der Analytiker davon ausgehen, gerade hier einem verdrängten Inhalt zu begegnen. Die gesamte Unmöglichkeit der Unterwasserwelt ist eine einzige Verneinung und darum wahr, realistischer als jene, die die Täuschung, den Effekt verneinen und es gerade darin auf den Effekt am meisten abgesehen haben.

Die Schuld des kleinen Matrosen

Kinder, pubertierende Kollektive und Betrunkene sind die Zielgruppe von Endlos-Liedern wie „Das rote Pferd“, „Schellekalle“ oder „Das Lied vom alten Reisbrei“. Diese Lieder zeichnen sich durch Wiederholungszwang und -lust aus. Ergänzt durch eine streng  uniformierte Gestik wird das kollektiv gesungene Lied zum Ritual der Verdrängung. Je hartnäckiger der Durchhaltewillen, desto intensiver das Erlebnis.

Bei einem sehr populären Lied, dem vom „Kleinen Matrosen“, wird das Moment der Zensur  als Teil des Rituals offenbart und integriert. Jedesmal, wenn die Wiederholung ansteht, wird ein weiteres Wort durch eine Geste ersetzt. Am Ende stirbt die Sprache gänzlich, es siegt die Ersatzhandlung. Damit wird auch dem weiteren Wiederholen ein Ende gesetzt. Gemeinhin folgt ein großes Jubilieren über diese kollektive Leistung.

Der Liedtext spricht demzufolge Bände:

„Ein kleiner Matrose umsegelte die Welt. Er liebte ein Mädchen das hatte gar kein Geld. Das Mädchen musst sterben und wer war schuld daran? Ein kleiner Matrose in seinem Liebeswahn.“

Nun spräche in einer oberflächlichen Analyse einiges für versammelte Blutrünstigkeit, angesichts einer johlenden Masse, die fröhlich den Tod eines armen Mädchens begröhlt. Eine historische Analyse käme zum Schluss, dass das Lied eigentlich ein sehr trauriges, den Hafenprostituierten gewidmetes war, denen der „Liebeswahn“ von Matrosen eine tödliche Geschlechtskrankheit einbrachte. Der Jubel wäre dann möglicherweise einer der Überwindung jener Krankheiten durch die Therapie der Syphillis und dem Vergessen der für viele nur zu realen Dramatik des beschriebenen Todes geschuldet. Eine marxistische  oder feministische Sichtweise könnte das Lied als reaktionäre Maßregelung an den Erhalt der Klassenreinheit interpretieren: Liebe mit mittellosen Mädchen führt zu unerfüllter Verantwortung, Schuld und Tod.

Aus psychoanalytischer Sicht kann man ebenfalls geteilter Meinung sein. Es bieten sich verschiedene Versionen an.

Ein kleiner Matrose symbolisiert wie üblich einen kleinen Jungen. Der liebt ein Mädchen, das infolgedessen sterben muss. Welche Mädchen lieben kleine Jungen? Ihre Mütter. Haben diese „kein Geld“, verweigern also die Versorgung des trotzigen Bengels, müssen sie in der Phantasie eben sterben.

Der Kastrationskomplex würde folgendermaßen angesprochen: Der kleine Junge ist auch das Mädchen. Er liebt sich selbst als Mädchen, identifiziert sich mit der Mutter. Das jedoch hat kein „Geld“, keinen Phallus und muss daher als Identifikationsobjekt aufgegeben werden.  „Geld“ wird durch das masturbationsähnliche Reiben von Daumen und Zeigefinger ersetzt: der Junge glaubt,  das Mädchen könne nicht masturbieren, weil der Vater es kastriert habe. Zensiert wird hier die Kastrationsdrohung des Vaters, die das „Mädchen“ im Jungen sterben lässt. Die klammheimliche Überwindung dieser Drohung durch Ersatzhandlungen, die der Masturbation entsprechen, könnte die Lust am Programm auslösen. Auch denkbar wäre eine Ursache der Lust im Nachspüren auf das Finden des Weges aus dem Dilemma der Kastrationsdrohung: Das gehorsamen Anlegen der Hand an die Kappe symbolisiert im Ritual den Matrosen – Gehorsam und Vateridentifikation sind eines. Die wellenförmige Handbewegung, mit der das Mädchen gezeichnet wird, verweist auf den Lohn dieser Identifikation – den Körper des Mädchens, das den der Mutter vertritt. Wird der „Liebeswahn“ allerdings zu groß, scheitert die Identifikation. Ein kollektives Tippen an die Stirn bestraft dieses Scheitern.

Aus einer aufs Kollektiv gerichteten Perspektive würde die verdrängte Homosexualität ins Blickfeld rücken. Der kleine Matrose, von je Zeichen der einzigen, für den homophoben Charakter vorstellbaren Homosexualität, nämlich der Zwangshomosexualität nach einsamen, abstinenten Wochen auf dem Schiff, liebt ein „Mädchen“. Dass dieses sterben muss, lässt der angestauten, verdrängten Homoerotik im Publikum einen sicheren Ort zum Ausagieren der eigenen Lust am Matrosen.

Schuld, Treibstoff aller Religionen, rückt in einer vierten Perspektive ins Zentrum des Rituals. Der kleine, also unschuldige, Matrose in seiner reinweißen Uniform verkörpert den Narzissmus. Phallisch-besitzergreifend und anal-kontrollierend umsegelt er die ganze weite Welt. Seine weibliche Seite besteht in der Armut, die ihn zu diesem Verhalten, das ihn ja gleichzeitig von der Mutter trennt, zwingt. Weil diese Erinnerung an Abhängigkeit seinen Narzissmus befleckt, muss sie sterben. Übrig bleibt ein zwar schuldiger, aber um so autonomerer Matrose. Schuld motiviert ihn zur Zensur in der nächsten Strophe. Am Ende bleiben nur noch Silben zurück, die an seine Geschichte erinnern, damit ist auch seine Schuld verdrängt – und damit die des christlichen, also sündhaften Publikums.

Kuscheldöner im Kannibalenland

Kuscheldöner
Kuscheldöner

Zugegeben, der Kuscheldöner, den ich in Halle fotografieren durfte, ist in seiner braunen, spröden Sandsack-haftigkeit keine ernsthafte Konkurrenz für „Bernd das Brot“. Auch Gesichtsmortadella und Spongebob-Wassereis sind ihm in Sachen Usability einiges voraus, haben sie doch Essen und Identifikation selbst identifiziert und bedürfen nicht mehr des Umwegs über das Dritte. Für den Hang, die orale Aggression durch das Essen zu sublimieren, steht allerdings der personifizierte Döner Kebap ganz vorne Modell. Er wird nicht nur mit langen Messern kastriert und dann in heutzutage ungenießbar gewordenen Mayonaise-Saucen ersäuft, sondern wird vorher noch ausgiebig geröstet und tiefgefroren. Mit dieser Tortur identifiziert sich der Kuscheldöner vollkommen, ist trotzdem gut drauf und immer für einen Big Hug zu haben. Die Botschaft, das Essen habe es gern, wenn es zerschnitten, flambiert, verschlungen und wieder ausgeschieden wird, trifft sich ausgezeichnet mit Parolen, die den Büroalltag als Vergnügen feiern und Arbeit als das halbe Leben anpreisen. An der fetischisierten Nahrung wird das Bedürfnis nach Versöhnung mit dem einem selbst feindlichen Prinzip deutlich. Hat sich der barocke Früchteschnitzer noch die kunstvoll in Form gebrachte Natur unterworfen, identifiziert sich der Mensch, der sich der Nahrung gleich macht, indem er sie sich gleichmacht, mit dieser Unterwerfung. Zugleich soll die ganze Welt ein Kuscheltier werden – infantile Mimesis als Aufgabe jeder Konfliktbereitschaft. Douglas Adams macht das in seinem Anhalter-Zyklus zur Allegorie: Weiterlesen

Über Rassismusbegriff und Kulturalismus bei Claude Leví-Strauss

„Aber handelt es sich überhaupt um Aberglauben? In solchen Vorlieben sehe ich eher den Ausdruck einer Weisheit, der die wilden Völker spontan gehorcht haben und der gegenüber die moderne Rebellion als der wahre Irrwitz erscheint.“ (Levi-Strauss, TT: 113)

„Und da diese Missstände vorkommen, welches Recht haben wir dann, sie zu Hause zu bekämpfen, wenn sie nur irgendwo anders zu herrschen brauchen, damit wir uns vor ihnen verneigen.“ (TT: 380)

„Die Strukturen gehen nicht auf die Straße“, wurde den Strukturalisten von den Marxisten 1968 entgegengeschleudert. Sie gingen – deswegen oder trotzdem – auch nicht unter. Der Strukturalismus wurde schon so oft zum toten Pferd erklärt, dass die Nekrologe sich selbst wie Widergänger ausnehmen. Wenn nun Claude Leví-Strauss seinen Geburtstag eher griesgrämig absolviert, ist die Ursache weniger im persönlichen Misserfolg als Theoretiker zu sehen. Vielmehr ist diese Haltung die Konsequenz aus der zivilisationskritischen und bisweilen zivilisationsfeindlichen privaten Einstellung des Ethnologen. Weiterlesen